Dieses Buch hat unheimlich viele (allerdings auch ungünstige) Bewertungen auf amazon.de erhalten. Es darf sich zudem den begehrten Stikker »SPIEGEL Bestseller« auf den Titel kleben. Seit langer Zeit haben die NachDenkSeiten.de des SPD-Urgesteins Albrecht Müller ein erstaunliches Renommee – auch im sogenannten rechten Lager. Müller ist einer, der tüchtig gegen den Strich bürstet und hellwach ist, so wach, wie es ein wirklich alter Mann eben sein kann. 1972 hatte er Willy Brandts Wahlkampf geleitet, unter Helmut Schmidt war er tätig, bis 1994 saß er im Bundestag. Man könnte unken: Wenn Müller nur halb so alt wäre (er wird demnächst 82), hätte seine Partei einen soliden Stand. Das knallrote Buch spricht per Titel den Phänotyp unserer Zeit an: den besorgten, mitunter gar wütenden Bürger, der »denen da oben« nichts mehr glaubt, der sich von »den Medien« veräppelt fühlt und allenthalben Manipulation wittert.
Nun: Müller bedient diese Sorgen gründlich. Er kann »Einfluß-Agenten der Nato« aus dem journalistischen Betrieb benennen. Er weiß, wohin es führt, wenn Leser rein »aus Treue« zu einem bestimmten Blatt ihre Fähigkeit zum Gegen-den-Strich-Denken aufgeben. Müller kennt und benennt die »Methoden der Manipulation«, derer sich die »Mächtigen« bedienen. Bei ihm sind es siebzehn an der Zahl. Zum Beispiel: »Umfragen nutzen, um Meinung zu machen«, »Geschichten verkürzt erzählen«, »Experten helfen – zu manipulieren« oder »Übertreiben – es wird schon was hängenbleiben.« Das ist alles verdienstvoll. Grundsätzlich hat der Müller Recht damit, wenn er sich mit dem »Bürger von heute« »umzingelt von Kampagnen« sieht. Viele seiner Praxistips sind daher schwer in Ordnung: Man soll etwa im Streitgespräch »naiv« beim Gesprächspartner nachfragen: »Was meinen Sie eigentlich mit ›Zivilgesellschaft‹? Mit ›Populismus‹?« Zuzustimmen ist Müller auch bei anderen »populistischen« Äußerungen: Daß es schlicht »keinen Spaß« mache, mit »unfreien Menschen« Umgang zu haben, die diese »verrückte Welt, in der wir leben« gar nicht als solche erkennen! Müller rät mehrfach dazu, sich zusammenzutun. »Viele Augen sehen mehr als zwei.« Man soll sich am Arbeitsplatz, am Stammtisch, im Verein austauschen, um ein »großes, breites Milieu der Aufklärung zu schaffen.«
Ja, so denken SPDitter, die davon ausgehen, daß ein solches »Zusammenhecken« zu anderen als rechtspopulistischen Schlußfolgerungen führte! Als Intellektueller würde man die Klage womöglich anders formulieren. Hier sitzt vielleicht der Haken. Für akademische Dissidenten ist Müllers Buch deutlich zu unterkomplex.
Und: Müller ist dem Verschwörungswissen anheimgefallen. Beispiele? Müller beklagt, daß Naomi Kleins Schock-Strategie (2007), in dem der Einfluß »des Westens« auf Jelzin öffentlich gemacht worden sei, in Deutschland »erstaunlich vergessen gemacht« wurde. Großer Quatsch! Das Buch wurde in sämtlichen Leitmedien breit (und weitgehend positiv) besprochen! Oder: In »den Medien« würden Putin und Assad übel beleumundet – Jair Bolsonaro hingegen nicht, schreibt Müller. Wie? Bitte bloß mal ein halbes Dutzend positiver Bolsonaroberichte aus dem Mainstream liefern! Oder: Sowohl Bild (eher rechtslastig) als auch Spiegel (nur vorgeblich linkslastig, in Wahrheit laut Müller voll auf Rechtskurs) »dramatisieren« laut Müller (in infamer Absicht) den »demographischen Wandel«. Dabei gibt es den doch gar nicht! Bei Müller trapst die Nachtigall unentwegt und überall. Keinesfalls möchte er dabei seine Medien- und Elitenkritik »von rechts mißbraucht« sehen. Wer heute von einem »linken medialen Mainstream« rede – das sei laut Müller einfach »zum Lachen.« Was für eine schizoide Verdrehung! Müller sollte es besser wissen.
Dies scheint an vielen Stellen durch: »Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September 2019 haben wir eine besondere Variante des Gebrauchs oder Mißbrauchs von Umfragen erlebt. Da wurden die Ministerpräsidenten (…) am Wahlabend in vielen Kommentierungen zu Siegern [gegenüber den Umfragen], obwohl sie und ihre Parteien kräftig verloren hatten.« Genau. Müller sieht die Zeichen der Zeit, aber er vermag sie nicht zu lesen! Für ihn riecht heute alles, was ihm persönlich unsympathisch ist, nach rechtspopulistischer oder wenigstens Anti-Putin-Verschwörung. Daß heute kaum einer mehr die Namen der wichtigsten Gewerkschaftsbosse kennt, gilt ihm als Zeichen, daß urlinke Anliegen von den Medien bewußt totgeschwiegen werden. Daß ein älterer Mann ins Holpern gerät, wäre verzeihlich. Blöd wird es, wenn er auf Seite 99 plötzlich von »Verkehrsteilnehmer*innen« zu schreiben beginnt. »Jähes Gendern«, also anfallsartiger Pseudofeminismus, ist ein schlechtes Vorzeichen.
Müller gendert in etwa 20 Prozent der Fälle – das wirkt in seiner Inkonsequenz betulich. Glaubhafter wäre, er ließe es ganz. Insgesamt mag es sich wohl so verhalten: Linke Leute sehen in der rezenten Politik und Berichterstattung »rechte« Akteure die Rädchen drehen. Und vice versa. Ein sympathisch-skurriles Buch. Zuletzt ein Tip: »Im Deutschlandfunk sind vermutlich täglich verschachtelte Abfolgen von Manipulationen zu hören. Dieses Gesamtkunstwerk durchschaut man allein schwerer als mit anderen, die auf dem Weg zur Arbeit diesen Sender eingeschaltet haben und sich in der Regel ärgern. Dieser Ärger läßt sich leichter ertragen, wenn man sich darüber austauscht.«
Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst von Albrecht Müller kann man hier bestellen.