Mark Sedgwick: Gegen die moderne Welt

Mark Sedgwick: Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2019. 549 S., 38 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Es ist bei­na­he unmög­lich, in der poli­ti­schen Rech­ten aktiv zu sein, ohne jemals auf Per­so­nen zu tref­fen, die sich – zeit­wei­se oder län­ger­fris­tig – als »Tra­di­tio­na­lis­ten« bezeich­nen und je nach Vor­lie­be auf (u. a.) René Gué­non, Juli­us Evo­la, Alex­an­der Dugin und Mir­cea Elia­de rekur­rie­ren. Dabei scheint der Tra­di­tio­na­lis­mus oft­mals eso­te­ri­sche Flucht­be­we­gung und intel­lek­tu­el­le Sinn­su­che zugleich abzu­bil­den, wobei bis­wei­len unklar bleibt, was Tra­di­tio­na­lis­mus im Kern jeweils ausmacht. 

Inhal­te und For­men wur­den dut­zend­fach ver­schie­den in die­sen Ter­mi­nus pro­ji­ziert. Vom bri­ti­schen His­to­ri­ker Mark Sedgwick – er lehr­te bereits in Oxford, Kai­ro und Aar­hus – liegt nun die 2004 im eng­li­schen Ori­gi­nal publi­zier­te, grund­le­gen­de Tra­di­tio­na­lis­mus-Ein­füh­rung in deut­scher Spra­che vor. Die zeit­li­che Ver­zö­ge­rung der Über­tra­gung bleibt ihr ein­zi­ger Man­gel, der auch dadurch nicht kaschiert wer­den kann, daß die deut­sche Edi­ti­on ein zusätz­li­ches Kapi­tel (für die rus­si­sche Aus­ga­be geschrie­ben) und eini­ge punk­tu­el­le Aktua­li­sie­run­gen ent­hält. Die­ser Ein­schrän­kung unge­ach­tet ist vor­lie­gen­des Buch ein Geschenk des bril­lan­ten Autors an sei­ne Leser, das einer Rei­se viel­leicht nicht in die »gehei­me Geis­tes­ge­schich­te« gleich­kommt, wie der Unter­ti­tel andeu­tet, sehr wohl aber in ent­le­ge­ne, fas­zi­nie­ren­de, rei­zen­de, irri­tie­ren­de, absto­ßen­de Berei­che der poli­ti­schen Theo­rie und Ideen­ge­schich­te eben­so wie der Religionswissenschaft.

»Rei­se« ist hier wört­lich und im über­tra­ge­nen Sin­ne zugleich zu neh­men: Ob Ägyp­ten, Ruß­land oder Ita­li­en – Sedgwick besucht Prot­ago­nis­ten respek­ti­ve »Zeit­zeu­gen« sei­nes Gegen­stan­des. Er »reist« erkennt­nis­lüs­tern durch Denk­sys­te­me von Sufis und Frei­mau­rern, von zum Islam kon­ver­tier­ten Neo­fa­schis­ten und Natio­nal­bol­sche­wi­ken, von Kri­ti­kern tra­di­tio­na­ler Leh­ren wie manisch Gläu­bi­gen, von Wis­sen­schaft­lern und Sek­ten­an­ge­hö­ri­gen. Er kom­bi­niert dahin­ge­hend Berich­te zu den Rei­sen mit aka­de­mi­schen Erör­te­run­gen und bie­tet auf Basis all des­sen ein außer­ge­wöhn­li­ches Pan­ora­ma. Sedgwick legt die Meß­lat­te in jedem Bereich hoch und stellt sein For­schungs­su­jet, für das er merk­lich Sym­pa­thien ent­wi­ckel­te, auf den Podest: Er sieht den Tra­di­tio­na­lis­mus nicht als mar­gi­nal an, son­dern als Avant­gar­de gegen den libe­ral-auf­klä­re­ri­schen Geist der west­li­chen Moder­ne (was aller­dings dif­fus bleibt; es feh­len gera­de heu­ti­ge Exem­pli­fi­ka­tio­nen für die­se gewag­te These).

Tra­di­tio­na­lis­mus meint ein viel­schich­ti­ges Phä­no­men mit viel­schich­ti­gen Optio­nen, die sich mit­un­ter aus­schlie­ßen. Im Kern wird »Tra­di­ti­on« aber durch Tra­di­tio­na­lis­ten als ewi­ge Wahr­heit des Glau­bens und Brauch­tums ver­stan­den, die der west­li­chen Welt seit dem 16. Jahr­hun­dert abhan­den gekom­men wäre. Grob ver­ein­fa­chend las­sen sich drei tra­di­tio­na­lis­ti­sche Sta­di­en skiz­zie­ren: Das ers­te Sta­di­um ist in der Zwi­schen­kriegs­zeit anzu­set­zen, als René Gué­non, damals im Umfeld frei­mau­re­ri­scher Zir­kel, die tra­di­tio­na­lis­ti­sche Phi­lo­so­phie – die Suche nach unver­gäng­li­chen Wahr­hei­ten einer zeit­lo­sen Weis­heits­leh­re, beein­flußt durch Peren­nia­lis­mus und Hin­du­is­mus – ent­wi­ckel­te. Das zwei­te Sta­di­um ist geprägt von unter­schied­li­chen Ablei­tun­gen aus Gué­nons Schrif­ten – die grö­ße­ren und bekann­te­ren mün­de­ten in diver­se eksta­ti­sche For­men des Sufi-Islam und in Aus­läu­fer einer faschis­ti­schen Revolte. 

Im drit­ten Sta­di­um, nach den 1960er Jah­ren, mach­ten sich tra­di­tio­na­lis­ti­sche Ideen auf, bis dato uner­reich­te Gegen­den zu durch­drin­gen und tauch­ten modi­fi­ziert zu den Umbruchs­zei­ten von 1989 / 91 in Dug­ins Natio­nal­bol­sche­wis­mus und spä­ter Neo­eu­ra­sis­mus eben­so auf wie in eso­te­risch-isla­mi­schen, natio­nal­is­la­mi­schen und isla­mis­ti­schen Zusam­men­hän­gen, wo sie bis heu­te über­dau­ern und fort­ent­wi­ckelt wer­den. Selbst im ita­lie­ni­schen Neo­fa­schis­mus der Gegen­wart sind tra­di­tio­na­lis­ti­sche Ansät­ze prä­sent; neben den »klas­si­schen« Evo­li­a­nern sind es Akteu­re wie Clau­dio Mut­ti, des­sen Schlüs­sel­schrift im ver­bli­che­nen deut­schen Regin-Ver­lag vor­liegt, die von Sedgwick auf­ge­sucht und in ihrer gan­zen Ambi­va­lenz – Mut­ti stammt aus dem akti­vis­ti­schen Neo­fa­schis­mus, ist Pro­fes­sor für Alt­phi­lo­lo­gie, poly­glott und from­mer Mos­lem – vor­ge­stellt werden. 

Es sind sol­che Ein­bli­cke und Per­spek­ti­ven, die den schwer greif­ba­ren Tra­di­tio­na­lis­mus und sei­ne zahl­rei­chen Varia­tio­nen doch irgend­wie faß­bar oder zumin­dest leben­dig machen: Der Autor hat einen denk­bar schwe­ren Gegen­stand gewählt und ihn so gut es geht bewäl­tigt: welch’ Sel­ten­heit, welch’ Lesegenuß. 

Gegen die moder­ne Welt von Mark Sedgwick kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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