Das unsichtbare Böse

PDF der Druckfassung aus Sezession 92/Oktober 2019

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

1. Big Other

Der Roman­cier Jean Ras­pail hat sein Vor­wort der fran­zö­si­schen Neu­auf­la­ge sei­nes Heer­la­gers der Hei­li­gen (1973) im Jah­re 2011 mit »Big Other« über­schrie­ben. Wer soll die­ser »gro­ße Ande­re«, dem die­se Anspie­lung auf Orwells »Big Brot­her« gilt, sein? Ras­pail faßt mit die­ser Meta­pher zwei­er­lei: es ist der Ande­re und zugleich der Alles­über­wa­chen­de. Der Ande­re ist zunächst ein­mal der Fremd­ling, der Nicht­eu­ro­pä­er, der Nicht­fran­zo­se, der Immigrant.

Der Ande­re steht im Kol­lek­tiv­sin­gu­lar. Auf einem inzwi­schen zer­ris­sen an einem Strom­kas­ten in mei­ner Stra­ße hän­gen­den Pla­kat las ich 2015: »Es gibt kei­nen Flücht­lings­strom, son­dern viel­fäl­ti­ge Indi­vi­du­en.« Der Kol­lek­tiv­sin­gu­lar bie­tet zwei Bedeu­tun­gen an, die abwech­selnd aktua­li­siert wer­den: Ein­mal ist es das Kol­lek­tiv, Ras­pails Vor­hut der Mas­sen, die »Flücht­lin­ge« die­ser Welt, die Migran­ten im Schutz des Glo­bal Com­pact for Migra­ti­on, ihre Zahl ist uner­meß­lich, ein Naturereignis.

Ein ander­mal wird der Sin­gu­lar aktua­li­siert: das Ein­zel­schick­sal des syri­schen Mäd­chens mit sei­ner per­sön­li­chen Flucht­er­fah­rung und sei­nem Trau­ma. Zwi­schen bei­den Bedeu­tun­gen geschwind zu wech­seln ist zu einer mora­li­schen Stra­te­gie gewor­den. Doch wer fährt die­se Stra­te­gie und war­um? Die mora­li­sche Stra­te­gie insze­niert das Ein­zel­schick­sal, das sehr wohl real exis­tiert, von dem jedoch sofort unun­ter­scheid­ba­re Kopien pro­du­ziert wer­den, wie etwa das sie­ben­jäh­ri­ge »Alep­po girl« Bana Abed mit »sei­nen« Twit­ter-Bot­schaf­ten an die Welt.

Der Ande­re hat sei­ne Stell­ver­tre­ter. Die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin Sophie Lieb­nitz hat tref­fend von »Stell­ver­tre­ter­mi­no­ri­tä­ren« gespro­chen: Das sind Leu­te in den west­li­chen Natio­nen, die stell­ver­tre­tend für von ihnen favo­ri­sier­te Mino­ri­tä­ten ein­tre­ten, und sich ihrer – bis­wei­len auch gewalt­tä­tig – mora­lisch und poli­tisch anneh­men, wie man es bei den erbit­ter­ten Social Jus­ti­ce War­ri­ors an ame­ri­ka­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten erlebt.

Stell­ver­tre­ter­mi­no­ri­tä­re tre­ten auf als Pha­lanx von »Medi­en­ma­chern, Show-Biz-Leu­ten, Künst­lern, Men­schen­recht­lern, Aka­de­mi­kern, Sozio­lo­gen, Leh­rern, Lite­ra­ten, PR-Pro­fis, Juris­ten, Links­chris­ten, Bischö­fen, Wis­sen­schaft­lern, Psy­cho­lo­gen, Radi­kal­hu­ma­ni­tä­ren, Poli­ti­kern, Ver­ei­nen, Genos­sen­schaf­ten, was-weiß-ich …« (Jean Ras­pail), NGO-Akti­vis­ten nicht zu ver­ges­sen. Sie haben sich meu­ten­för­mig, also eben­falls als Kol­lek­tiv, in den Dienst des Ande­ren gestellt.

Sie ver­tei­di­gen sei­ne Men­schen­rech­te erbit­tert gegen jeden, der es wagt, die Auto­chtho­nen der west­li­chen Natio­nen, ihre ange­stamm­te Hei­mat, ihre Völ­ker für exis­tent zu hal­ten, geschwei­ge denn zu ver­tei­di­gen, und sei es mit melan­cho­li­schen Wor­ten. Ihre Über­wa­chungs­men­ta­li­tät äußert sich in dem, was unter dem Stich­wort poli­ti­cal cor­rect­ness seit den 90er Jah­ren bekannt gewor­den ist: im Namen des mora­lisch Guten poli­ti­sche Geg­ner zu bekämpfen.

Big Other ist mit­hin das Kol­lek­tiv der Mas­sen­mi­gran­ten und die tota­li­tä­re Feind­er­klä­rung gegen­über Kri­ti­kern der Mas­sen­mi­gra­ti­on im ange­maß­ten Namen die­ses Kol­lek­tivs. Die Big-Other-Logik sub­jek­ti­viert ein his­to­ri­sches Ereig­nis, bricht es her­un­ter auf lau­ter abs­trakt gedach­te betrof­fe­ne Men­schen. Der his­to­risch-poli­ti­sche Blick hin­ge­gen ist objek­ti­vie­rend, er führt weg vom Ein­zel­schick­sal. Das bedeu­tet: Wer in Geschich­te denkt, denkt nicht in Geschichten.

