Kühle Reduzierungen klären Sachverhalte, gerade im Fragen nach Gründen. Und den Blick in Abgründe sollte man üben und aushalten lernen. Denn wir gehen, aufs Ganze betrachtet, aus zweierlei Ursachen erheblichen, vermutlich grundstürzenden Veränderungen entgegen.
I.
Wir verstoffwechseln den Planeten in forciertem Tempo, vor allem der Überzahl der Weltbevölkerung wegen. Dies wird innerhalb der nächsten zwei, drei Jahrzehnte scheinbar eher die Natur als uns betreffen, schließlich aber genau deswegen unsere Existenzgrundlagen unterminieren, so nicht – Wie aber? – eine nur mit apokalyptisch anmutender Reduzierung der Bevölkerung denkbare Veränderung einträte.
Ob die dystopisch erscheinende Sommerhitze der letzten Jahre, das mit ihr einhergehende Verdorren des Waldes und die Versteppung der Landschaft nun Ausdruck eines exponentiell verlaufenden Klimawandels sind oder nicht, als mythisch anmutende Illustration eines Abschieds vom Vertrauten paßt diese Entwicklungen ebenso wie das Artensterben. Erst die Mitgeschöpfe, dann wir. Wer die Natur liebt und draußen unterwegs ist, der registriert, welch unheimliche Veränderungen ablaufen. Uns wird erklärt, über innovative Lösungen ernähre die Erde alle, ihre Verletzungen wären heilbar.
Nur ist kein Weg auszumachen, über den das weltvernünftig global realisierbar erscheint, ganz abgesehen davon, daß auch »Innovationen« ingenieurtechnischer Intelligenz Ressourcen ausschöpfen und neue Schneisen schlagen werden. Es gehört zum mephistophelischen Teil unseres Menschheitsdramas, gar nicht anders zu können, als schöpferisch zu vernichten. Wir verfügten nur jahrtausendelang nicht über das Besteck, das so tief in die Natur zu schneiden und sie so brachial aufzubrechen vermag wie die gegenwärtig faszinierende, aber gleichsam grausige Technik.
Weil wir im weitesten Sinne durchweg – beinahe dialyseähnlich – an eine Menge lebenserhaltender Apparaturen angeschlossen sind, vergaßen wir unser Naturwesen, insofern beinahe nur noch der Tod selbst natürlich anmutet, mindestens in seinem letzten Augenblick. Alles andere, Geburt, Wachsen und Sterben, wird wissenschaftlich-industriell begleitet, so intensiv, daß sehr viele von uns nur dadurch überleben oder ein höheres Alter erreichen, sichtlich unfit und ernährt von steril eingeschweißter Super-Markt-Nahrung.
Ein Begriff des medizinisch-pharmazeutischen Komplexes mutet bezeichnend technoid an: Wir werden, je älter je mehr, mit Medikamenten »eingestellt«. Nur läßt sich die Natur selbst, läßt sich die uns bislang tragende Schöpfung nicht »einstellen«. Wo wir sie einzustellen versuchen, stirbt sie unter unserem Zugriff weg. Unsere bisweilen würdelose Todesverdrängung und ‑vermeidung geht zu Lasten der Mutter Natur.
»Etwas einstellen« heißt in parallellaufender Semantik auch: »etwas beenden«. Die Menschen der überbevölkerten Länder, mit denen wir solidarisch sein sollen oder wollen, streben eine Lebensweise an, die dem »Think big!« des Westens entspricht und im Kingsize-Format verbrauchen möchte. Es ist dagegen keine Aufklärung denkbar, schon gar nicht ausgehend von der SUV-Bourgeoisie der Industrieländer, deren Selbstherrlichkeit ihren gewohnten Bedürfnissen und ihren Fahrzeugen entspricht.
Die Biosphäre unseres Planeten droht in übergroßen Anteilen vernichtet und durchverdaut zu werden. Schon jetzt dürften wir die Erde – rein rechnerisch – mehrfach mit einem körperwarmen Fäkalienstrang umwinden können. Kein angenehmes Bild, beileibe nicht, aber ein eindrucksvolles. Und klar ist mir bewußt, daß ich selbst zum »Übermaß der Leiber« gehöre; das eben provoziert die nachdenkliche Reflexion.
