Problemaufriß

PDF der Druckfassung aus Sezession 92/Oktober 2019

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Küh­le Redu­zie­run­gen klä­ren Sach­ver­hal­te, gera­de im Fra­gen nach Grün­den. Und den Blick in Abgrün­de soll­te man üben und aus­hal­ten ler­nen. Denn wir gehen, aufs Gan­ze betrach­tet, aus zwei­er­lei Ursa­chen erheb­li­chen, ver­mut­lich grund­stür­zen­den Ver­än­de­run­gen entgegen.

I.

Wir ver­stoff­wech­seln den Pla­ne­ten in for­cier­tem Tem­po, vor allem der Über­zahl der Welt­be­völ­ke­rung wegen. Dies wird inner­halb der nächs­ten zwei, drei Jahr­zehn­te schein­bar eher die Natur als uns betref­fen, schließ­lich aber genau des­we­gen unse­re Exis­tenz­grund­la­gen unter­mi­nie­ren, so nicht – Wie aber? – eine nur mit apo­ka­lyp­tisch anmu­ten­der Redu­zie­rung der Bevöl­ke­rung denk­ba­re Ver­än­de­rung einträte.

Ob die dys­to­pisch erschei­nen­de Som­mer­hit­ze der letz­ten Jah­re, das mit ihr ein­her­ge­hen­de Ver­dor­ren des Wal­des und die Ver­step­pung der Land­schaft nun Aus­druck eines expo­nen­ti­ell ver­lau­fen­den Kli­ma­wan­dels sind oder nicht, als mythisch anmu­ten­de Illus­tra­ti­on eines Abschieds vom Ver­trau­ten paßt die­se Ent­wick­lun­gen eben­so wie das Arten­ster­ben. Erst die Mit­ge­schöp­fe, dann wir. Wer die Natur liebt und drau­ßen unter­wegs ist, der regis­triert, welch unheim­li­che Ver­än­de­run­gen ablau­fen. Uns wird erklärt, über inno­va­ti­ve Lösun­gen ernäh­re die Erde alle, ihre Ver­let­zun­gen wären heilbar.

Nur ist kein Weg aus­zu­ma­chen, über den das welt­ver­nünf­tig glo­bal rea­li­sier­bar erscheint, ganz abge­se­hen davon, daß auch »Inno­va­tio­nen« inge­nieur­tech­ni­scher Intel­li­genz Res­sour­cen aus­schöp­fen und neue Schnei­sen schla­gen wer­den. Es gehört zum mephis­to­phe­li­schen Teil unse­res Mensch­heits­dra­mas, gar nicht anders zu kön­nen, als schöp­fe­risch zu ver­nich­ten. Wir ver­füg­ten nur jahr­tau­sen­de­lang nicht über das Besteck, das so tief in die Natur zu schnei­den und sie so bra­chi­al auf­zu­bre­chen ver­mag wie die gegen­wär­tig fas­zi­nie­ren­de, aber gleich­sam grau­si­ge Technik.

Weil wir im wei­tes­ten Sin­ne durch­weg – bei­na­he dia­ly­se­ähn­lich – an eine Men­ge lebens­er­hal­ten­der Appa­ra­tu­ren ange­schlos­sen sind, ver­ga­ßen wir unser Natur­we­sen, inso­fern bei­na­he nur noch der Tod selbst natür­lich anmu­tet, min­des­tens in sei­nem letz­ten Augen­blick. Alles ande­re, Geburt, Wach­sen und Ster­ben, wird wis­sen­schaft­lich-indus­tri­ell beglei­tet, so inten­siv, daß sehr vie­le von uns nur dadurch über­le­ben oder ein höhe­res Alter errei­chen, sicht­lich unfit und ernährt von ste­ril ein­ge­schweiß­ter Super-Markt-Nahrung.

Ein Begriff des medi­zi­nisch-phar­ma­zeu­ti­schen Kom­ple­xes mutet bezeich­nend tech­no­id an: Wir wer­den, je älter je mehr, mit Medi­ka­men­ten »ein­ge­stellt«. Nur läßt sich die Natur selbst, läßt sich die uns bis­lang tra­gen­de Schöp­fung nicht »ein­stel­len«. Wo wir sie ein­zu­stel­len ver­su­chen, stirbt sie unter unse­rem Zugriff weg. Unse­re bis­wei­len wür­de­lo­se Todes­ver­drän­gung und ‑ver­mei­dung geht zu Las­ten der Mut­ter Natur.