Das bedeu­tet aber auch: Man kann nur sub­jek­tiv-ahis­to­risch oder objek­tiv-his­to­risch den­ken. Beob­ach­tet man aus einer poli­ti­schen (oder his­to­ri­schen, sozio­lo­gi­schen, eth­no­gra­phi­schen) Per­spek­ti­ve die Mas­sen­ein­wan­de­rung, sieht man eine sozia­le Ver­schie­bung, ein Groß ereig­nis, »feind­li­che Über­nah­me« (Thi­lo Sar­ra­zin), und nicht lau­ter Rechtssubjekte.

Der ein­zel­ne Afri­ka­ner als poten­ti­el­ler oder rea­ler Migrant wird zum indi­vi­du­el­len Rechts­sub­jekt, für den laut neu­es­ter EU-Par­la­ments­ent­schlie­ßung gilt, »dass Per­so­nen, die durch die Fol­gen des Kli­ma­wan­dels ver­trie­ben wer­den, ein spe­zi­el­ler inter­na­tio­na­ler Schutz­sta­tus gewährt wer­den soll­te«. Spä­tes­tens durch die Aner­ken­nung von »Kli­ma« als Asyl­grund hebt sich die Seman­tik der Sub­jek­ti­vie­rung sel­ber auf: Die Zahl von »244 Mil­lio­nen frei­wil­li­gen und unfrei­wil­li­gen inter­na­tio­na­len Migran­ten« kann nicht mehr sinn­voll auf Sub­jek­te gerech­net werden.

Quan­ti­tät schlägt an einem nicht sel­ber quan­ti­ta­tiv bestimm­ba­ren Punkt um in Qua­li­tät: Mil­li­ar­den Ein­zel­schick­sa­le sind nicht län­ger als Ein­zel­schick­sa­le greif­bar. Oder para­dox aus­ge­drückt: Wenn jeder Mensch zum Sub­jekt wird, kann kein Mensch mehr Sub­jekt sein. Die­ser fata­le Feh­ler hat Sys­tem. Es ver­hält sich mit ihm wie bei einem Vexier­bild oder Kipp­bild: Der Betrach­ter kann nur eines von bei­den Bil­dern zur Zeit wahr­neh­men, faßt er das eine in den Blick, ist das ande­re unsichtbar.

Die Big-Other-Logik ist so ein Kipp­bild, des­sen Funk­ti­on es ist, eine umfas­sen­de Gestalt­wahr­neh­mung der Gegen­wart unmög­lich zu machen. Wer nur Sub­jek­te sehen kann, sieht kei­nen his­to­ri­schen Pro­zeß und vice ver­sa. Die beson­de­re Hin­ter­list die­ser Logik steckt dar­in, daß jeder von uns in sei­nem Leben bereits per­sön­li­che Begeg­nun­gen mit weit­ge­reis­ten Frem­den oder ihren Kin­dern hat­te, und wohl kaum jemand nicht wenigs­tens ein, zwei­mal die­se Begeg­nung als ganz natür­lich, posi­tiv, eben als indi­vi­du­el­le mensch­li­che Begeg­nung erlebt hat.

Was auch sonst? Mora­li­sche Erpres­sung setzt an die­ser exis­ten­ti­el­len Stel­le an. Jeder Ein­zel­ne, näh­me man ihn aus der Welt­be­völ­ke­rung her­aus, wäre in der per­sön­li­chen Begeg­nung unser Nächs­ter, mit ihm könn­te eine Begeg­nung mög­lich sein, er wäre dann nicht mehr der Ande­re. Er wäre es, im Kon­junk­tiv Irrealis.

Die­ser Kon­junk­tiv Irrea­lis, das Als-Ob, die mora­li­sche Fik­ti­on, führt dazu, daß wir einer­seits mora­lisch mehr zu leis­ten imstan­de sind als eine blo­ße Stam­mes­mo­ral her­gibt, und daß wir ande­rer­seits mora­lisch kom­pro­mit­tier­bar sind. Eine Stam­mes­mo­ral sagt ihren Mit­glie­dern: Wir gehö­ren zusam­men, die Ande­ren gehö­ren nicht zu uns, ihr Schick­sal braucht uns nicht zu kümmern.

In einer Stam­mes­mo­ral ist die Denk­ope­ra­ti­on »Wäre die­ser wild­frem­de Mann eigent­lich mein Nächs­ter?« unmög­lich: Er ist es, oder er ist es nicht. Der Grund dafür, daß wir erpreß­bar sind, daß Big Other uns seit eini­gen Jahr­zehn­ten mit stei­gen­dem Druck im Griff haben kann, liegt just in der Abs­trak­ti­ons­leis­tung: wir müs­sen stän­dig vom Sub­jekt zum All­ge­mei­nen und zurück wech­seln, uns der Kipp­fi­gur ausliefern.

Hilft Objek­ti­vie­ren gegen den Sub­jek­ti­vie­rungs­zwang? Es läge nahe, hier einen Aus­weg zu sehen: das Welt­ereig­nis Migra­ti­on zu pro­ble­ma­ti­sie­ren, sei­ne Zeit in Gedan­ken zu erfas­sen, wis­sen­schaft­lich die geo­po­li­ti­schen Ver­schie­be­mas­sen zu deu­ten, his­to­risch-poli­tisch statt sub­jek­tiv zu den­ken. Vom Big Other wird die­ses Vor­ge­hen prompt als Pro­duk­ti­on von hate facts ver­un­glimpft, und weil Big Other abs­trakt ist, kann man ihn nicht ein­mal als poli­ti­schen Feind bekämpfen.

