Nachdem sich die AfD in den Parlamenten etabliert hat, ist Zeit, sich der Vervollständigung ihres Parteiprogramms zu widmen. Die schmerzlichste Lücke klafft hierbei noch im Bereich Wirtschaftspolitik. Derzeit befindet sich an dieser Stelle allenfalls ein Feigenblatt, eine Minimallösung, auf die sich die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei einigen konnten, ohne daß auch nur eine einzige dieser Strömungen damit zufrieden wäre.
Diese Lücke im Bereich Wirtschaft kommt keineswegs von ungefähr. Konservative tun sich seit jeher schwer, sich auf eine einheitliche Position zur Rolle der Wirtschaft und des Marktes innerhalb der Gesellschaft zu einigen. Da in den letzten Monaten die ersten Bundestagsabgeordneten durchs Land reisen, um für ihre Wirtschaftskonzepte zu werben, und außerdem die AfD-Parteistiftung auf der Suche nach Personen und Konzepten ist, die sie beim Aufbau einer vernünftigen Position zur Wirtschaftspolitik unterstützen, scheint es durchaus angebracht, sich einmal tiefergehende Gedanken über die hier relevanten Fragen zu machen.
Sinn und Zweck des vorliegenden Artikels ist es, zwei weitverbreitete Mißverständnisse auszuräumen, die die politische Diskussion um die Rolle des Marktes seit Jahrzehnten verdunkeln. Das erste Mißverständnis besteht darin zu glauben, Liberalismus und Sozialismus seien ideologische Gegensätze. Das Gegenteil ist wahr. Die Sozialisten sind die »ungezogenen Kinder« der Liberalen, wie Armin Mohler sich auszudrücken beliebte.
Das zweite, mit dem ersten eng verbundene Mißverständnis besteht darin, den Staat als den natürlichen Feind des Marktes zu betrachten, den Staat nämlich als Verkörperung der Gemeinschaftsidee, den Markt als Inbegriff des Individualismus. Auch hier ist das Gegenteil wahr.
Um im Bild von Armin Mohler zu bleiben: Der Markt ist das ungezogene Kind des (modernen) Staates. Wenn es in unseren Ohren dissonant klingt, Liberalismus und Sozialismus in einen Topf zu werfen, dann mag ein Blick ins 19. Jahrhundert helfen. Albert Schäffle, Friedrich Julius Stahl und Lorenz von Stein, die der Entstehung und Entwicklung des Sozialismus als Zeitzeugen beiwohnen durften oder mußten, waren sich der engen Verwandtschaft der beiden Ideologien noch durchaus bewußt. Beide sind logische Konsequenzen der Ideen von 1789.
Wer sich für diesen Zusammenhang interessiert, mag nachlesen beim israelischen Historiker Jacob Talmon, der die Entstehung der totalitären Demokratie aus dem Geist der französischen Revolution nachvollzieht. Wer es nicht auf Anhieb glauben mag, daß der Sozialismus nichts anderes ist als eine Fortsetzung des Liberalismus mit anderen Mitteln, dem seien im folgenden ein paar Aussagen von Adam Smith aus dem Wohlstand der Nationen (Buch I, Kap. 6) präsentiert, dem Stammvater der Volkswirtschaftslehre und des Wirtschaftsliberalismus.
Ganz ähnlich wie später Marx geht Smith davon aus, daß das Produkt der Arbeit ursprünglich allein dem Arbeiter gehörte:
In dem ersten rohen Zustande der Gesellschaft, der der Kapitalanhäufung und Landaneignung vorausgeht, (…) gehört das ganze Arbeitsprodukt dem Arbeiter.
Erst mit der Kapitalanhäufung komme es dazu, daß einige findige Leute ihr Kapital dazu nutzen, Arbeiter einzustellen, um daraus ihren Vorteil zu ziehen. In diesem Zustand gehört das Produkt der Arbeit nicht mehr den Arbeitern allein.
Der Wert, den die Arbeiter den Rohstoffen hinzufügen, löst sich daher (…) in zwei Teile auf, von denen der eine ihren Lohn, der andere den Gewinn des Arbeitgebers auf das ganze für Materialien und Lohn vorgeschossene Kapital bezahlt. (…) Unter diesen Umständen gehört nicht immer das ganze Produkt der Arbeit dem Arbeiter. Er muß es in den meisten Fällen mit dem Kapitalisten, welcher ihm Beschäftigung gibt, teilen.
