Tobias Roth (Hrsg.): Gartenstadtbewegung

Eine Rezension von Fritz Keilbar

Gar­ten­stadt­be­we­gung: Flug­schrif­ten, Essays, Vor­trä­ge und Zeich­nun­gen aus dem Umkreis der Deut­schen Gar­ten­stadt-Gesell­schaft, hrsg. und benach­wor­tet von Tobi­as Roth, Ber­lin: Das Kul­tu­rel­le Gedächt­nis 2019. 256 S., 24 €

»In letz­ter Zeit sind Umfra­gen gehal­ten wor­den, aus denen her­vor­geht, wie weit die Natur­ent­frem­dung bei Kin­dern der Groß­städ­te vor­ge­schrit­ten ist: Die meis­ten hat­ten nie einen Son­nen­auf­gang gese­hen, vie­le waren noch nie in einem Wal­de gewe­sen, kann­ten den pflü­gen­den Bau­ern nur aus dem Anschauungsunterricht.«
Die­se Kla­ge erhob 1909 Hans Kampffmey­er, ein heu­te ver­ges­se­ner Vor­den­ker der Gar­ten­stadt­be­we­gung. Die­se Bewe­gung sah in der Errich­tung von groß­zü­gi­gen Sied­lun­gen mit genü­gend Land für die Selbst­ver­sor­gung die Lösung für fast alle Gebre­chen der Gesell­schaft um 1900.
Sie war ein wich­ti­ger Bestand­teil der Lebens­re­form­be­we­gung, die seit den 1890er Jah­ren ver­such­te, einen Aus­weg aus Mas­sen­zi­vi­li­sa­ti­on und for­mier­ter Gesell­schaft zu fin­den und das Elend des in Hin­ter­hö­fen hau­sen­den Pro­le­ta­ri­ats zu mil­dern. Hier fan­den vie­le Reform­wil­li­ge zusam­men, da es nicht nur um das Häus­chen im Grü­nen ging, son­dern um wei­ter­füh­ren­de Fra­gen einer Boden­re­form, der Volks­ge­sund­heit und des Men­schen­bil­des, das sich nicht an Pro­fit­ma­xi­mie­rung ori­en­tie­ren sollte.

Die Gar­ten­stadt-Idee wur­de aus Eng­land impor­tiert und bei uns vor allem von der Deut­schen Gar­ten­stadt-Gesell­schaft pro­pa­giert. Aus deren reger Tätig­keit sind in dem vor­lie­gen­den Band reprä­sen­ta­ti­ve Doku­men­te ver­sam­melt. Zeit­lich stam­men sie sämt­lich aus den Jah­ren vor dem Ers­ten Welt­krieg, inhalt­lich bewe­gen sie sich zwi­schen phi­lo­so­phi­schem Essay und Wer­be­pro­spekt. Der Her­aus­ge­ber hat bewußt die­se Hete­ro­ge­ni­tät abge­bil­det. Sei­ne The­se: Auch im Fall der Gar­ten­stadt stand am Ende der Aus­ver­kauf einer Idee, weil sich unter den Geset­zen der Ver­wer­tung kei­ne ande­re Ent­wick­lung den­ken läßt. Die bis in die drei­ßi­ger Jah­re errich­te­ten Gar­ten­städ­te gehö­ren heu­te zu den begehr­ten Wohn­la­gen, selbst die »vor­städ­ti­schen Klein­sied­lun­gen«, die in der Welt­wirt­schafts­kri­se auf­grund einer Not­ver­ord­nung von Arbeits­lo­sen errich­tet wur­den, zäh­len dazu.

Zu dem mit zeit­ge­nös­si­schen Ent­wür­fen illus­trier­ten und äußerst anspre­chend gestal­te­ten Band hat Her­aus­ge­ber Tobi­as Roth ein Nach­wort bei­gesteu­ert, in dem die wich­tigs­ten Prot­ago­nis­ten vor­ge­stellt und die Ent­wick­lung nach­ge­zeich­net wird. Erklärt wird auch die Reser­viert­heit, mit der heu­te der Losung »Zurück aufs Land!« begeg­net wird: »Boden, Heim, Schol­le, Leib, Selbst­ver­sor­gung und Innen­ko­lo­ni­sa­ti­on, die Begrif­fe und Kon­zep­te wer­den ab 1933 den Grün­spar­ta­kis­ten von den Braun­hem­den abge­run­gen – und blei­ben auf Jahr­zehn­te hin­aus damit ver­seucht, teils bis heu­te.« Am Ende des Ban­des gibt es eine kryp­ti­sche Wid­mung an ein Grund­stück, das 1919 für die Sied­lung Neu-Tru­de­ring ver­mes­sen wur­de. Wel­cher Grund mag sich dahin­ter ver­ber­gen? Gera­de Neu-Tru­de­ring stand unter kei­nem guten Stern, weil seit der Eröff­nung des Flug­ha­fens Riem 1939 die Fol­gen der Stadt­nä­he deut­lich spür­bar wurden.

Inter­es­sant ist dar­über hin­aus der Ver­lag, in dem das Buch erschie­nen ist. Das Kul­tu­rel­le Gedächt­nis exis­tiert seit drei Jah­ren. Sein Anspruch: »Aktu­el­le The­men, aber nicht aus der Hek­tik der Gegen­wart betrach­tet, son­dern aus his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve, aus dem kul­tu­rel­len Gedächt­nis her­aus: Um zu zei­gen, dass die Pro­ble­me von heu­te nicht ein­zig­ar­tig sind.« 

Gar­ten­stadt­be­we­gung: Flug­schrif­ten, Essays, Vor­trä­ge und Zeich­nun­gen aus dem Umkreis der Deut­schen Gar­ten­stadt-Gesell­schaft, hrsg. und benach­wor­tet von Tobi­as Roth kann man hier bestel­len.

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