Nicht die Frem­den sind das Böse, son­dern die Mas­sen­ein­wan­de­rung und deren mora­li­sche Hypo­sta­sie­rung. Wan­de­rungs­be­we­gun­gen im his­to­risch gro­ßen Stil sind nicht per se böse, son­dern ihr Gebrauch als geo­po­li­ti­sches Instru­ment, um die soge­nann­ten Auf­nah­me­län­der zu desta­bi­li­sie­ren, ist böse.

Wan­de­rer wie Heim­ge­such­te wer­den glei­cher­ma­ßen ihrer Zuge­hö­rig­keit und Iden­ti­tät beraubt, ohne daß dabei jemals auf der Ebe­ne poli­ti­scher oder per­sön­li­cher Zustim­mung oder Ableh­nung rea­le Ent­schei­dun­gen statt­ge­fun­den hät­ten. Doch ist es über­haupt legi­tim, in poli­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten vom »Bösen« zu sprechen?

2. Freund / Feind und Gut / Böse

Sozia­le Sys­te­me sind dem Sozio­lo­gen Niklas Luh­mann zufol­ge Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­te­me. Sie haben sich in der moder­nen Gesell­schaft aus­dif­fe­ren­ziert in getrenn­te Sphä­ren mit jeweils spe­zi­fi­schen pola­ren Grund­be­grif­fen. Der Rechts­theo­re­ti­ker Carl Schmitt unter­schei­det am Beginn sei­ner berühm­ten Schrift Der Begriff des Poli­ti­schen (1933) ganz ähn­lich bereits die Auto­no­mien der ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Sphä­ren und ihrer je eige­nen Gegen­satz­paa­re: der Kunst (schön / häß­lich), der Moral (gut / böse), der Öko­no­mie (nütz­lich / schäd­lich) und der Poli­tik (Freund / Feind), von denen aus Zuflucht ins »All­ge­mein­mensch­li­che« genom­men wird. Dem Poli­ti­schen, so argu­men­tiert er, scha­de das enorm.

Sein genui­ner Bereich ist eben­so durch Mensch­heits­pa­thos gefähr­det wie durch öko­no­mi­sche Über­grif­fe. Jede Sphä­re ist eine Sphä­re sui gene­ris. Den poli­ti­schen Feind, auch wenn dies psy­cho­lo­gisch nahe­liegt, als häß­lich oder böse zu mar­kie­ren, über­schrei­tet die Gren­ze des Poli­ti­schen. Für Luh­mann ist Moral ein im Grun­de pole­mo­ge­ner Begriff: Moral hat kein eige­nes sozia­les Sys­tem aus­dif­fe­ren­ziert, son­dern dockt über­all an, um Zank und Streit zu erzeugen.

Dies geschieht, weil die Codes der Sys­te­me (recht / unrecht, wahr / falsch, schön / häß­lich, und eben auch Freund / Feind – Luh­mann spricht auch von Macht / Ohn­macht oder Regie­rung / Oppo­si­ti­on als binä­ren Begrif­fen des Poli­ti­schen), mora­lisch über­co­diert wer­den. Das funk­tio­niert so: Die Posi­tiv­po­le (recht, wahr, schön, Freund usw.) wer­den mit »gut« auf­ge­wer­tet, die Nega­tiv­po­le mit »böse« (unrecht, falsch, häß­lich, Feind usw.) abgewertet.

Wenn der poli­ti­sche Feind nicht mehr gedacht wer­den kann, weil Feind­schaft »böse« ist, und nur Völ­ker­freund­schaft erklär­ter­ma­ßen zum Welt­frie­den führt, hat dies fata­le Aus­wir­kun­gen auf die Poli­tik sel­ber. Die Poli­tik nutzt die mora­li­sche Über­co­die­rung. Sie sug­ge­riert damit, selbst das Gute zu reprä­sen­tie­ren – hin­ter die­sem ima­gi­nä­ren Guten jedoch ver­steckt sich das Böse.

Das Feh­len eines sicht­ba­ren Bösen wird durch den Auf­bau eines Feind­bil­des kom­pen­siert. Die jewei­li­gen Polit­ak­teu­re bestä­ti­gen ihr eige­nes Gut­sein dadurch, daß sie den poli­ti­schen Geg­ner böse nen­nen. Dies ist indes eine ima­gi­nä­re, schein­mo­ra­li­sche Ebe­ne, eine Pro­jek­ti­on des Bösen. Der Kampf zwi­schen Gut und Böse fin­det der­weil auf einer ande­ren Ebe­ne statt, die aller­dings durch jene mora­li­sche Schein­ebe­ne ver­deckt wird, die vor­gibt, die ech­te zu sein.

Wenn uns also Schmitt und Luh­mann ein­drück­lich davor war­nen, gut / böse zur Ste­reo­ty­pi­sie­rung von poli­ti­schen Akteu­ren zu ver­wen­den, lie­gen sie rich­tig: Der Code mora­li­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on ist höchst mani­pu­la­tiv. Das ist der Grund, wes­halb Luh­mann die schlich­te Fra­ge stellt: »Müs­sen wir denn Tag für Tag hin­neh­men, daß die Poli­ti­ker der Regie­rungs- und Oppo­si­ti­ons­par­tei­en sich ver­bal­mo­ra­lisch bekämp­fen obwohl wir, Demo­kra­tie rich­tig ver­stan­den, gar nicht auf­ge­for­dert sind, zwi­schen ihnen unter Gesichts­punk­ten der Moral zu wäh­len?« Wer ist denn der Feind?

