Kann ein Schriftsteller, dessen vielfach beachteten zweiten Roman man einst begeistert las, den dritten Wurf richtig verhauen? Ja, leider. Bov Bjergs (Künstlername) teilautobiographischen Roman Auerhaus verschlang ich regelrecht. Er fängt darin eine schwäbische Jugend in den achtziger Jahren ein. Beobachtungsgabe, Subtilität, der Sound der Zeit, melancholisch behaucht, perfekt eingefangen! Bjerg (Jahrgang 1965) hat nun einen weiteren Roman vorgelegt, Serpentinen. Hier ist der Ich-Erzähler rund dreißig Jahre älter.
Details legen nahe, daß es sich um dieselbe Person handelt. Daß man die eigene Kindheit und Jugend einmal aus eher heiterer (Auerhaus) und dann tiefdunkler Perspektive (eben: Serpentinen) erzählt, ist kein schlechter Kunstgriff. Ist das nicht menschlich? Es gibt wohl bei jedermann die eine kindliche Erinnerung an Bonbons, Übermut und Potenz – und eben die andere an Hustensaft, Schmähungen und Niederlagen. Der Mann, der einst das »Auerhaus« bewohnte, ist nun Doktor der Soziologie. Er wohnt in Berlin, hat eine junge Frau, die erfolgreiche Anwältin ist, und einen Sohn. Sein Vater hat Suizid begangen. Sein Großvater auch. Urgroßvater: dito. Ein Fluch scheint auf der Sippe zu liegen, er lastet schwer auf unserem Ich-Erzähler.
Er ist nun mit seinem Sohn aus Berlin in die Heimat geflohen und umwandert die Orte seiner Kindheit – stets auf dem schmalen Grat zwischen Sterbenwollen und Lebenmüssen. »Ich hatte nie gearbeitet, immer nur gelesen, geschrieben, gedacht, gelabert.« Allgegenwärtig: die Vergangenheit, die nicht vergehen will; weder die private noch die nationalgeschichtliche. Man kann diesen Roman nur ernst nehmen und überhaupt ertragen, wenn man gegen alle Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, daß hier kein biographisch gespickter Bewältigungstext tränenreich hingehudelt wurde, sondern: daß Bov Bjerg uns seinen Ich-Erzähler als dramatisch verkommene Figur unserer Zeit, als Zerrbild, als Menschenrest, der »vom Manne übrigblieb«, ausmalt.
Wir haben es hier gewissermaßen mit einem NS-Opfer der dritten Klasse zu tun. Diese schwermütige Hauptperson leidet an sich selbst, geht aber davon aus, daß sie es als Stellvertreter für alles Unheil tue, was zur Großvaterzeit in Deutschland verübt wurde. Unser Soziologe sieht Autos und denkt: »Volkskraftwagen«: »Ich sah eine Autobahn und dachte: Nazis. Ich sah Gleise und dachte: Deportation.« Seine Frau beschwert sich, er sähe überall Nazis. Antwort: »Nazis SIND überall!« Besessenheit! Alles Unheil rührt von »daher«. Die Eltern, zumindest die Mutter, sahen sich als Kriegsopfer. Sie wurde aus ihrer böhmischen Heimat vertrieben. Das findet der Sohn fatal. Er nennt diese immer wieder vorgetragenen Geschichten »Familienbla«. Dieses dutzendfach bemühte Wort charakterisiert den hier vorherrschenden, bei aller Depression naßforschen Slang ganz gut. Warum trauerten die Altvorderen um sich und ihre Sippe – und nicht um das Leid der anderen, der Juden? Und was hatte die Mutter mal zum Protagonisten gesagt, als der noch klein war? Einen Satz, der sich auf ewig einhämmerte: »Du hast den gleichen Rücken wie dein Vater, die gleichen Schulterblätter, den gleichen Hals.«
In der Rückschau kommentiert der Sohn diese dahingesagte Bemerkung giftig: »Das rassische Erscheinungsbild war wichtig, wenn einer zur SS wollte.« Der Sohn hat seinem Kind LegoSpielzeug gekauft. Eine Spielfigur hat ein dunkles, die andere ein weißes Gesicht. »Ich sagte zum Jungen, der eine Herr heiße Herr Maier und der andere Herr Schmidt, damit wir, wenn wir spielten, nicht ›der Schwarze‹ und ›der Weiße‹ sagen mussten.« Welch konfuses Durcheinander in einem einzigen Gehirn entstehen kann! Hat der Roman, bei all diesem Psychokuddelmuddel, wenigstens literarische Qualitäten? Eher: Nein. »BÄNG!« schreibt Herr Bjerg wiederholt unvermittelt. Und: »Die Köpfe im All.« Und: »Datum. Stempel.« Und: »Geh weg. Bleib hier.« Kapitel 40 (von 45) besteht bedeutungsschwer aus einem Satz: »Warum hast Du mich verlassen.« Kapitel 41, noch kürzer: »Mich dürstet.« Dann sehen wir den Vater, wie er die Badfliesen im kurzzeitig angemieteten Exil mit Filzstiften bemalt. Warum? Weil er keinen Bock hat, daß sich »das Muster« (übertragen: der Suizid; Wink mit dem Zaunpfahl!) wiederholt. Er malt »zwei Striche, drei Striche, Wellen, Kreise, eine Giraffe.« Der kleine Sohn tritt hinzu und malt mit. Hallo, Bedeutung! Ich bin überzeugt davon, daß der talentierte Autor Bov Bjerg seine Leser mit diesem vordergründigen Trauerklumpengewirr, in Wahrheit tiefsinnigem Exempel seine Leser einer bedeutsamen Probe aussetzen wollte. Anders ist es nicht denkbar.
Serpentinen von Bov Bjerg kann man hier bestellen.