Konservative und Grüne warnen gleichermaßen seit langem vor der Existenzgefährdung durch maßlosen Verbrauch. Während diese den weiteren Verlauf des Verhängnisses gewissermaßen volkserzieherisch – oder »zivilgesellschaftlich« – für regelbar halten, wissen jene letztlich um die Vergeblichkeit und handeln im Als-ob. Utopische Hoffnungen hier, fatalistische Einsicht ins Unausweichliche dort.
Die Grünen wollen didaktisch die ganze Weltgemeinschaft zur Bio-Ethik läutern, Konservative wissen, daß sie Verantwortung nur für sich und ihren engeren Bezirk übernehmen können: Maßhalten, Askese und Verzicht. Umkehr ist Abkehr, auch vom Wachstumsprinzip. Haltung verkörpert das Trotzdem.
II.
Die wirtschaftlichen und ebenso geistigen Reproduktionsprozesse zur Sicherstellung des Immer-Mehr laufen mittlerweile in einem so hochfrequenten Tempo ab, daß immer weniger Menschen mithalten können. Natürlicherweise nicht. Das beschleunigt Selektionsvorgänge.
Die technisch erforderten und zugleich erwünschten Intensivierungen und Informationsverarbeitungen bedingen, daß immer weniger gut ausgebildete und spezialisierte Hochleister eine immer größere Verwaltungsmasse mitversorgen, die in reicheren Ländern bislang noch komfortabel zu alimentieren ist.
Die Tonnagen an billigen Kohlenhydraten, Eiweißen und Fetten sichern vermutlich noch weiteren Milliarden Menschen das Leben oder Überleben – ein Geschäft, das wie jedes andere auf Profit ausgerichtet ist und nicht nach dem Sinn des den Planeten überfrachtenden Lebens fragt.
Die Lasterkolonnen mit Soja aus Amazonien rollen für die ganze Welt. Amazonien selbst spricht sich nur so sentimental aus, weil dessen Schicksal vermutlich besiegelt ist: Philemon und Baucis im Regenwald … Aber selbst wenn für genügend Billigfood gesorgt scheint, fehlt es immer mehr Menschen an Inspiration und qualifizierendem Selbstverständnis, die für ein seelisch gesundes Leben ebenso unabdinglich erscheinen wie etwa gesunde Ernährung und Bewegung für die Physis.
Lethargie, Tristesse und innere Leere gefährden die einen so, wie der Streß die anderen quält. Selektionsvorgänge laufen insofern nicht nur sozial, sondern ebenso lebenstechnisch ab. Wir folgen einer Maschinerie, die uns einen ahumanen und abiologischen Takt vorgibt. Nicht selten werden wir selbst zu Vehikeln des von uns entwickelten Vehikels.
Banales Beispiel: Erst nutzt die Bürogemeinschaft Windows 365, dann aber nutzt Windows 365 die Bürogemeinschaft und stellt sich am Ende als dreister Stressor heraus, der zwar alles erleichtern und Freiräume schaffen sollte, aber tatsächlich alles beschleunigt und Lebensraum wie Lebenszeit einengt. Die Teamsitzungen enden nicht mehr, sie verlaufen über Apps und Sharepoints weiter. Selbst nachts piept und blinkt es. Beinahe ein Wunder, daß es überhaupt noch dunkel wird. Irgendwo da draußen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, welch immense Bedeutung dem Drogenmarkt zukommt. Er existierte nicht ohne das symptomatische Bedürfnis nach so intensiver wie riskanter Hilfe dazu, sich selbst noch mehr hochzudrehen oder herunterzuregeln. Der Drogenkonsum, nach Sigmund Freud der kürzeste Weg zum Glück, ist an sich kein Verbrechen, sondern Ausdruck des natürlichen Bedürfnisses nach Ruhe und Behaglichkeit, nach Abstand und innerem Frieden, ja eigentlich ist die Sucht sogar verzweifeltes Selbstmanagement. Nur über die Wahl der Mittel und den Preis herrscht Uneinigkeit.
Arbeiten in weitgehend ruhiger Rhythmisierung sind kaum mehr denkbar. Im Beispiel: Die Landarbeit früherer Jahrzehnte, die den größten Teil der Bevölkerungen einband und versorgte, war zweifelsohne ein hartes Brot, aber keine entfremdete und überdrehte Tätigkeit, die über übliche existentielle Sorgen hinaus seelisch krank machte – zumal die Religion zu klären verstand, was an Gedanken übrigblieb, die weit über den Feldrain hinauseilten.