Für Carl Schmitt ist es »eine um ihre Exis­tenz kämp­fen­de Gesamt­heit von Men­schen, die einer eben­sol­chen Gesamt­heit gegen­über­steht«. Klas­sisch ste­hen sich Staat und Staat gegen­über oder inner­halb ein und des­sel­ben Staats­we­sens Regie­rung und Oppo­si­ti­on als (zwar ein­ge­heg­te, aber doch latent dahin ten­die­ren­de) Bür­ger­kriegs­par­tei­en. Was aber, wenn der Geg­ner kei­ne exis­ten­ti­ell bedroh­li­che Men­schen­grup­pe ist, son­dern ein dif­fu­ser Kom­plex aus Men­schen­mas­sen und sie kom­mu­ni­ka­tiv über­wöl­ben­de und real ver­schie­ben­de poli­ti­sche Agenden?

Die Arma­da der Elen­den, die Jean Ras­pail in sei­ner Erzäh­lung schil­dert, aber auch die heu­ti­gen Ver­schie­be­mas­sen, Dschi­ha­dis­ten und Glücks­rit­ter sind zwar um ihre Exis­tenz kämp­fen­de Gesamt­hei­ten von Men­schen, jedoch nicht »poli­tisch orga­ni­siert«, wie Schmitt betont hat. Big Other ist kei­ne poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on, son­dern wenn man so will eine mora­lisch-ima­gi­nä­re, oder über­haupt kei­ne Orga­ni­sa­ti­on, ein dif­fu­ses Gebil­de aus Mas­sen also, die nur als leben­di­ge Grund­la­ge gro­ßer ideo­lo­gi­scher Ver­ein­nah­mun­gen her­hal­ten müssen.

Wir haben anhand von Ras­pails Big Other sehen kön­nen, daß die­ser kein greif­ba­rer Geg­ner ist, kein Kampf von gleich zu gleich mit ihm mög­lich ist, da er abs­trakt ist und jeden poten­ti­el­len Geg­ner in ste­ti­ges Wech­seln zwi­schen Sub­jek­ti­vie­rung und Objek­ti­vie­rung treibt. Wer ihn bekämp­fen will, wird all­zu schnell irre­ge­führt: Plötz­lich erschei­nen die Migran­ten als Inva­so­ren, der Islam als Isla­mi­sie­rung oder Ange­la Mer­kel als zu exe­ku­tie­ren­der Feind und wer­den als »böse« mar­kiert. Sie wer­den zum sicht­ba­ren, damit greif­ba­ren und angreif­ba­ren Gegnersurrogat.

Big Other hat die­se Abwehr­re­ak­tio­nen mit ein­ge­rech­net: Rasch wird Abwehr poli­tisch dämo­ni­siert als »Haß« und »Men­schen­ver­ach­tung«. Schmitt hat genau das gemeint, als er die poli­ti­sche Dif­fe­renz von der mora­li­schen unter­schie­den hat: Der poli­ti­sche Oppo­nent kann nicht »böse« sein, und wenn er so geframed wird, han­delt es sich um mora­li­sche Mani­pu­la­ti­on, dazu ange­tan, den poli­tisch Han­deln­den vom poli­ti­schen Han­deln abzulenken.

Wenn der Geg­ner nicht »die Lin­ken«, »der Islam« oder gar »die Aus­län­der« sind, son­dern dif­fu­se, abs­trak­te Eli­ten, dann haben wir es nicht län­ger mit dem schmitt­schen Freund / Feind jen­seits von gut / böse zu tun, son­dern mit dem Bösen auf einer höhe­ren Ebene.

3. Neue Welt­ord­nung, Eli­ten, Agen­den, Kräfte

Jetzt wird es schwie­rig: Der unsicht­ba­re Geg­ner ent­zieht sich unse­rem poli­ti­schen Blick. Wal­ter Lipp­mann hat­te bereits 1922 in Die öffent­li­che Mei­nung nüch­tern erklärt, daß eine intak­te Demo­kra­tie stets aus zwei Klas­sen bestehe: Die sehr klei­ne Klas­se der »Spe­zia­lis­ten« wird aktiv mit den Ange­le­gen­hei­ten des All­ge­mein­wohls betraut. Die­se Män­ner ana­ly­sie­ren die Lage der Nati­on und tref­fen Ent­schei­dun­gen auf poli­ti­scher, wirt­schaft­li­cher und ideo­lo­gi­scher Ebene.

Ihr gegen­über ste­he die Klas­se der den Spe­zia­lis­ten über­las­se­nen »Hand­lungs­ob­jek­te«, nach Lipp­mann die »ver­wirr­te Her­de«, vor deren Getram­pel und Gelärm die Spe­zia­lis­ten geschützt wer­den müß­ten. In einer funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tie hat die Mas­se der Men­schen (»die Her­de«) laut Lipp­mann ledig­lich die Befug­nis, die Spe­zia­lis­ten zu wäh­len und den Rest der Zeit mit »Gra­sen« zu verbringen.

Lipp­man for­der­te, daß nur die spe­zia­li­sier­te Klas­se für die »Her­aus­bil­dung einer gesun­den öffent­li­chen Mei­nung« Sor­ge tra­gen dür­fe, weil die Öffent­lich­keit ledig­lich aus »unwis­sen­den und zudring­li­chen Außen­sei­tern« bestehe. Lipp­mann lie­fert nicht etwa die Beschrei­bung einer Ver­falls­form des Poli­ti­schen. Demo­kra­tie ist per se Schein­de­mo­kra­tie, Mani­pu­la­ti­on ihr natür­li­ches Verfahren.