»Etwas ein­stel­len« heißt in par­al­lel­lau­fen­der Seman­tik auch: »etwas been­den«. Die Men­schen der über­be­völ­ker­ten Län­der, mit denen wir soli­da­risch sein sol­len oder wol­len, stre­ben eine Lebens­wei­se an, die dem »Think big!« des Wes­tens ent­spricht und im King­si­ze-For­mat ver­brau­chen möch­te. Es ist dage­gen kei­ne Auf­klä­rung denk­bar, schon gar nicht aus­ge­hend von der SUV-Bour­geoi­sie der Indus­trie­län­der, deren Selbst­herr­lich­keit ihren gewohn­ten Bedürf­nis­sen und ihren Fahr­zeu­gen entspricht.

Die Bio­sphä­re unse­res Pla­ne­ten droht in über­gro­ßen Antei­len ver­nich­tet und durch­ver­daut zu wer­den. Schon jetzt dürf­ten wir die Erde – rein rech­ne­risch – mehr­fach mit einem kör­per­war­men Fäka­li­en­strang umwin­den kön­nen. Kein ange­neh­mes Bild, bei­lei­be nicht, aber ein ein­drucks­vol­les. Und klar ist mir bewußt, daß ich selbst zum »Über­maß der Lei­ber« gehö­re; das eben pro­vo­ziert die nach­denk­li­che Reflexion.

Kon­ser­va­ti­ve und Grü­ne war­nen glei­cher­ma­ßen seit lan­gem vor der Exis­tenz­ge­fähr­dung durch maß­lo­sen Ver­brauch. Wäh­rend die­se den wei­te­ren Ver­lauf des Ver­häng­nis­ses gewis­ser­ma­ßen volks­er­zie­he­risch – oder »zivil­ge­sell­schaft­lich« – für regel­bar hal­ten, wis­sen jene letzt­lich um die Ver­geb­lich­keit und han­deln im Als-ob. Uto­pi­sche Hoff­nun­gen hier, fata­lis­ti­sche Ein­sicht ins Unaus­weich­li­che dort.

Die Grü­nen wol­len didak­tisch die gan­ze Welt­ge­mein­schaft zur Bio-Ethik läu­tern, Kon­ser­va­ti­ve wis­sen, daß sie Ver­ant­wor­tung nur für sich und ihren enge­ren Bezirk über­neh­men kön­nen: Maß­hal­ten, Aske­se und Ver­zicht. Umkehr ist Abkehr, auch vom Wachs­tums­prin­zip. Hal­tung ver­kör­pert das Trotzdem.

II.

Die wirt­schaft­li­chen und eben­so geis­ti­gen Repro­duk­ti­ons­pro­zes­se zur Sicher­stel­lung des Immer-Mehr lau­fen mitt­ler­wei­le in einem so hoch­fre­quen­ten Tem­po ab, daß immer weni­ger Men­schen mit­hal­ten kön­nen. Natür­li­cher­wei­se nicht. Das beschleu­nigt Selektionsvorgänge.

Die tech­nisch erfor­der­ten und zugleich erwünsch­ten Inten­si­vie­run­gen und Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tun­gen bedin­gen, daß immer weni­ger gut aus­ge­bil­de­te und spe­zia­li­sier­te Hoch­leis­ter eine immer grö­ße­re Ver­wal­tungs­mas­se mit­ver­sor­gen, die in rei­che­ren Län­dern bis­lang noch kom­for­ta­bel zu ali­men­tie­ren ist.

Die Ton­na­gen an bil­li­gen Koh­len­hy­dra­ten, Eiwei­ßen und Fet­ten sichern ver­mut­lich noch wei­te­ren Mil­li­ar­den Men­schen das Leben oder Über­le­ben – ein Geschäft, das wie jedes ande­re auf Pro­fit aus­ge­rich­tet ist und nicht nach dem Sinn des den Pla­ne­ten über­frach­ten­den Lebens fragt.

Die Las­ter­ko­lon­nen mit Soja aus Ama­zo­ni­en rol­len für die gan­ze Welt. Ama­zo­ni­en selbst spricht sich nur so sen­ti­men­tal aus, weil des­sen Schick­sal ver­mut­lich besie­gelt ist: Phi­le­mon und Bau­cis im Regen­wald … Aber selbst wenn für genü­gend Bil­lig­food gesorgt scheint, fehlt es immer mehr Men­schen an Inspi­ra­ti­on und qua­li­fi­zie­ren­dem Selbst­ver­ständ­nis, die für ein see­lisch gesun­des Leben eben­so unab­ding­lich erschei­nen wie etwa gesun­de Ernäh­rung und Bewe­gung für die Physis.

