Mir wurde diese Neuerscheinung empfohlen, weil darin die Identitären verteidigt würden. Endlich mal anerkannt von einer linksliberalen Autorin. Ariadne von Schirach (ja, sie ist die Enkelin von Baldur, aber das spielt keine Rolle) ist Philosophin und Psychologin. Diese Kombination ist verbreitet unter all jenen postmodernen Denkern, die sich dem Thema »Lebenskunst« widmen. Die Kombination allerdings macht das vorliegende Buch für jemanden wie mich, die ich sowohl Philosophin von Beruf bin als auch zu einer der in Die psychotische Gesellschaft auf die Couch gelegten Menschengruppen gehöre, in doppelter Hinsicht unerträglich. Sie beginnt mit der hypothetischen Kollektivdiagnose: Was wäre, wenn unsere Gesellschaft nicht nur manch klinischen Einzelfall hervorbrächte, sondern selbst als Gesellschaft psychotische Züge trüge? So kann man berechtigtermaßen fragen – auch der Psychiater Hans-Joachim Maaz erwägt, ob wir es in Deutschland mit kollektiver »Normopathie«, einer Überanpassungsstörung, zu tun hätten.
Kollektivdiagnosenstellen ist Modelldenken. Das stellt Schirach deutlich heraus, soweit bleibt die These des Buches aufrichtig. Der typischste Zug des Psychotikers ist nun, den Kontakt zur Realität zu verlieren und in einer imaginativen Welt, meist voll des Horrors, zu leben. Angst und Ohnmacht greifen um sich, ohne daß der Betroffene einen Weg sieht, etwas daran ändern zu können. Die Autorin schaut sich um: vom Klima über »Geflüchtete« bis Trump – überall Bedrohlichkeiten. Kernkompetenz der Psychologin mit Schwerpunkt »Philosophie der Lebenskunst« ist es, uns als Gesellschaft diese Angst zu nehmen, diese Ohnmacht in Bewältigungsstrategien zu überführen, um »unsere Würde, unsere Träume und unsere Verantwortung für unser eigenes und unser gemeinsames Leben« wieder zu ermöglichen. Philosophie der Lebenskunst kippt schnell um in Selbsthilfe durch Zitatenschatz. Die Autorin klappert die Philosophiegeschichte entsprechend ab nach therapeutisch dosierbaren Funden – ein Löffelchen Kierkegaard bei Angststörungen hat schon manchem geholfen!
Als literarisch dichte Beschreibung sind die drei »Figuren des Übergangs« (wohin eigentlich?) der Gesellschaft – Marx hätte gesagt: ihre »Charaktermasken« – einprägsam und einfühlsam dargestellt. Der Typus des »Kurators« ist eine Ausgeburt der digitalen Bohème, jemand, der sich am Display entwirft, optimiert, ein Zweitselbst im Netz pflegt, kurz: von sich selbst eine imaginäre Dauerausstellung kuratiert. Der »Spirituelle« zieht sich ins Innerliche, Achtsame, Empathische zurück, seine Sprache ist hochsensibel, sein verletzliches Selbst so stark ausgeprägt wie sein therapeutisches Sendungsbewußtsein. Bleibt schließlich der »Fanatiker«, der Dritte im Bunde der postmodernen psychotischen Charakterpuppen. »Eigenes statt Fremdes, Tradition statt Fortschritt, Grenzen statt Globalisierung« – dieses Konglomerat aus angstbesetzten Vorstellungen gibt ihm eine scheinhafte Identität. Was macht man als Identitärer, wenn die eigenen Überzeugungen von einem Therapeuten locker wegpathologisiert werden? Wenn man blitzschnell merkt, daß man natürlich dem Typus des »Fanatikers« zugeordnet wird, und die Realität, die man wahrnimmt, als psychotische Scheinwahrnehmung hingestellt wird? Man muß genauso blitzschnell zusehen, daß man wegkommt. Sonst wird man gegaslichtert!
An diesem Punkt setzt meine philosophische Kritik an Die psychotische Gesellschaft ein, mit der ich das Unbehagen an der Diagnose begründen will. Schirach überlegt, wie sie mit den Kranken umgehen kann. Sie kann jeder Störung etwas Sinnhaftes abgewinnen. Im »Fanatiker« stecke doch der »hypothetische Widerstandskämpfer« gegen die Unbewohnbarkeit der ökonomisierten Welt. Der »fanatische« loser-Typ Andreas, dessen fiktionale Lebensgeschichte erzählt wird, hat in seiner politischen Internetblase endlich »nach Hause gefunden«, denn daß er »ganz in Ordnung ist, das hat er doch immer gewußt«. Das wollten wir schon immer hören, wir armen Identitären: ich bin okay, du bist okay. Das Buch schließt mit den Sätzen: »Jeder muss die Geschichte finden, die ihm oder ihr am besten gefällt. Wichtiger, als sie zu finden, ist nur, sie miteinander zu teilen. Und sich an den Geschichten der Anderen zu freuen. Beginnen wir von Neuem«. Schirachs Fehler ist es, alles auf der Bewußtseinsebene zu verhandeln. Auf der Ebene der vielen Bewußtseine der vielen Menschen ist alles relativ.
Es gibt keine »reale Realität« (Niklas Luhmann), sondern nur Imaginationen, die einem mehr oder minder gefallen, und die man völlig losgelöst kennenlernen und ausprobieren kann. Manchmal hängt man eben an einer zu sehr fest, kann nicht gut loslassen und muß das lernen. In diesem Denkbild gibt es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung. Hier liegt die große Chance für den manipulativen Therapeuten. Er kann dem fanatischen Wahrheitssucher einreden: Nipp doch auch mal an der Lüge, das erweitert dein Bewußtsein! Meine abschließende Diagnose: Das Buch ist ganz aus der von der Autorin selbst pathologisierten Perspektive des »Spirituellen« heraus geschrieben. Die psychotische Gesellschaft hat offenbar die abscheuliche Eigenschaft, selbst ihre Selbstreflexion, ihre Beobachtung zweiter Ordnung, gefangenzunehmen. Und jetzt: rette sich wer kann, zurück auf den Boden der Tatsachen.
Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft kann man hier bestellen.