Er bewun­der­te »den Vor­teil« zen­tra­ler poli­ti­scher Beein­flus­sung der Mas­sen nach dem Vor­bild des Polit­bü­ros der Sowjet­uni­on. Die Öffent­lich­keit kön­ne mit ihrer Hil­fe für poli­ti­sche Zie­le gewon­nen wer­den, die sie im Grun­de ableh­ne. Die­se Mani­pu­la­ti­on der Mas­sen sei not­wen­dig, da »das Inter­es­se des Gemein­we­sens sich der öffent­li­chen Mei­nung völ­lig ent­zieht« und nur von soge­nann­ten ver­ant­wort­li­chen Män­nern getra­gen wer­den dürfe.

Gegen Ende des Ers­ten Welt­krie­ges wur­de Lipp­mann für die US Army in Lon­don sta­tio­niert und ver­faß­te dort Flug­blät­ter, die hin­ter den feind­li­chen Lini­en abge­wor­fen wur­den. In die­ser Zeit ernann­te ihn der US-Kriegs­mi­nis­ter zum Gene­ral­se­kre­tär einer gehei­men Stu­di­en­grup­pe, die den kom­men­den Frie­dens­ver­trag vor­be­rei­ten soll­te – und damit letzt­lich die Welt­nach­kriegs­ord­nung. Die Stu­di­en­grup­pe war orga­ni­sa­to­risch und per­so­nell ein direk­ter Vor­läu­fer des 1921 gegrün­de­ten Coun­cil on For­eign Rela­ti­ons, wo bis heu­te und mit gro­ßem Erfolg die Sicht­wei­se eines maß­geb­li­chen Teils der US-Geld- und Kon­zer­neli­te in ame­ri­ka­ni­sche Außen­po­li­tik über­setzt wird.

In die­sem Gre­mi­um ent­stand US-Prä­si­dent Wood­row Wil­sons berühm­ter 14-Punk­te-Plan, laut Lipp­mann der Ver­such, ein »gemein­sa­mes Bewußt­sein in der gan­zen Welt anzu­bah­nen«. Wohl­ge­merkt – Wal­ter Lipp­mann hält dies für ein erstre­bens­wer­tes Ziel. Doch wie wird die­ses Ziel ver­wirk­licht? Wer hat die Macht dazu? Lipp­mans »Spe­zia­lis­ten« sind ihrer­seits kei­ne frei­en Entscheider.

Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge hat 2012 in sei­nem luzi­den Büch­lein »Neue Welt­ord­nung« – Zukunfts­plan oder Ver­schwö­rungs­theo­rie? die his­to­ri­sche Ent­wick­lung die­ser wil­son­schen Bewußt­seins­an­bah­nung in sehr kon­kre­ten inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen nach­voll­zo­gen. Sein Aus­gangs­punkt ist die fort­schrei­ten­de Ent­mach­tung der Natio­nal­staa­ten durch supra­na­tio­na­le Insti­tu­tio­nen wie die UNO als Nach­fol­ger von Wil­sons Völ­ker­bund, IWF und Welt­bank, die WTO, die EU, die NATO, das oben genann­te CFR und sein Able­ger Euro­pean Coun­cil on For­eign Rela­ti­ons und zahl­rei­che andere.

Er stellt fest, »daß eine ein­mal eta­blier­te Orga­ni­sa­ti­on die­ser Art prak­tisch kaum mehr zu ändern ist, jeden­falls nicht auf Initia­ti­ve ein­zel­ner Akteu­re oder Staa­ten hin.« Die dadurch ent­ste­hen­de »Neue Welt­ord­nung« als »Ver­schwö­rungs­theo­rie« – die­ses Schlag­wort wur­de übri­gens von der CIA nach dem Ken­ne­dy-Mord geprägt, um den Gedan­ken, es könn­te womög­lich tat­säch­lich nam­haft zu machen­de Draht­zie­her dahin­ter geben, lächer­lich zu machen, die dar­auf­hin als eli­tä­re Grup­pe unbe­scha­det mit ihrem Tun fort­fah­ren – zu derea­li­sie­ren, ist Klei­ne-Hart­la­ge zufol­ge ganz unnötig.

Man sehe auf der Ober­flä­che ohne­hin, was geschieht. Man brau­che nur den besag­ten Eli­ten die­je­ni­gen Zie­le, zu denen sie selbst sich beken­nen, zuzu­schrei­ben und dann die Fra­ge zu stel­len, wozu dies nun gesche­hen soll und bereits geschieht. Denn dies führt auf die Ebe­ne der Ziel­set­zun­gen hin­ter oder ober­halb der mani­fes­ten Ober­flä­che der Öko­no­mie und der Poli­tik. Schaut man auf ein Phä­no­men, kann man fra­gen, was sich in die­sem Phä­no­men mani­fes­tiert, wovon es Aus­druck ist.

Die­se Denk­wei­se ist nicht auf eine son­der­ba­re Wei­se ver­schwö­rungs­theo­re­tisch, son­dern der gewöhn­li­che Blick eines Arz­tes, der ein Sym­ptom bemerkt und des­sen Ursa­che her­aus­fin­den will, oder eines Sozio­lo­gen, der ein bestimm­tes Ver­hal­ten auf sei­ne kol­lek­ti­ven Moti­ve zurück­füh­ren will. »Was ist der Fall und was steckt dahin­ter?«, frag­te sich der nicht gera­de der okkul­ten Geheim­nis­krä­me­rei ver­däch­ti­ge Luh­mann in einer gleich­na­mi­gen Vor­le­sung und gab die logi­sche Ant­wort: »Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahin­ter – näm­lich die Unter­schei­dung von dem, was nicht bezeich­net wird, wenn etwas bezeich­net wird.«

Wenn bei­spiels­wei­se ein Mar­xist annimmt, hin­ter der soge­nann­ten Migra­ti­ons­kri­se ste­cke die Geschich­te von Klas­sen­kämp­fen – was wird damit dann gera­de nicht bezeich­net? Und wenn ich nun annäh­me, hin­ter der »Gro­ßen Wan­de­rung« (Hans Magnus Enzens­ber­ger) steck­ten Plä­ne einer glo­ba­lis­ti­schen Eli­te zur Errich­tung der Neu­en Welt­ord­nung, und noch dahin­ter grö­ße­re geis­ti­ge Bewe­gungs­im­pul­se, dann bräuch­te ich mit Luh­mann die­se Beob­ach­tung nicht als Wahr­heit zu verkaufen.