Lethar­gie, Tris­tesse und inne­re Lee­re gefähr­den die einen so, wie der Streß die ande­ren quält. Selek­ti­ons­vor­gän­ge lau­fen inso­fern nicht nur sozi­al, son­dern eben­so lebens­tech­nisch ab. Wir fol­gen einer Maschi­ne­rie, die uns einen ahu­ma­nen und abio­lo­gi­schen Takt vor­gibt. Nicht sel­ten wer­den wir selbst zu Vehi­keln des von uns ent­wi­ckel­ten Vehikels.

Bana­les Bei­spiel: Erst nutzt die Büro­ge­mein­schaft Win­dows 365, dann aber nutzt Win­dows 365 die Büro­ge­mein­schaft und stellt sich am Ende als dreis­ter Stres­sor her­aus, der zwar alles erleich­tern und Frei­räu­me schaf­fen soll­te, aber tat­säch­lich alles beschleu­nigt und Lebens­raum wie Lebens­zeit ein­engt. Die Team­sit­zun­gen enden nicht mehr, sie ver­lau­fen über Apps und Share­points wei­ter. Selbst nachts piept und blinkt es. Bei­na­he ein Wun­der, daß es über­haupt noch dun­kel wird. Irgend­wo da draußen.

Wich­tig ist in die­sem Zusam­men­hang, welch immense Bedeu­tung dem Dro­gen­markt zukommt. Er exis­tier­te nicht ohne das sym­pto­ma­ti­sche Bedürf­nis nach so inten­si­ver wie ris­kan­ter Hil­fe dazu, sich selbst noch mehr hoch­zu­dre­hen oder her­un­ter­zu­re­geln. Der Dro­gen­kon­sum, nach Sig­mund Freud der kür­zes­te Weg zum Glück, ist an sich kein Ver­bre­chen, son­dern Aus­druck des natür­li­chen Bedürf­nis­ses nach Ruhe und Behag­lich­keit, nach Abstand und inne­rem Frie­den, ja eigent­lich ist die Sucht sogar ver­zwei­fel­tes Selbst­ma­nage­ment. Nur über die Wahl der Mit­tel und den Preis herrscht Uneinigkeit.

Arbei­ten in weit­ge­hend ruhi­ger Rhyth­mi­sie­rung sind kaum mehr denk­bar. Im Bei­spiel: Die Land­ar­beit frü­he­rer Jahr­zehn­te, die den größ­ten Teil der Bevöl­ke­run­gen ein­band und ver­sorg­te, war zwei­fels­oh­ne ein har­tes Brot, aber kei­ne ent­frem­de­te und über­dreh­te Tätig­keit, die über übli­che exis­ten­ti­el­le Sor­gen hin­aus see­lisch krank mach­te – zumal die Reli­gi­on zu klä­ren ver­stand, was an Gedan­ken übrig­blieb, die weit über den Feld­rain hinauseilten.

Und selbst inner­halb der Indus­tria­li­sie­rung erschien den Arbei­tern mit dem Pro­dukt, der Pro­duk­ti­on und sogar mit dem Unter­neh­men bzw. dem Unter­neh­mer eine Iden­ti­fi­zie­rung mög­lich, die heu­te gera­de­zu roman­tisch anmu­tet. Die Arbei­ter­be­we­gung ent­wi­ckel­te in der Arbei­ter­schaft eine Kul­tur, die das ersetz­te, was mit dem Über­gang vom Lan­de in die Stadt zunächst ver­lo­ren­ge­gan­gen schien und ver­mißt wur­de. Die­se Kul­tur war geeig­net, Arbeits­be­las­tun­gen aus­zu­glei­chen. Wo geschieht dies heute?

Offen­bar über eine trü­ge­ri­sche Ret­tung in mehr Indi­vi­dua­li­tät. Die­se Ich­be­zo­gen­heit stei­gert sich aber zur Selbst­op­ti­mie­rung und führt zu patho­lo­gisch anmu­ten­dem Nar­ziß­mus, der sich per­ma­nent selbst bespie­gelt und über »sozia­le« Netz­wer­ke ver­zwei­fel­te Bot­schaf­ten in die Welt sen­det, die um Beach­tung und Wert­schät­zung flehen.

