Die Autorin Wencke Mühleisen (*1953) lebte neun Jahre in der Kommune von Otto Muehl in Wien sowie im dazugehörigen burgenländischen Friedrichshof. Otto Muehl? Der Aktionskünstler und Guru hatte für Aufsehen gesorgt, indem er das Audimax der Uni Wien sprengte. Dort verlas er ein revolutionäres Manifest, ließ die Nationalhymne abspielen und defäkierte auf’s Katheder. In Muehl kulminierte das, was wir heute unter der Chiffre »1968« verstehen. Die hunderte Mitglieder von Muehls Aktionsanalytischer Organisation (AAO) verstanden sich als Modellfiguren einer zukünftigen Form des Zusammenlebens. Sie bezeichneten ihre Prinzipien als »neuen Humanismus«.
Wahlloser Sex war der hauptsächliche Transmissionsriemen, daneben praktizierte man »Selbstdarstellungskunst« und »Urschreitherapie.« Was Frau Mühleisen, die schüchterne Norwegerin, ab 1976 in diesem offenkundig charismatischen Verein mitexerzierte, folgt (glaubhaft, äußerst reflektiert) dem vollen Klischeebild. Hier trug Frau wirklich die berüchtigten Latzhosen und keinen BH. Wenn doch, wurde sie ausgelacht. Es wurde Tag und Nacht durcheinandergevögelt – Frau Mühleisen deutet es dezent an. Anarchistisch ging es dabei keineswegs zu – es gab eisenharte, klar benannte Hierarchien und einen wahrhaftigen Führerkult: Die Kommunemitglieder huldigten Muehl wie einem Erlöser. Die Autorin schlägt an keiner Stelle einen »Abrechnungston« an. Das spricht für sie. 1983 brachte sie im Beisein von Kommunarden, die auf der Bettkante« herumsaßen, ein Kind zur Welt.
Da die »bürgerliche Kleinfamilie« samt »Bruttrieb« als verachtenswert galt, wird die Mutter ohne Kind zum Pariser Zweig der Kommune abgeordnet. Die kleine Tochter bleibt zurück. Eine Sechzehnjährige (»so jung, so positiv!«) betreut die Tochter unterdessen als Hauptbezugsperson. Die Kleine erkrankt schwer. Wencke Mühleisen steigt Knall auf Fall aus. Warum dieses Theater, das letztlich wohl niemanden nachhaltig beglückte, sondern Verletzungen unterschiedlichen Schweregrads hinterließ? Die Autorin hat in der Rückschau einen Verdacht, auf den sie den Aufbau ihres Buches gründet. Ihr geht es um den eigenen Vater. Sie liebte ihn – sehr. Er war jedoch, wie sie postum »so richtig« feststellt, ein Nazi – oder was sie dafür hält. Viele Jahre nach seinem Tod fällt ihr nämlich ein Brief des Vaters von 1984 in die Hände. Darin geht es darum, weshalb er kein Interesse hatte, seine andere Tochter mit deren halbnigerianischem Kind zu treffen.
Herr Mühleisen hatte geschrieben: »Du mußt nicht glauben, daß ich ein unverbesserlicher fanatischer Faschist und Rassist bin (mein bester Freund war zum Beispiel Jude), aber ich habe einen höllischen Krieg in Ungarn, Rußland, Finnland und den arktischen Regionen mitgemacht, verloren und überlebt. In der Zeit sind Tausende aus meiner Umgebung, mit denen ich teilweise befreundet war, gefallen, erfroren, verhungert, zerrissen, pulverisiert oder sonst elend zugrunde gegangen. Sowas verpflichtet. Ich habe diesen Krieg für mein Volk und meine Überzeugung mitgemacht. Da gab es keine Alternative. […] Ich kann nicht meine Familie verraten, indem ich einen Neger hineinschwindele und damit meine Selbstachtung verliere. Die Kommunisten nennen das Solidarität. Wir haben einen altmodischen Begriff dafür, nämlich Ehre und Gewissen. Ich hoffe, Wencke, daß Du mich verstehst? Du lebst ja auch für Deine Überzeugung gegen den Strom. PS: Anders leben als denken nennt man Schizophrenie. Grüß mir den Guru Muehl und meine anderen Freunde und Freundinnen in der Kommune und sei herzlich gegrüßt. Vater.«
Der Tochter geht es nicht darum, ihr anti-konformistisches Treiben rückblickend als Aufbegehren gegen das »Nazi-Erbe« zu begreifen. Das wäre ein alter Hut. Sie hält sich auf am väterlich proklamierten »wir«: Wir: hier wie da eine Gemeinschaft derjenigen, die »eine extreme Ideologie« vertraten, beide mit einem »Hang zu grenzüberschreitenden Handlungen.« Der Vater trat in seinen Zwanzigern in die Wehrmacht ein – die Tochter gleichen Alters in eine radikale Kommune. Der Autorin fällt auf, daß sie seit je einen scharfen Blick für Schwächen anderer hatte; sie merkt, daß sie bis heute ein kaltes Auge gerade auf subalterne Frauen hat. Sie spiegelt das mit dem väterlichen Impetus: Diese »Verachtung von Schwäche«! Akribisch forscht sie nach, ob der Vater an Kriegsverbrechen beteiligt war. Sie befragt fernste Verwandte, die den in Marburg / Maribor (Slowenien) geborenen kannten, um auf eventuelle Perversionen zu stoßen. Doch nein: Vater Mühleisen war ein ernster Mann, der gerne Pferde zeichnete. Es gab keine brutale Ader.
Hingegen erfährt die Tochter, daß nach dem Krieg in Slowenien »mindestens 70 000 Männer, Frauen und Kinder bei Vergeltungsmaßnahmen« getötet worden seien. Dieses Buch legt nahe, wie schwierig es sein kann, in der Praxis Gut und Böse voneinander zu scheiden. Mühl selbst war 1991 unter anderem wegen Sittlichkeitsdelikten, Unzucht mit Minderjährigen bis hin zur Vergewaltigung und Verstößen gegen das Suchtgiftgesetz zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, die er vollständig abbüßte. Die österreichische Hautevolee pries ihn dennoch hernach mit Ausstellungen und Würdigungen. Mühl selbst hatte sich für die Offizierslaufbahn beworben und war Teilnehmer der verlustreichen Ardennenoffensive. Frau Mühleisen erwähnt das nicht. Es ist kompliziert genug.
Du lebst ja auch für deine Überzeugung von Wencke Mühleisen kann man hier bestellen.