Ein ähnlich hartes, aber schärfer formuliertes Urteil über ihre Rolle in der Produktion fällt Smith auch über die Landeigentümer:
Sobald aller Grund und Boden eines Landes Privateigentum geworden ist, möchten auch die Grundbesitzer, gleich allen anderen Menschen, da ernten, wo sie nicht gesät haben, und verlangen sogar für die freiwilligen Erzeugnisse des Bodens eine Rente.
Zwar geht Adam Smith den gesellschaftlichen Problemen, die mit diesen Zusammenhängen verbunden sind, nicht näher nach – dies sollte später Karl Marx machen – jedoch hat er eine sehr klare Vorstellung davon, was der Staat mit dem Schutz des Privateigentums, historisch gesehen, eigentlich bezweckt hat:
Soweit die Obrigkeit zur Sicherung des Eigentums eingeführt wurde, ist sie in der Tat zum Schutz der Reichen gegen die Armen, des Besitzers gegen den Nichtbesitzer eingeführt worden.
(Buch V, Kap. 1)
Karl Marx und die übrigen wissenschaftlichen Sozialisten haben im Grunde nichts anderes getan, als den Gedanken fortzuspinnen, der im Wohlstand der Nationen schon ausgebreitet dalag: Privateigentum an den Produktionsmitteln Kapital und Arbeit stört die ursprüngliche und gerechte Verteilung des Produkts, wonach jeder das bekommen sollte, was er selber produziert hat.
Ein Aspekt des wissenschaftlichen Sozialismus muß hier ganz besonders betont werden, denn er gibt an, in welchem Sinne der Sozialismus eine Fortsetzung des Liberalismus ist. Das Prinzip, wonach jeder das vollständige Produkt seiner Arbeit bekommen sollte, ist aus der klassischen Arbeitswertlehre abgeleitet, die auf Adam Smith und David Ricardo zurückgeht.
Dieses Prinzip ist nichts anderes als eine klare Manifestation des Individualismus. Jeder einzelne soll seinen Anteil am Sozialprodukt gemäß seinem individuellen Beitrag erhalten, nichts soll ihm davon von der Gesellschaft oder einer anderen Klasse abgeknapst werden. Laut Adam Smith selber hebt nun aber die Existenz des Privateigentums an den Produktionsfaktoren Kapital und Boden eben dieses Prinzip auf. Das Privateigentum wird als ein Feind des Individualismus identifiziert.
Der Sozialismus, der die Konsequenz aus dieser Überlegung zieht und das Privateigentum bekämpft, entpuppt sich damit als ein Kämpfer für den Individualismus. Das Privateigentum wird abgelehnt, weil es der individualistischen Vorstellung einer gerechten Verteilung des Sozialprodukts widerspricht. Es ist zwar zuzugeben, daß sich der klassische Sozialismus nicht nur in der Forderung nach dem vollen Arbeitsprodukt äußerte – wie z. B. in der sowjetischen Verfassung von 1936: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung«.
Natürlich waren auch Formeln populär, die das Einkommen des Arbeiters unabhängig von seinem Produkt machen wollten, wie das bekannte »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Es läßt sich jedoch nur schwer leugnen, daß es sich hierbei in jedem Falle um individualistische Formeln handelt, welche die Fähigkeiten, Leistungen und Bedürfnisse des einzelnen in den Mittelpunkt stellen, und keinesfalls die Bedürfnisse der Gemeinschaft. Liberalismus und Sozialismus sind beide individualistische Ideologien.
Eng verknüpft mit dem Mißverständnis, Liberalismus und Sozialismus seien Gegensätze, ist der fatale Irrtum, der Staat und der Markt seien Widersacher. Nichts läßt sich öfter beobachten als der Streit zwischen liberalen Marktverfechtern und, je nachdem, konservativen oder linken Anhängern einer ausgedehnteren Staatswirtschaft. Trotzdem ist dieser Gegensatz ein konstruierter und geht am entscheidenden Problem vorbei.
Dem Streit scheint insbesondere auf Seiten der Konservativen die Illusion zugrundezuliegen, der moderne Staat könne die Aufgabe übernehmen, die Volksgemeinschaft zu fördern. Die Positionen in Staat und Bürokratie müßten nur wieder von vernünftigen Leuten besetzt werden, dann könne die Staatsmaschinerie dazu eingesetzt werden, die Gesellschaft auf vernünftige Beine zu stellen.
