Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft

Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft, Stuttgart: Klett Cotta 2019. 260 S., 20 €

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Mir wur­de die­se Neu­erschei­nung emp­foh­len, weil dar­in die Iden­ti­tä­ren ver­tei­digt wür­den. End­lich mal aner­kannt von einer links­li­be­ra­len Autorin. Ari­ad­ne von Schi­rach (ja, sie ist die Enke­lin von Bal­dur, aber das spielt kei­ne Rol­le) ist Phi­lo­so­phin und Psy­cho­lo­gin. Die­se Kom­bi­na­ti­on ist ver­brei­tet unter all jenen post­mo­der­nen Den­kern, die sich dem The­ma »Lebens­kunst« wid­men. Die Kom­bi­na­ti­on aller­dings macht das vor­lie­gen­de Buch für jeman­den wie mich, die ich sowohl Phi­lo­so­phin von Beruf bin als auch zu einer der in Die psy­cho­ti­sche Gesell­schaft auf die Couch geleg­ten Men­schen­grup­pen gehö­re, in dop­pel­ter Hin­sicht uner­träg­lich. Sie beginnt mit der hypo­the­ti­schen Kol­lek­tiv­dia­gno­se: Was wäre, wenn unse­re Gesell­schaft nicht nur manch kli­ni­schen Ein­zel­fall her­vor­bräch­te, son­dern selbst als Gesell­schaft psy­cho­ti­sche Züge trü­ge? So kann man berech­tig­ter­ma­ßen fra­gen – auch der Psych­ia­ter Hans-Joa­chim Maaz erwägt, ob wir es in Deutsch­land mit kol­lek­ti­ver »Norm­o­pa­thie«, einer Über­an­pas­sungs­stö­rung, zu tun hätten. 

Kol­lek­tiv­dia­gno­sen­stel­len ist Modell­den­ken. Das stellt Schi­rach deut­lich her­aus, soweit bleibt die The­se des Buches auf­rich­tig. Der typischs­te Zug des Psy­cho­ti­kers ist nun, den Kon­takt zur Rea­li­tät zu ver­lie­ren und in einer ima­gi­na­ti­ven Welt, meist voll des Hor­rors, zu leben. Angst und Ohn­macht grei­fen um sich, ohne daß der Betrof­fe­ne einen Weg sieht, etwas dar­an ändern zu kön­nen. Die Autorin schaut sich um: vom Kli­ma über »Geflüch­te­te« bis Trump – über­all Bedroh­lich­kei­ten. Kern­kom­pe­tenz der Psy­cho­lo­gin mit Schwer­punkt »Phi­lo­so­phie der Lebens­kunst« ist es, uns als Gesell­schaft die­se Angst zu neh­men, die­se Ohn­macht in Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien zu über­füh­ren, um »unse­re Wür­de, unse­re Träu­me und unse­re Ver­ant­wor­tung für unser eige­nes und unser gemein­sa­mes Leben« wie­der zu ermög­li­chen. Phi­lo­so­phie der Lebens­kunst kippt schnell um in Selbst­hil­fe durch Zita­ten­schatz. Die Autorin klap­pert die Phi­lo­so­phie­ge­schich­te ent­spre­chend ab nach the­ra­peu­tisch dosier­ba­ren Fun­den – ein Löf­fel­chen Kier­ke­gaard bei Angst­stö­run­gen hat schon man­chem geholfen!
Als lite­ra­risch dich­te Beschrei­bung sind die drei »Figu­ren des Über­gangs« (wohin eigent­lich?) der Gesell­schaft – Marx hät­te gesagt: ihre »Cha­rak­ter­mas­ken« – ein­präg­sam und ein­fühl­sam dar­ge­stellt. Der Typus des »Kura­tors« ist eine Aus­ge­burt der digi­ta­len Bohè­me, jemand, der sich am Dis­play ent­wirft, opti­miert, ein Zweits­elbst im Netz pflegt, kurz: von sich selbst eine ima­gi­nä­re Dau­er­aus­stel­lung kura­tiert. Der »Spi­ri­tu­el­le« zieht sich ins Inner­li­che, Acht­sa­me, Empa­thi­sche zurück, sei­ne Spra­che ist hoch­sen­si­bel, sein ver­letz­li­ches Selbst so stark aus­ge­prägt wie sein the­ra­peu­ti­sches Sen­dungs­be­wußt­sein. Bleibt schließ­lich der »Fana­ti­ker«, der Drit­te im Bun­de der post­mo­der­nen psy­cho­ti­schen Cha­rak­t­er­pup­pen. »Eige­nes statt Frem­des, Tra­di­ti­on statt Fort­schritt, Gren­zen statt Glo­ba­li­sie­rung« – die­ses Kon­glo­me­rat aus angst­be­setz­ten Vor­stel­lun­gen gibt ihm eine schein­haf­te Iden­ti­tät. Was macht man als Iden­ti­tä­rer, wenn die eige­nen Über­zeu­gun­gen von einem The­ra­peu­ten locker weg­pa­tho­lo­gi­siert wer­den? Wenn man blitz­schnell merkt, daß man natür­lich dem Typus des »Fana­ti­kers« zuge­ord­net wird, und die Rea­li­tät, die man wahr­nimmt, als psy­cho­ti­sche Schein­wahr­neh­mung hin­ge­stellt wird? Man muß genau­so blitz­schnell zuse­hen, daß man weg­kommt. Sonst wird man gegaslichtert! 

