Caroline Sommerfeld: Wir erziehen. Zehn Grundsätze

Caroline Sommerfeld: Wir erziehen. Zehn Grundsätze, Schnellroda: Verlag Antaios 2019. 328 S., 18 €

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Die­ses Buch stellt nichts weni­ger als ein Kom­pen­di­um kon­ser­va­ti­ver Erzie­hung dar. Aber es wirkt dabei nicht restau­ra­tiv, im Gegen­teil, es ist abso­lut an der Zeit und erscheint in sei­nen Urtei­len modern, frisch und gewitzt. Caro­li­ne Som­mer­feld hat sich mit die­sem Band ver­dient gemacht um ein päd­ago­gi­sches Korrektiv. 

Mit beein­dru­cken­dem Kennt­nis­reich­tum betreibt sie eine Gene­ral­re­vi­si­on päd­ago­gi­scher Expe­ri­men­te von links, die inner­halb eines Jahr­hun­derts auf Poli­tik, Kul­tur und All­tag enor­me Aus­wir­kun­gen hat­ten. Da alle Erzie­hung von einem Men­schen­bild aus­geht, beginnt Caro­li­ne Som­mer­feld anthro­po­lo­gisch, mit einer Kri­tik Rous­se­aus, des »Urva­ters aller päd­ago­gi­schen Uto­pis­ten«. Eben­so wesent­lich: Sie geht vom Begriff der Gren­ze aus, im Sin­ne der Sys­tem­theo­rie Niklas Luh­manns, für den die Unter­schei­dung wesent­li­ches Kri­te­ri­um ist. Die Autorin: »Grenz­öff­nun­gen (…) zer­stö­ren funk­tio­nie­ren­de Sys­te­me. (…) Hin­ter der For­de­rung nach ›offe­nen Gren­zen‹ steckt eine gan­ze Glau­bens­über­zeu­gung, ein bestimm­tes Bild vom Men­schen, und zu die­ser Ideo­lo­gie gehört auch das Ableh­nen von Erzie­hung, von Auto­ri­tät, von Füh­rung und ele­men­ta­rer Unter­schei­dung zwi­schen Erwach­se­nen und Kindern.«

Der Autorin gelingt der kla­re Nach­weis, daß die päd­ago­gi­schen Impul­se der lebens­re­for­me­risch inspi­rier­ten Jah­re um 1900 in ihrem Wesen kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­när moti­viert waren, aber in der Nach­kriegs­zeit eine Umwer­tung im Sin­ne »lin­ker Freiheits‑, Gleich­heits- und Gren­zen­lo­sig­keits­vor­stel­lung« erfuh­ren. Daß der maß­ge­ben­de Reform­päd­ago­ge Kurt Zeid­ler bereits 1925 eine Kor­rek­tur anti­au­to­ri­tä­rer Bestre­bun­gen ver­lang­te, ist inter­es­sant. Zeid­ler und Kol­le­gen hat­ten zunächst die Gren­zen ein­ge­ris­sen und kon­se­quent anti­au­to­ri­tär gear­bei­tet, erleb­ten dann aber ein Schul­cha­os. Sie steu­er­ten kon­se­quent um. »Mich hat«, so Caro­li­ne Som­mer­feld, »seit ich mich vor 20 Jah­ren mit der Reform­päd­ago­gik und ihrer Anthro­po­lo­gie zu beschäf­ti­gen begann, die­ser Tem­pe­ra­tur­wech­sel zwi­schen hei­ßer Über­stei­ge­rung und kal­ter Nüch­tern­heit nicht los­ge­las­sen.« Vor­zugs­wei­se an Maria Montesso­ri, Rudolf Stei­ner und Peter Peter­sen zeigt sie, was die­se mit ihren päd­ago­gi­schen Kon­zep­tio­nen woll­ten und auf wel­che Wei­se sie spä­ter links umge­strickt wur­den: »Die heu­ti­ge gru­se­li­ge Melan­ge in der päd­ago­gi­schen Avant­gar­de besteht aus vom Mar­xis­mus zur poli­ti­schen Kor­rekt­heit über­ge­gan­ge­nen Lin­ken, die uns eine glo­ba­le, digi­ta­li­sier­te und demo­kra­ti­sche Welt­ge­sell­schaft ver­hei­ßen und gleich­zei­tig mit natur­wis­sen­schaft­li­chen Begrün­dun­gen der tra­di­tio­nel­len Erzie­hung poli­tisch den Gar­aus machen will. 

(…) Wer heu­te Reform­päd­ago­gik wählt, weiß meist nicht mehr, daß dar­in ein kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­rer Geist steckt, son­dern denkt, ›Freie Schu­len‹ wären nicht bloß Insti­tu­tio­nen in frei­er Trä­ger­schaft, son­dern es gin­ge auch irgend­wie kind­ge­mäß ›frei‹ zu.« Im Gegen­satz dazu tritt Caro­li­ne Som­mer­feld ein für Füh­rung, Distanz, Gemein­schaft und Geist, fer­ner für Aske­se, für das Ertra­gen von Ver­las­sen­heit als »Vor­aus­set­zung für das Wachs­tum der inne­ren Kraft«, für Unver­dreht­heit als Aus­druck gesun­den Men­schen­ver­stan­des, für Behei­ma­tet­sein und Anders­sein als »Pflicht, wo die Ver­dreht­heit über­hand­ge­nom­men hat«, sowie für Anstrengungsbereitschaft.