Dann könne insbesondere – eine häufig gehörte Forderung – das Bankensystem verstaatlicht (»vergemeinschaftet«) werden, damit die Verteilung der Ressourcen nicht mehr gemäß dem egoistischen Profittrieb, sondern den Bedürfnissen der Nation erfolge. Diese Überlegungen verkennen die Natur des modernen Staates.
Wenn Linke und Liberale über die Aufgaben des Staates streiten, dann handelt es sich um einen Zwist unter individualistischen Brüdern, die sich uneins darüber sind, welche Maßnahmen der Staat ergreifen sollte, um die Utopie einer individualistischen Gesellschaft zu erreichen.
Soll er nur, wie die Liberalen meinen, rechtsstaatliche Gleichheit für alle einführen, ansonsten aber nur das Privateigentum und die Vertragsfreiheit schützen, um somit eine Marktgesellschaft zu konstituieren? Oder soll er, wie die Linken fordern, das Privateigentum sowie sämtliche weiteren, nicht-staatlichen Institutionen beschneiden bzw. abschaffen, da sie die freie Entfaltung des Individuums und die allgemeine Gleichheit behindern?
Von beiden jedoch, den Liberalen und den Sozialisten, wird dem Staat die Aufgabe zugewiesen, ein individualistisches Ideal zu verwirklichen. Der Unterschied ist nur, daß die Linken weiter gehen als die Liberalen, vom Staat mithin sogar den Kampf gegen die Wissenschaft fordern – z. B. die Biologie – wenn sie den Emanzipationswünschen des Individuums widerspricht (Gender-Studies). Gerne kann man zugeben, daß am Ende der Entwicklung des individualistischen Staates eine totalitäre Diktatur stehen kann.
Die Geschichte des Sozialismus zeigt das eindrucksvoll. Eines Tages mag dasselbe aber auch für die westlichen Marktwirtschaften zutreffen, dann nämlich, wenn sich die totalitäre Neigung zur Gleichmacherei noch stärker entwickeln sollte. Dies ist dann einfach das Paradox, von dem Jacob Talmon spricht, wenn er schreibt, daß auch der Kollektivismus eine individualistische Basis haben kann.
Trotzdem bleibt festzuhalten, daß der Staat bei Liberalen und Sozialisten solche Aufgaben übernehmen soll, die dem Wesen des modernen Staates entsprechen. Der moderne, zentralisierte Staat ist aus den Trümmern der mittelalterlichen und feudalistischen Gesellschaft entstanden, deren Hauptmerkmal es war, daß der Staat eben nicht zentralisiert war, die Macht mithin planmäßig zerlegt war. Es gab, um es vereinfacht zu sagen, verschiedene Stände, die sich die politischen Rechte und Pflichten untereinander aufteilten.
Die Menschen waren nicht gleich, sondern hatten von Geburt an unterschiedliche Funktionen inne und, damit eng verknüpft, einen unterschiedlichen Status innerhalb der Gesellschaft. Weder die Freiheit noch die Gleichheit des einzelnen stand im Mittelpunkt, sondern die aus Ständen bestehende Gesellschaft (der Personenverband) als ganzes, die gemäß bestimmten, allgemein akzeptierten ethischen Ideen strukturiert war. Der einzelne hatte sich der Gemeinschaftsidee schlicht und ergreifend zu fügen.
Der moderne Staat ist als das Gegenprogramm zu dieser ethisch begründeten Gemeinschaft entstanden, als ihr Zerstörer. Man lese nach bei Thomas Hobbes. Die Grundidee des Leviathans, des modernen Staates, ist der Schutz der Individuen. Sein Zweck ist ein individualistischer. Er bekämpft alle Institutionen, die den Menschen der Macht anderer Menschen ausliefern, und setzt sich selbst als einzige und letzte Macht ein, unter die sich der Mensch zu unterwerfen hat, wenn er frei und gleich sein will. Der moderne Staat schafft die Masse, die ihm als eine Summe von im Prinzip gleichberechtigten und gleichgestellten Individuen gegenübersteht, und damit schafft er auch die moderne Marktgesellschaft. »Laissez-faire wurde vom Staat erzwungen« (Karl Polanyi).
Es widerspricht daher völlig der Logik des modernen Staates, wenn man ihn zum Garanten der Volksgemeinschaft machen möchte. Der moderne Staat würde sich selber aufheben, wenn er das Individuum als seine Bezugsgröße aufgeben würde. An die Stelle der individualistischen Massengesellschaft, die von der staatlichen Bürokratie verwaltet wird, müßte dann nämlich wieder eine Gesellschaft treten, in der die Gemeinschaft dem Individuum übergeordnet ist.