An die­sem Punkt setzt mei­ne phi­lo­so­phi­sche Kri­tik an Die psy­cho­ti­sche Gesell­schaft ein, mit der ich das Unbe­ha­gen an der Dia­gno­se begrün­den will. Schi­rach über­legt, wie sie mit den Kran­ken umge­hen kann. Sie kann jeder Stö­rung etwas Sinn­haf­tes abge­win­nen. Im »Fana­ti­ker« ste­cke doch der »hypo­the­ti­sche Wider­stands­kämp­fer« gegen die Unbe­wohn­bar­keit der öko­no­mi­sier­ten Welt. Der »fana­ti­sche« loser-Typ Andre­as, des­sen fik­tio­na­le Lebens­ge­schich­te erzählt wird, hat in sei­ner poli­ti­schen Inter­net­bla­se end­lich »nach Hau­se gefun­den«, denn daß er »ganz in Ord­nung ist, das hat er doch immer gewußt«. Das woll­ten wir schon immer hören, wir armen Iden­ti­tä­ren: ich bin okay, du bist okay. Das Buch schließt mit den Sät­zen: »Jeder muss die Geschich­te fin­den, die ihm oder ihr am bes­ten gefällt. Wich­ti­ger, als sie zu fin­den, ist nur, sie mit­ein­an­der zu tei­len. Und sich an den Geschich­ten der Ande­ren zu freu­en. Begin­nen wir von Neu­em«. Schirachs Feh­ler ist es, alles auf der Bewußt­seins­ebe­ne zu ver­han­deln. Auf der Ebe­ne der vie­len Bewußts­ei­ne der vie­len Men­schen ist alles relativ. 

Es gibt kei­ne »rea­le Rea­li­tät« (Niklas Luh­mann), son­dern nur Ima­gi­na­tio­nen, die einem mehr oder min­der gefal­len, und die man völ­lig los­ge­löst ken­nen­ler­nen und aus­pro­bie­ren kann. Manch­mal hängt man eben an einer zu sehr fest, kann nicht gut los­las­sen und muß das ler­nen. In die­sem Denk­bild gibt es kei­nen Unter­schied zwi­schen Wahr­heit und Täu­schung. Hier liegt die gro­ße Chan­ce für den mani­pu­la­ti­ven The­ra­peu­ten. Er kann dem fana­ti­schen Wahr­heits­su­cher ein­re­den: Nipp doch auch mal an der Lüge, das erwei­tert dein Bewußt­sein! Mei­ne abschlie­ßen­de Dia­gno­se: Das Buch ist ganz aus der von der Autorin selbst patho­lo­gi­sier­ten Per­spek­ti­ve des »Spi­ri­tu­el­len« her­aus geschrie­ben. Die psy­cho­ti­sche Gesell­schaft hat offen­bar die abscheu­li­che Eigen­schaft, selbst ihre Selbst­re­fle­xi­on, ihre Beob­ach­tung zwei­ter Ord­nung, gefan­gen­zu­neh­men. Und jetzt: ret­te sich wer kann, zurück auf den Boden der Tatsachen.

Ari­ad­ne von Schi­rach: Die psy­cho­ti­sche Gesell­schaft kann man hier bestel­len.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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