Ich könn­te sie als »dif­fe­rence that makes a dif­fe­rence« (Geor­ge Spen­cer Brown), eben als mei­ne Beob­ach­tung, hand­ha­ben. Wis­send, daß sie einen blin­den Fleck hat wie jede Beob­ach­tung, daß sie eben eine Per­spek­ti­ve ist. Doch die Sache hat einen Haken. So schnell läßt einen Big Other nicht von der Angel.

Wenn ich mit mei­ner »Ver­schwö­rungs­theo­rie« (wofür es bezeich­nen­der­wei­se kei­nen Posi­tiv­be­griff gibt) daher­kom­me, reicht es nicht aus, daß ich dafür kei­ne abso­lu­te Wahr­heit bean­spru­che, son­dern frei her­aus zuge­be, daß die­se natür­lich eine Per­spek­ti­ve ist, eine Denk­mög­lich­keit. Jean Ras­pail gebraucht in sei­nem Roman Das Heer­la­ger der Hei­li­gen als wie­der­keh­ren­des Motiv die Fra­ge »Viel­leicht ist das eine Erklä­rung?« – doch sol­che Erklä­rungs­ver­su­che wer­den verunmöglicht.

Big Other ver­langt, daß der blin­de Fleck sich über die gan­ze Beob­ach­tung erstre­cken und sie aus­lö­schen soll. Auch hier wer­de ich als Beob­ach­ter gezwun­gen, die Ebe­nen zu wech­seln: mei­ne Beob­ach­tung oszil­liert zwi­schen poli­tisch Sicht­ba­rem und dahin­ter­ste­cken­dem Unsichtbaren.

Wenn Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge die The­se ver­tritt, man brau­che doch bloß zu »unter­stel­len«, was die gro­ßen Akteu­re in EU- und UN-Papie­ren sel­ber offen­le­gen, Lis­ten von relia­ble allies, Migra­ti­ons- und Flücht­lings­pakt­ver­öf­fent­li­chun­gen und framing manu­als öffent­lich-recht­li­cher Sen­de­an­stal­ten, dann über­läßt er es klug dem Leser, sel­ber eins und eins zusam­men­zu­zäh­len und sich zu über­le­gen, wozu bestimm­te Plä­ne der Öffent­lich­keit bekannt gemacht werden.

Allein die Denk­mög­lich­keit, eine Ebe­ne jen­seits der Ober­flä­che anzu­neh­men, auf der es Plä­ne, Agen­den, Akteu­re, Kräf­te geben könn­te, mit­hin »Ver­schwö­rungs­theo­rien« für berech­tig­te Erkennt­nis­an­sät­ze hal­ten zu wol­len, führt ins sozia­le Abseits. Der Anpas­sungs­druck des Big Other bestimmt auch hier wie­der die mög­li­che Wahr­neh­mung, auch die Wahr­neh­mung von etwa­igen Aus­we­gen aus der Mise­re, die aber dadurch unpas­sier­bar werden.

4. He who must not be named – das gro­ße Tier

In Pla­tons Staat erzählt Sokra­tes den Mythos vom »Gro­ßen Tier«: Man stel­le sich vor, jemand hiel­te sich eine gro­ße und gewal­ti­ge Bes­tie, und spür­te ihrem Ver­hal­ten nach und nach ab, wie sie zu behan­deln sei. Dies zu tun hie­ße den­ken und han­deln in Über­ein­stim­mung mit den Vor­ur­tei­len und Refle­xen der Mas­se, zum Nach­teil jedes per­sön­li­chen For­schens nach der Wahr­heit und dem Guten.

Wie kann nun unser­ei­ner über­haupt auf die Idee kom­men, daß die Neue Welt­ord­nung, defi­niert als freie welt­wei­te Bewe­gung von Waren, Kapi­tal, Dienst­leis­tun­gen und Men­schen eine Ver­kör­pe­rung des Gro­ßen Tie­res wäre?
Gemein­sam ist allen glo­ba­len Ver­schie­be­ope­ra­tio­nen (Waren, Kapi­tal, Dienst­leis­tun­gen, Men­schen) ihr extre­mer Grad an Abstraktion.

Die letzt­ge­nann­te Ver­schie­bungs­ope­ra­ti­on, die Ver­schie­bung von Men­schen, aber legt die Axt an prak­tisch alles, was seß­haf­te Kul­tu­ren her­vor­ge­bracht haben, wie es in einem Kom­men­tar auf sezession.de tref­fend for­mu­liert war. Men­schen auf dem Glo­bus zu bewe­gen ist etwas fun­da­men­tal ande­res als Waren und Geld zu bewegen.

Ein Mensch ist nicht im ent­fern­tes­ten mit einer Ware ver­gleich­bar, er ist »ein gro­ßes Wun­der«, wie Pico del­la Miran­do­la in einer berühm­ten Rede stau­nend bemerk­te. Er blüht in einem kon­kre­ten Raum und einer kon­kre­ten Zeit, ist in sei­ner Iden­ti­tät mit die­sen Ver­hält­nis­sen eng verwoben.