Für ein sinn­erfüll­tes Leben rei­chen aber selbst Tau­sen­de Likes nicht aus, denn sie blei­ben abs­trakt und erset­zen kei­ne Umar­mung. Und das Sich-Abar­bei­ten im Fit­neß-Cen­ter gleicht stu­pi­der Schuf­te­rei an dem ein­zi­gen, was einem noch ver­fü­gungs­si­cher scheint, dem eige­nen Kör­per, des­sen Schmied man sein möch­te, um sich – sozi­al­dar­wi­nis­tisch oder ästhe­tisch – bes­ser pla­zie­ren zu können.

Apro­pos Ästhe­tik: Wo es augen­fäl­lig eher nur noch dar­um geht, bleibt die Ethik sowie­so auf der Stre­cke, und der Schein ver­kleis­tert das Sein. Men­schen sind kaum mehr in Grup­pen oder – anti­quiert aus­ge­drückt – Kor­po­ra­tio­nen ein­ge­bun­den, son­dern, mar­xis­tisch for­mu­liert, »ver­ein­zel­te Ein­zel­ne«. Zudem dupli­zie­ren sie frei­zeit­lich den Streß, den sie aus ihrer beruf­li­chen Tätig­keit ken­nen, um wie­der­um rück­wir­kend auf den Job noch leis­tungs­fä­hi­ger zu werden.

Effi­zi­enz! Sie betrei­ben Sport nicht als qua­li­ta­tiv see­li­schen Aus­gleich, son­dern quan­ti­fi­zie­rend als Hoch­leis­tung, ver­mes­sen sich daher per­ma­nent und bil­den ihre Bilan­zen über diver­se Schnitt­schnel­len com­pu­ter­taug­lich ab, um sich dann an der Gra­phik nach oben wei­sen­der Kur­ven zu berau­schen, die einem stei­gen­den Akti­en­in­dex nach­ge­bil­det schei­nen. Selbst Yoga-Pro­gram­me sol­len »so rich­tig etwas austragen«.

Zusam­men­ge­faßt: Die Poli­tik wird kei­ne Ant­wor­ten auf Pla­ne­ten­ver­brauch und Beschleu­ni­gung fin­den, schon gar nicht als Demo­kra­tie, die ledig­lich uti­li­ta­ris­ti­sche Rege­lun­gen bereit­hält und sie für das ego­is­ti­schem Glücks­be­dürf­nis der Mehr­heit nach dem Mehr bereit­hält. Revo­lu­tio­nen? Gesche­hen nur aus der Not und pri­mär nicht aus Ideen. Wobei die Not ver­läß­li­cher wächst als die Ideen, sozu­sa­gen im Selbstlauf.

Wozu also die­ser Pro­blem­auf­riß, der ohne Lösungs­vor­schlag, ohne Per­spek­ti­ve auf­war­tet? Er ist ein Bei­spiel für das, was wir immer tun, wenn wir kein Land sehen: uns posi­tio­nie­ren, uns abgren­zen, ruhig über Urtei­le nach­sin­nen und am eige­nen Ort weit­ge­hend illu­si­ons­frei das Mög­li­che ver­su­chen und den Fol­gen den nächs­ten Schritt anpas­sen. Als sich die Lin­ke noch an Ernst Blochs »Prin­zip Hoff­nung« fest­las, setz­te dem der Reli­gi­ons­phi­lo­soph Hans Jonas mit pes­si­mis­ti­schem Lebens­ernst eine Phä­no­me­no­lo­gie ent­ge­gen, die eine Ethik der Ver­ant­wor­tung entwarf.

Jonas regis­trier­te den Zuwachs der Tech­nik, er sorg­te sich um deren ver­hee­ren­de Fern­wir­kung auf die Schöp­fung und prä­fe­rier­te eine »Heu­ris­tik der Furcht« im Sin­ne eines Kor­rek­tivs zum Bacon­schen Ide­al der wis­sen­schaft­li­chen Natur­be­herr­schung. Kapi­ta­lis­mus und Mar­xis­mus, so Jonas, begin­gen sys­tem­be­ding­te Feh­ler, indem sie Res­sour­cen nicht zu scho­nen ver­stün­den. An die­se wert­kon­ser­va­ti­ve und meta­phy­si­sche Begrün­dung von Ver­ant­wor­tung wäre anzu­knüp­fen. Ver­zweif­lung? Dazu war schon von Anfang an Anlaß genug. Wir brau­chen nicht erst jetzt damit anzufangen.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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