Die­se Kern­be­grif­fe fin­den sich in den Ver­laut­ba­run­gen der Kul­tus­bü­ro­kra­tie und »Bil­dungs­for­schung« nir­gend­wo, hier jedoch über­schrei­ben sie die zehn Kapi­tel des Buches. In jedem ein­zel­nen davon lei­tet Caro­li­ne Som­mer­feld ihre The­sen und Argu­men­te aus sehr umfas­sen­den bil­dungs- und phi­lo­so­phie­ge­schicht­li­chen Bezü­gen her. Das Lite­ra­tur­ver­zeich­nis offen­bart ein immens brei­tes Spek­trum an Hin­ter­grund­wis­sen, eben nicht nur ver­zeich­net, son­dern auf bestechen­de Wei­se pro­fund ein­ge­bracht. Exem­pla­risch sei­en die Kapi­tel »Füh­rung« und »Distanz« auf­ge­ru­fen. Auto­ri­tät galt seit Ador­no und der »Kri­ti­schen Erzie­hungs­wis­sen­schaft« als dis­kre­di­tiert, wur­de sie doch kurz­schlüs­sig für den Natio­nal­so­zia­lis­mus und Ausch­witz ver­ant­wort­lich gemacht. 

Caro­li­ne Som­mer­feld zeigt, wie nach Peter Peter­sen, dem Begrün­der der Jena­plan-Päda gogik, Füh­rung eben nicht die Frei­heit des Kin­des bricht: »Füh­rung respek­tiert näm­lich, das ist über­haupt ihr gan­zer Sinn, die Frei­heit des Geführ­ten.« Füh­rung meint nicht Beherr­schen, durch­aus aber das Gegen­teil von »Augen­hö­he«: »Es ist die im Erwach­se­nen als dem rei­fe­ren Men­schen ruhen­de, von ihm aus­ge­hen­de Macht, und die­se schafft zugleich zwi­schen dem Erzie­her und dem Zög­ling die unbe­dingt erfor­der­li­che und wich­ti­ge Distanz; denn rech­te Füh­rung ist ohne sol­che Distanz unmög­lich.« Im Gegen­satz dazu gerie­ten eins­ti­ge Tugen­den wie Folg­sam­keit und Gehor­chen­kön­nen seit einem hal­ben Jahr­hun­dert in Miß­kre­dit, was zu einer Über­for­de­rung der Her­an­wach­sen­den führ­te, indem ihnen Posi­tio­nie­run­gen und Ent­schei­dun­gen abver­langt wur­den, die sie noch nicht leis­ten können. 

Viel­mehr bedür­fen sie des Schut­zes und der mit hohem päd­ago­gi­schen Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl gege­be­nen Erzie­hung, mehr noch sogar der »Rich­tung nach oben«, ins Geis­ti­ge hin­ein. Betont wird, daß frei­lich Erstaun­li­ches im Kind ange­legt ist, dies sich aber nur ent­fal­tet, wenn auf ein Höhe­res und Geis­ti­ges hin wohl­wol­lend erzo­gen wird, weil die Her­an­wach­sen­den eben nicht sogleich alles ein­se­hen kön­nen, eben­so­we­nig wie sie in jüngs­ten Jah­ren etwa einen Got­tes­dienst oder ein Kunst­werk aus sich her­aus begrei­fen, son­dern der Anlei­tung bedür­fen, ohne vie­le Wor­te, eher mit Bestimmt­heit und Wohl­wol­len. Dazu gehö­ren Über­win­dung und Selbst­über­win­dung, spä­ter dann Selbst­kon­trol­le, geschult an ech­ten Her­aus­for­de­run­gen. Ohne Über­win­dung, ohne Rei­bung, ohne Wider­stän­de gibt es kei­ne Erzie­hung zum Erwach­sen­wer­den. Wer das Kind abschirmt und ihm Hin­der­nis­se nicht zumu­tet, stärkt es nicht, son­dern schwächt es. Was die geis­ti­ge, mit­hin christ­li­che oder anthro­po­so­phi­sche Aus­rich­tung von Erzie­hung betrifft, so weist Som­mer­feld u. a. auf das Dik­tum Mar­tin Mose­bachs hin, daß doch alles in Eu ropa inkar­nier­ter Geist sei. 

Dies wie­der­um läßt sich auf Rudolf Stei­ner bezie­hen: »Was hat in die­sem Sin­ne der Mensch in sich? Wahr­haf­tig einen höhe­ren, einen gött­li­chen Men­schen, von dem er sich leben­dig durch­drun­gen füh­len kann, sich sagend: Er ist mein Füh­rer in mir.« 

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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