Nun soll er – um sei­ner Selbst­ver­wirk­li­chung wil­len – sei­ne Her­kunft hin­ter sich las­sen, sich auf den Weg machen und irgend­wo auf der Welt den Ort fin­den, der ihm im Augen­blick die meis­ten Vor­tei­le bie­tet, um, wie man sagt, »sein Poten­ti­al opti­mal zu entfalten«.

Als moder­ner Noma­de im hotel24 abzu­stei­gen, sei­ne Fol­lower stets dabei zu haben, ihnen stän­dig den eige­nen Sta­tus zu mel­den und als »Any­whe­re« ober­halb der »Some­whe­res« (Alex­an­der Gau­land) sich zu bewe­gen und über­all und nir­gends zuhau­se zu sein: Das ist mitt­ler­wei­le zum Lebens­stil einer recht gro­ßen Schicht von Men­schen gewor­den, einer »blin­den Eli­te« im Sin­ne des ame­ri­ka­ni­schen Sozio­lo­gen Chris­to­pher Lasch.

Die mög­li­chen mate­ri­el­len Annehm­lich­kei­ten, die die­se neue noma­di­sche Lebens­wei­se mit sich bringt, wer­den mit dem Ver­lust der Hei­mat bezahlt, dem Ver­lust der Ver­wur­ze­lung, auch der Gebor­gen­heit und Hül­le, die ein Gemein­we­sen dem Men­schen bie­tet. Letzt­lich wer­den durch die­sen Pro­zeß also die den Men­schen ber­gen­den und tra­gen­den Gemein­we­sen selbst zerstört.

Um es genau­er zu sagen: Es wird mein Gemein­we­sen zer­stört, mein Volk, mei­ne Hei­mat, mein Ort, weil dies alles zu den Haupt­zie­len die­ser Migra­ti­ons­be­we­gun­gen gehört. Glo­ba­lis­mus, soweit der Begriff die freie Migra­ti­on von Men­schen und ein »uni­ver­sel­les Nie­der­las­sungs­recht« beinhal­tet, ist ein Angriff auf das Wesen des Vol­kes an sich und daher nicht mit frü­he­ren Ein­schmelz­vor­gän­gen ver­gleich­bar, die immer die Völ­ker zwar ver­än­dert, aber in ihrem Kern doch intakt gelas­sen haben.

Dies muß ver­hin­dert wer­den, nicht bloß hin­aus­ge­zö­gert. Bei Stra­fe des Unter­gangs. Die­sen Zusam­men­hang nicht nur nicht zu bemer­ken, son­dern sich in sei­nen Dienst zu stel­len, ist genau das, was das gro­ße Tier ein­for­dert. Der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Renaud Camus bil­de­te das Kunst­wort »le fau­xel«, das er von »faux« = »falsch« abge­lei­tet hat, und ana­log zu »réel« = »rich­tig, real«, gebil­det hat: fal­sche Rea­li­tät, ein­ge­bil­de­te Wirk­lich­keit, das Manipulative.

Le fau­xel wirkt auf das mora­li­sche Urteils­ver­mö­gen der Leu­te. Es dres­siert sie dazu, kol­lek­tiv dem gro­ßen Tier gehor­sam zu sein, statt des­sen Vital­funk­tio­nen zu erken­nen. Das Grau­en vor der Bes­tie ist besei­tigt bei den­je­ni­gen, die das Tier pfle­gen. Sie glau­ben auf­rich­tig, die Neue Welt­ord­nung brin­ge doch den ewi­gen Frie­den ohne Gren­zen für alle Menschen.

Ihnen erscheint nichts als »böse«, außer den­je­ni­gen, die sich gegen das Tier weh­ren: Die­se wer­den dann im »Kampf gegen Rechts« und gegen »Popu­lis­mus« als »Nazis« oder »Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker« mit dem Bösen gleich­ge­setzt. Die­ser Ersatz­geg­ner ist als innen­po­li­ti­scher Bür­ger­kriegs­feind mora­lisch über­co­diert, gegen ihn kön­nen die tier­pfle­gen­den bien­pens­ants »gut« sein.

Woher neh­me ich den hef­ti­gen und bestän­di­gen Impuls des Grau­ens vor dem gro­ßen Tier, vor dem fau­xel? Es ist weni­ger das detail­lier­te Wis­sen um das Dahin­ter­ste­cken­de, weni­ger die aus­ge­feil­te Theo­rie, auch kein Ein­ge­weiht­sein in okkul­te Zusam­men­hän­ge. Es ist eine pla­to­ni­sche Tugend des Phi­lo­so­phen: die Lie­be zur Wahr­heit, nicht zu ver­wech­seln mit dem Bereits-gefun­den-Haben der Wahrheit.

Simo­ne Weil ver­knüpft die­se Wahr­heits­lie­be mit dem Dienst am wah­ren Gott. Das ist schwie­rig zu begrei­fen, noch schwie­ri­ger als mei­ne oben begon­ne­ne Über­le­gung zu unsicht­ba­ren geschichts­be­stim­men­den Kräf­ten. »Und die­ses Böse, vor dem einem graut, liebt man zugleich, weil es aus Got­tes Wil­len vor­han­den ist« – was kann das heißen?

Imstan­de zu sein, die­ses Grau­en vor dem Bösen zu emp­fin­den, wird durch das Gute bewirkt. Die Fähig­keit zu die­ser Emp­fin­dung zeigt näm­lich, daß das Böse Abwehr her­vor­ru­fen kann, daß es bekämpft wer­den kann. Inso­fern ist das Böse eine abge­lei­te­te Funk­ti­on des Guten: ohne Wahr­neh­mung des Bösen könn­ten wir uns nicht aktiv gegen oder für es entscheiden.

