Dieses Buch stellt nichts weniger als ein Kompendium konservativer Erziehung dar. Aber es wirkt dabei nicht restaurativ, im Gegenteil, es ist absolut an der Zeit und erscheint in seinen Urteilen modern, frisch und gewitzt. Caroline Sommerfeld hat sich mit diesem Band verdient gemacht um ein pädagogisches Korrektiv.
Mit beeindruckendem Kenntnisreichtum betreibt sie eine Generalrevision pädagogischer Experimente von links, die innerhalb eines Jahrhunderts auf Politik, Kultur und Alltag enorme Auswirkungen hatten. Da alle Erziehung von einem Menschenbild ausgeht, beginnt Caroline Sommerfeld anthropologisch, mit einer Kritik Rousseaus, des »Urvaters aller pädagogischen Utopisten«. Ebenso wesentlich: Sie geht vom Begriff der Grenze aus, im Sinne der Systemtheorie Niklas Luhmanns, für den die Unterscheidung wesentliches Kriterium ist. Die Autorin: »Grenzöffnungen (…) zerstören funktionierende Systeme. (…) Hinter der Forderung nach ›offenen Grenzen‹ steckt eine ganze Glaubensüberzeugung, ein bestimmtes Bild vom Menschen, und zu dieser Ideologie gehört auch das Ablehnen von Erziehung, von Autorität, von Führung und elementarer Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern.«
Der Autorin gelingt der klare Nachweis, daß die pädagogischen Impulse der lebensreformerisch inspirierten Jahre um 1900 in ihrem Wesen konservativ-revolutionär motiviert waren, aber in der Nachkriegszeit eine Umwertung im Sinne »linker Freiheits‑, Gleichheits- und Grenzenlosigkeitsvorstellung« erfuhren. Daß der maßgebende Reformpädagoge Kurt Zeidler bereits 1925 eine Korrektur antiautoritärer Bestrebungen verlangte, ist interessant. Zeidler und Kollegen hatten zunächst die Grenzen eingerissen und konsequent antiautoritär gearbeitet, erlebten dann aber ein Schulchaos. Sie steuerten konsequent um. »Mich hat«, so Caroline Sommerfeld, »seit ich mich vor 20 Jahren mit der Reformpädagogik und ihrer Anthropologie zu beschäftigen begann, dieser Temperaturwechsel zwischen heißer Übersteigerung und kalter Nüchternheit nicht losgelassen.« Vorzugsweise an Maria Montessori, Rudolf Steiner und Peter Petersen zeigt sie, was diese mit ihren pädagogischen Konzeptionen wollten und auf welche Weise sie später links umgestrickt wurden: »Die heutige gruselige Melange in der pädagogischen Avantgarde besteht aus vom Marxismus zur politischen Korrektheit übergegangenen Linken, die uns eine globale, digitalisierte und demokratische Weltgesellschaft verheißen und gleichzeitig mit naturwissenschaftlichen Begründungen der traditionellen Erziehung politisch den Garaus machen will.
(…) Wer heute Reformpädagogik wählt, weiß meist nicht mehr, daß darin ein konservativ-revolutionärer Geist steckt, sondern denkt, ›Freie Schulen‹ wären nicht bloß Institutionen in freier Trägerschaft, sondern es ginge auch irgendwie kindgemäß ›frei‹ zu.« Im Gegensatz dazu tritt Caroline Sommerfeld ein für Führung, Distanz, Gemeinschaft und Geist, ferner für Askese, für das Ertragen von Verlassenheit als »Voraussetzung für das Wachstum der inneren Kraft«, für Unverdrehtheit als Ausdruck gesunden Menschenverstandes, für Beheimatetsein und Anderssein als »Pflicht, wo die Verdrehtheit überhandgenommen hat«, sowie für Anstrengungsbereitschaft.
Diese Kernbegriffe finden sich in den Verlautbarungen der Kultusbürokratie und »Bildungsforschung« nirgendwo, hier jedoch überschreiben sie die zehn Kapitel des Buches. In jedem einzelnen davon leitet Caroline Sommerfeld ihre Thesen und Argumente aus sehr umfassenden bildungs- und philosophiegeschichtlichen Bezügen her. Das Literaturverzeichnis offenbart ein immens breites Spektrum an Hintergrundwissen, eben nicht nur verzeichnet, sondern auf bestechende Weise profund eingebracht. Exemplarisch seien die Kapitel »Führung« und »Distanz« aufgerufen. Autorität galt seit Adorno und der »Kritischen Erziehungswissenschaft« als diskreditiert, wurde sie doch kurzschlüssig für den Nationalsozialismus und Auschwitz verantwortlich gemacht.
Caroline Sommerfeld zeigt, wie nach Peter Petersen, dem Begründer der Jenaplan-Päda gogik, Führung eben nicht die Freiheit des Kindes bricht: »Führung respektiert nämlich, das ist überhaupt ihr ganzer Sinn, die Freiheit des Geführten.« Führung meint nicht Beherrschen, durchaus aber das Gegenteil von »Augenhöhe«: »Es ist die im Erwachsenen als dem reiferen Menschen ruhende, von ihm ausgehende Macht, und diese schafft zugleich zwischen dem Erzieher und dem Zögling die unbedingt erforderliche und wichtige Distanz; denn rechte Führung ist ohne solche Distanz unmöglich.« Im Gegensatz dazu gerieten einstige Tugenden wie Folgsamkeit und Gehorchenkönnen seit einem halben Jahrhundert in Mißkredit, was zu einer Überforderung der Heranwachsenden führte, indem ihnen Positionierungen und Entscheidungen abverlangt wurden, die sie noch nicht leisten können.
Vielmehr bedürfen sie des Schutzes und der mit hohem pädagogischen Verantwortungsgefühl gegebenen Erziehung, mehr noch sogar der »Richtung nach oben«, ins Geistige hinein. Betont wird, daß freilich Erstaunliches im Kind angelegt ist, dies sich aber nur entfaltet, wenn auf ein Höheres und Geistiges hin wohlwollend erzogen wird, weil die Heranwachsenden eben nicht sogleich alles einsehen können, ebensowenig wie sie in jüngsten Jahren etwa einen Gottesdienst oder ein Kunstwerk aus sich heraus begreifen, sondern der Anleitung bedürfen, ohne viele Worte, eher mit Bestimmtheit und Wohlwollen. Dazu gehören Überwindung und Selbstüberwindung, später dann Selbstkontrolle, geschult an echten Herausforderungen. Ohne Überwindung, ohne Reibung, ohne Widerstände gibt es keine Erziehung zum Erwachsenwerden. Wer das Kind abschirmt und ihm Hindernisse nicht zumutet, stärkt es nicht, sondern schwächt es. Was die geistige, mithin christliche oder anthroposophische Ausrichtung von Erziehung betrifft, so weist Sommerfeld u. a. auf das Diktum Martin Mosebachs hin, daß doch alles in Eu ropa inkarnierter Geist sei.
Dies wiederum läßt sich auf Rudolf Steiner beziehen: »Was hat in diesem Sinne der Mensch in sich? Wahrhaftig einen höheren, einen göttlichen Menschen, von dem er sich lebendig durchdrungen fühlen kann, sich sagend: Er ist mein Führer in mir.«