Und selbst innerhalb der Industrialisierung erschien den Arbeitern mit dem Produkt, der Produktion und sogar mit dem Unternehmen bzw. dem Unternehmer eine Identifizierung möglich, die heute geradezu romantisch anmutet. Die Arbeiterbewegung entwickelte in der Arbeiterschaft eine Kultur, die das ersetzte, was mit dem Übergang vom Lande in die Stadt zunächst verlorengegangen schien und vermißt wurde. Diese Kultur war geeignet, Arbeitsbelastungen auszugleichen. Wo geschieht dies heute?
Offenbar über eine trügerische Rettung in mehr Individualität. Diese Ichbezogenheit steigert sich aber zur Selbstoptimierung und führt zu pathologisch anmutendem Narzißmus, der sich permanent selbst bespiegelt und über »soziale« Netzwerke verzweifelte Botschaften in die Welt sendet, die um Beachtung und Wertschätzung flehen.
Für ein sinnerfülltes Leben reichen aber selbst Tausende Likes nicht aus, denn sie bleiben abstrakt und ersetzen keine Umarmung. Und das Sich-Abarbeiten im Fitneß-Center gleicht stupider Schufterei an dem einzigen, was einem noch verfügungssicher scheint, dem eigenen Körper, dessen Schmied man sein möchte, um sich – sozialdarwinistisch oder ästhetisch – besser plazieren zu können.
Apropos Ästhetik: Wo es augenfällig eher nur noch darum geht, bleibt die Ethik sowieso auf der Strecke, und der Schein verkleistert das Sein. Menschen sind kaum mehr in Gruppen oder – antiquiert ausgedrückt – Korporationen eingebunden, sondern, marxistisch formuliert, »vereinzelte Einzelne«. Zudem duplizieren sie freizeitlich den Streß, den sie aus ihrer beruflichen Tätigkeit kennen, um wiederum rückwirkend auf den Job noch leistungsfähiger zu werden.
Effizienz! Sie betreiben Sport nicht als qualitativ seelischen Ausgleich, sondern quantifizierend als Hochleistung, vermessen sich daher permanent und bilden ihre Bilanzen über diverse Schnittschnellen computertauglich ab, um sich dann an der Graphik nach oben weisender Kurven zu berauschen, die einem steigenden Aktienindex nachgebildet scheinen. Selbst Yoga-Programme sollen »so richtig etwas austragen«.
Zusammengefaßt: Die Politik wird keine Antworten auf Planetenverbrauch und Beschleunigung finden, schon gar nicht als Demokratie, die lediglich utilitaristische Regelungen bereithält und sie für das egoistischem Glücksbedürfnis der Mehrheit nach dem Mehr bereithält. Revolutionen? Geschehen nur aus der Not und primär nicht aus Ideen. Wobei die Not verläßlicher wächst als die Ideen, sozusagen im Selbstlauf.
Wozu also dieser Problemaufriß, der ohne Lösungsvorschlag, ohne Perspektive aufwartet? Er ist ein Beispiel für das, was wir immer tun, wenn wir kein Land sehen: uns positionieren, uns abgrenzen, ruhig über Urteile nachsinnen und am eigenen Ort weitgehend illusionsfrei das Mögliche versuchen und den Folgen den nächsten Schritt anpassen. Als sich die Linke noch an Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« festlas, setzte dem der Religionsphilosoph Hans Jonas mit pessimistischem Lebensernst eine Phänomenologie entgegen, die eine Ethik der Verantwortung entwarf.
Jonas registrierte den Zuwachs der Technik, er sorgte sich um deren verheerende Fernwirkung auf die Schöpfung und präferierte eine »Heuristik der Furcht« im Sinne eines Korrektivs zum Baconschen Ideal der wissenschaftlichen Naturbeherrschung. Kapitalismus und Marxismus, so Jonas, begingen systembedingte Fehler, indem sie Ressourcen nicht zu schonen verstünden. An diese wertkonservative und metaphysische Begründung von Verantwortung wäre anzuknüpfen. Verzweiflung? Dazu war schon von Anfang an Anlaß genug. Wir brauchen nicht erst jetzt damit anzufangen.