Es ist beinahe unmöglich, in der politischen Rechten aktiv zu sein, ohne jemals auf Personen zu treffen, die sich – zeitweise oder längerfristig – als »Traditionalisten« bezeichnen und je nach Vorliebe auf (u. a.) René Guénon, Julius Evola, Alexander Dugin und Mircea Eliade rekurrieren. Dabei scheint der Traditionalismus oftmals esoterische Fluchtbewegung und intellektuelle Sinnsuche zugleich abzubilden, wobei bisweilen unklar bleibt, was Traditionalismus im Kern jeweils ausmacht.
Inhalte und Formen wurden dutzendfach verschieden in diesen Terminus projiziert. Vom britischen Historiker Mark Sedgwick – er lehrte bereits in Oxford, Kairo und Aarhus – liegt nun die 2004 im englischen Original publizierte, grundlegende Traditionalismus-Einführung in deutscher Sprache vor. Die zeitliche Verzögerung der Übertragung bleibt ihr einziger Mangel, der auch dadurch nicht kaschiert werden kann, daß die deutsche Edition ein zusätzliches Kapitel (für die russische Ausgabe geschrieben) und einige punktuelle Aktualisierungen enthält. Dieser Einschränkung ungeachtet ist vorliegendes Buch ein Geschenk des brillanten Autors an seine Leser, das einer Reise vielleicht nicht in die »geheime Geistesgeschichte« gleichkommt, wie der Untertitel andeutet, sehr wohl aber in entlegene, faszinierende, reizende, irritierende, abstoßende Bereiche der politischen Theorie und Ideengeschichte ebenso wie der Religionswissenschaft.
»Reise« ist hier wörtlich und im übertragenen Sinne zugleich zu nehmen: Ob Ägypten, Rußland oder Italien – Sedgwick besucht Protagonisten respektive »Zeitzeugen« seines Gegenstandes. Er »reist« erkenntnislüstern durch Denksysteme von Sufis und Freimaurern, von zum Islam konvertierten Neofaschisten und Nationalbolschewiken, von Kritikern traditionaler Lehren wie manisch Gläubigen, von Wissenschaftlern und Sektenangehörigen. Er kombiniert dahingehend Berichte zu den Reisen mit akademischen Erörterungen und bietet auf Basis all dessen ein außergewöhnliches Panorama. Sedgwick legt die Meßlatte in jedem Bereich hoch und stellt sein Forschungssujet, für das er merklich Sympathien entwickelte, auf den Podest: Er sieht den Traditionalismus nicht als marginal an, sondern als Avantgarde gegen den liberal-aufklärerischen Geist der westlichen Moderne (was allerdings diffus bleibt; es fehlen gerade heutige Exemplifikationen für diese gewagte These).
Traditionalismus meint ein vielschichtiges Phänomen mit vielschichtigen Optionen, die sich mitunter ausschließen. Im Kern wird »Tradition« aber durch Traditionalisten als ewige Wahrheit des Glaubens und Brauchtums verstanden, die der westlichen Welt seit dem 16. Jahrhundert abhanden gekommen wäre. Grob vereinfachend lassen sich drei traditionalistische Stadien skizzieren: Das erste Stadium ist in der Zwischenkriegszeit anzusetzen, als René Guénon, damals im Umfeld freimaurerischer Zirkel, die traditionalistische Philosophie – die Suche nach unvergänglichen Wahrheiten einer zeitlosen Weisheitslehre, beeinflußt durch Perennialismus und Hinduismus – entwickelte. Das zweite Stadium ist geprägt von unterschiedlichen Ableitungen aus Guénons Schriften – die größeren und bekannteren mündeten in diverse ekstatische Formen des Sufi-Islam und in Ausläufer einer faschistischen Revolte.
Im dritten Stadium, nach den 1960er Jahren, machten sich traditionalistische Ideen auf, bis dato unerreichte Gegenden zu durchdringen und tauchten modifiziert zu den Umbruchszeiten von 1989 / 91 in Dugins Nationalbolschewismus und später Neoeurasismus ebenso auf wie in esoterisch-islamischen, nationalislamischen und islamistischen Zusammenhängen, wo sie bis heute überdauern und fortentwickelt werden. Selbst im italienischen Neofaschismus der Gegenwart sind traditionalistische Ansätze präsent; neben den »klassischen« Evolianern sind es Akteure wie Claudio Mutti, dessen Schlüsselschrift im verblichenen deutschen Regin-Verlag vorliegt, die von Sedgwick aufgesucht und in ihrer ganzen Ambivalenz – Mutti stammt aus dem aktivistischen Neofaschismus, ist Professor für Altphilologie, polyglott und frommer Moslem – vorgestellt werden.
Es sind solche Einblicke und Perspektiven, die den schwer greifbaren Traditionalismus und seine zahlreichen Variationen doch irgendwie faßbar oder zumindest lebendig machen: Der Autor hat einen denkbar schweren Gegenstand gewählt und ihn so gut es geht bewältigt: welch’ Seltenheit, welch’ Lesegenuß.
Gegen die moderne Welt von Mark Sedgwick kann man hier bestellen.