Men­schen kön­nen nur aus Frei­heit sün­di­gen, das Böse muß genau­so­gut wie das Gute »aus frei­er Will­kür ange­nom­men wor­den sein, denn sonst könn­ten sie nicht zuge­rech­net wer­den«, for­mu­lier­te Kant in der Reli­gi­on inner­halb der Gren­zen der blo­ßen Ver­nunft 1793. Nur weil es das Böse in der Welt gibt, sind wir zurech­nungs­fä­hig, denn auto­ma­ti­sches oder instink­ti­ves Gut­sein käme ohne mensch­li­che Frei­heit aus.

Das Immer-auch-anders-Kön­nen ist die Vor­aus­set­zung des Guten. Mit Simo­ne Weil lie­ße sich also sagen: Nichts ande­res will Gott, als daß wir uns stän­dig neu des Grau­ens vor dem Bösen bewußt wer­den. Dafür läßt er es zu, setzt uns ihm aus, läßt sogar zu, daß es uns ver­schlingt und uns ohne daß wir es erken­nen in sei­nen Dienst zwingt.

Es ist Got­tes vol­le Absicht, dem Men­schen zu über­ant­wor­ten, sich gegen das Ver­schlin­gen­de zu ent­schei­den oder sich ver­schlin­gen zu las­sen. Die­se Ent­schei­dung ist sel­ber Schick­sal und Bewäh­rung, kei­ne Spiel­art von free choice. Gäbe es nicht die Mas­se, das »sozia­le Tier«, wir könn­ten uns nie dar­in bewäh­ren, ihr zu ent­kom­men. Gäbe es nicht den unsicht­ba­ren Geg­ner und sei­ne täu­schen­den Ersatz­feind­kon­struk­te, könn­ten wir nicht an immer schär­fe­rem indi­vi­du­el­len Bewußt­sein arbeiten.

Ohne die Grund­an­nah­me von Indi­vi­dua­li­tät und Frei­heit ist es unmög­lich, Mani­pu­la­ti­on etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Der Sozi­al­psy­cho­lo­ge Arno Plack hat Mani­pu­la­ti­on als »Steue­rung des Men­schen mit Mit­teln, die ihm nicht bewußt sind, auf Zie­le hin, die nicht die sei­nen sind, die er aber als die sei­nen auf­fas­sen soll«, gekennzeichnet.

Big Other erklärt sich nicht, das Prin­zip wirkt, und es wirkt des­to stär­ker, je weni­ger die Men­schen mit­be­kom­men, daß sie um ihre Zie­le betro­gen wer­den. Sei­ne Zie­le sind dia­me­tral den Zie­len der Völ­ker und der in ihnen ver­wur­zel­ten Indi­vi­du­en ent­ge­gen­ge­setzt, wenn ich anneh­men darf, daß es ihnen wesent­lich um Selbst­er­halt und Gedei­hen, mit­hin Sys­tem­sta­bi­li­tät, geht.

Wenn es jeman­dem gelän­ge, sich dem gro­ßen unsicht­ba­ren Geg­ner über­haupt jemals zu ent­zie­hen, wäre das nur durch freie Indi­vi­dua­li­tät mög­lich. In einer Hal­tung von frei­er Indi­vi­dua­li­tät, und etwas ande­res als eine Hal­tung kann dies kaum sein, kann man ande­ren Indi­vi­du­en begeg­nen. Soll­te einem in der beschränk­ten Zahl von Begeg­nun­gen im Leben womög­lich jemand unter­kom­men, von dem ange­nom­men wer­den kann, daß er im Bösen fest­ge­bun­den ist, ein bezeich­nen­der­wei­se im Deut­schen soge­nann­tes »hohes Tier«, könn­te es zumin­dest prin­zi­pi­ell mög­lich sein, gera­de durch das Böse hin­durch die­sen Men­schen zu lieben.

Er wird dann kon­kret und ist nicht mehr nur ein abs­trak­tes Expo­nat des Bösen. All die vie­len, denen man auf Gedeih und Ver­derb aus­ge­lie­fert ist, die poli­ti­schen Geg­ner in den Spie­gel­fech­te­rei­en, die mit »gut ver­sus böse« fehl eti­ket­tiert sind, die frem­den Mas­sen, vor deren fre­vel­haf­ter Zahl uns graut, sind gering, ver­gli­chen mit dem unsicht­ba­ren Bösen: Big Other, den abs­trak­ten Eli­ten, dem deep sta­te, Pla­tons gro­ßem Tier.

Woher also bezie­he ich die Kraft, den unsicht­ba­ren Geg­ner bekämp­fen zu wol­len? »Wer als Welt­herr­scher Rebel­li­on ein für alle­mal unmög­lich machen will, muß also fol­gen­des zer­stö­ren: ers­tens die Fami­lie, zwei­tens die Völ­ker, drit­tens die Reli­gi­on«, über­legt Klei­ne-Hart­la­ge und bestimmt so ex nega­tivo unse­re wesent­li­chen Bezugs­grö­ßen. Fami­lie, Volk, Reli­gi­on – alle drei sind kon­kret (nicht abs­trakt), real (nicht ima­gi­när) und wahr (nicht manipulativ).

Es sind dies Bezugs­grö­ßen, die über­haupt erst Ver­wur­ze­lung und Hül­le ermög­li­chen. In ihnen gebor­gen zu sein, setzt unge­ahn­te Kräf­te frei, von denen der phi­lo­so­phi­sche Wahr­heits­su­cher nur ahnen kann, woher sie rühren.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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