Das bedeutet, daß das Individuum wieder zu einem Mittel werden müßte, das der Gemeinschaft zu dienen hat. Es büßte seine Freiheit und seine Gleichheit ein und würde wieder zu einem politischen Funktionsträger, der seine Funktion zum Wohle der Gesamtheit auszuüben hat. Damit aber wäre die moderne Staatsidee tot.
Wenn der einzelne Bürger zum Funktionsträger werden soll, müßten sich Zentralstaat und staatliche Bürokratie, welche die politischen Funktionen in der modernen Welt übernommen haben, erst wieder auflösen. Denn solange der moderne Zentralstaat der Masse an gleichberechtigten Individuen gegenübersteht, haben alle sonstigen Beziehungen zwischen den Bürgern keinerlei politische Funktion.
Im Gegensatz zu einer Marktgesellschaft und einer sozialistischen Gesellschaft, die beide individualistische Massengesellschaften sind, die den modernen Zentralstaat voraussetzen, ist der Gemeinschaftsgedanke innerhalb des modernen Staates nicht umsetzbar. Aus diesem Grund ist es auch illusorisch zu meinen, eine rechte Bewegung könne den Marsch durch die Institutionen antreten und den Staat für ihre Ziele einspannen.
Alle bisherigen Versuche, den Staat zum Bezugspunkt der Gemeinschaft zu machen, sind kläglich oder – gerade in Deutschland – katastrophal gescheitert. Als Ersatz für die moderne Marktgesellschaft kommt aus konservativer Sicht viel eher ein vormoderner, dezentralisierter Staat in Frage, also in etwa in Richtung der Ständestaatsidee, die von Othmar Spann vertreten wurde.
Es übersteigt meine Kompetenz, den Ständestaat sinnvoll einzuordnen, und das soll hier auch nicht geschehen. Offensichtlich scheint mir aber zu sein, daß er nicht im Rahmen unserer Verfassung zu verwirklichen sein würde. Der moderne Staat, seine Verwaltung und seine Institutionen sind nicht dazu gemacht und nicht dazu geeignet, konservative Ideen umzusetzen, insbesondere die Idee einer funktionierenden (Volks-) Gemeinschaft.
Seine ganze Anlage ist darauf ausgerichtet, individualistische Ziele zu verfolgen, sei es die allgemeine Partizipation an der Marktgesellschaft, sei es die allgemeine Gleichheit aller Bürger bzw. sogar Weltbürger. Es bleiben also nur zwei Möglichkeiten. Entweder zielt man auf eine völlige Reform unseres Staates, stellt mithin die Systemfrage. Hierzu sind mir keine aktuellen Überlegungen bekannt, weder innerhalb noch außerhalb der AfD. Oder aber man versucht, sich im gegenwärtigen System irgendwie und mehr schlecht als recht zu behelfen.
Das liefe und läuft dann aber auf das hinaus, was die Ordoliberalen um Walter Eucken anstrebten. Dem Staat wird erstens die Aufgabe zugewiesen, die Wirtschaft und den freien Wettbewerb zu konstituieren, und zweitens die Aufgabe, Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft wirksam und dauerhaft zu bekämpfen. Ein solcher Staat müßte im übrigen viel stärker sein als die heutige Bundesrepublik, die allem Anschein nach zum Spielball internationaler Interessen geworden ist.
Wer sich der internationalen Finanzoligarchie entgegenstellen will, muß fest im Sattel sitzen und über entsprechende Mittel verfügen. Natürlich sollte allen Beteiligten bewußt sein, daß es sich dabei nicht um ein gemeinschaftsförderndes Projekt handelt, oder höchstens bis zu dem Grad, als es ihm gelingt, den Einfluß der internationalen Finanzmärkte zurückzudrängen.
Im Rahmen des modernen Staates könnte man Gemeinschaftsförderung allenfalls am Rande, sozusagen als flankierende Maßnahme betreiben, nämlich mithilfe einer nachdrücklichen politischen Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens, was eine Verlagerung der politischen Macht möglichst nahe an den Bürger bedeuten würde.
Keinerlei Sinn hat es jedenfalls, Vorschlägen, die in die genannten Richtungen gehen, mit dem Argument zu begegnen, der Staat möge doch in sensiblen und für die Gemeinschaft wichtigen Bereichen die Wirtschaft selbst in die Hand nehmen. Der (moderne) Staat ist dafür nicht geschaffen.