Gemeinschaft braucht (Sozial-) Staatlichkeit. Eine Replik auf Bernard Udau

von Florian Sander
PDF der Druckfassung aus Sezession 92/Oktober 2019

Führt man sich Ber­nard Udaus Her­lei­tung der Argu­men­ta­ti­on zu Gemü­te und unter­nimmt man den Ver­such einer Replik dar­auf, so ergreift einen das selt­sa­me Gefühl, ein in Unord­nung gebrach­tes »ter­mi­no­lo­gi­sches Stu­dier­zim­mer« wie­der auf­räu­men zu müs­sen. Meh­re­re Bücher ste­hen plötz­lich in der fal­schen Ecke des Regals, wesent­li­che Bücher, die man für sei­ne Stu­di­en bräuch­te, feh­len auf dem Schreib­tisch, und auf dem Boden lie­gen zusam­men­ge­knüll­te, her­aus­ge­ris­se­ne Sei­ten, die man in man­che Bücher wie­der hin­ein­kle­ben müß­te, damit ihr Sinn­ge­halt nicht ent­stellt wird.

Man fühlt sich bemü­ßigt, alles wie­der in kor­rek­ter Wei­se ein­zu­sor­tie­ren, aber man weiß kaum, wo man anfan­gen soll. Doch ver­su­chen wir es kur­so­risch. Jener rhe­to­risch schlag­fer­ti­ge Leser, der Udaus Dar­stel­lung etwas abge­win­nen kann, wird an die­ser Stel­le wohl erwi­dern, daß da jeman­des men­ta­le »Schub­la­den« wohl gründ­lich durch­ein­an­der gebracht wur­den und des­we­gen am – zuge­ge­be­ner­ma­ßen krea­ti­ven – Ansatz Udaus etwas dran sein muß.

In der Tat: Es geht um ter­mi­no­lo­gi­sche Schub­la­den; es geht um Wort­be­deu­tun­gen – Bedeu­tun­gen von sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen und poli­ti­schen Begrif­fen, die man jedoch nicht durch­ein­an­der­wer­fen kann, indem man den Rah­men, in dem man mit ihnen arbei­tet, ein­fach ent­spre­chend fach­dis­zi­pli­när ver­engt. Bedau­er­li­cher­wei­se ist genau dies bei Udau geschehen.

Es ist ein gar nicht so sel­te­nes Phä­no­men, das man regel­mä­ßig auch bei »klas­sisch liber­tä­ren« Autoren vor­fin­det: Argu­men­ta­ti­ve Her­lei­tun­gen und begriff­li­che Bezug­nah­men wer­den im Rah­men die­ser Vor­ge­hens­wei­se fast nur aus wirt­schafts­wis­sen­schaft­li­chen Erwä­gun­gen und Quel­len her­aus gespeist, so als sei – und hier bewe­gen sich Liber­tä­re genau wie Libe­ra­le sehr nah bei ortho­do­xen Mar­xis­ten (nicht zwin­gend: bei den Sozia­lis­ten), denn all die­se Denk­strö­mun­gen eint ihr apo­dik­ti­scher Mate­ria­lis­mus, und das heißt, sie ten­die­ren dazu, die Gesell­schaft bzw. das Indi­vi­du­um aus­schließ­lich in sei­nen öko­no­mi­schen Kon­tex­ten zu verstehen.

So auch Udau: Das, was er zum »Indi­vi­dua­lis­mus« erklärt, wird in sei­nem Arti­kel fast aus­schließ­lich aus einem öko­no­mi­schen Werk abge­lei­tet, wel­ches sicher­lich ein, wenn nicht der Mei­len­stein der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten schlecht­hin ist, aber gewiß kei­nen Anspruch auf einen inter­dis­zi­pli­när-sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Cha­rak­ter erhe­ben kann.

Zusätz­lich wer­den ein­zel­ne »klas­sisch-sozia­lis­ti­sche« For­meln in Bezug auf die Grund­la­gen des Ein­kom­mens eines Arbei­ters her­aus­ge­grif­fen, die als Grün­de für die Klas­si­fi­zie­rung »des« Sozia­lis­mus als »indi­vi­dua­lis­tisch« her­hal­ten müs­sen. Kein Wort davon, daß die sta­li­nis­ti­sche Sowjet­uni­on in ihrem gesam­ten, d. h. nicht nur öko­no­mi­schen Cha­rak­ter buch­stäb­lich als die Rein­form eines kol­lek­ti­vis­ti­schen Sys­tems gel­ten kann, eben­so wie auch nicht-sta­li­nis­ti­sche sozia­lis­ti­sche Staa­ten klar als kol­lek­ti­vis­tisch beschreib­bar sind.

Da hilft es auch nicht, dass Udau schließ­lich unter Bezug­nah­me auf Jacob Tal­mon bekun­det, auch der Kol­lek­ti­vis­mus kön­ne »eine indi­vi­dua­lis­ti­sche Basis haben«. »Kol­lek­ti­vis­mus« und »Indi­vi­dua­lis­mus« sind Gegen­be­grif­fe, Gegen­sät­ze, zwei Enden einer Ska­la. Äußert man eine sol­che Behaup­tung, ist das ein Wider­spruch in sich, eine Para­do­xie, eine fak­ti­sche Unmöglichkeit.

Sicher­lich ist es mög­lich, daß ein Staat oder eine Gesell­schaft Ele­men­te von bei­dem zugleich und neben­ein­an­der auf­weist – dann jedoch als gegen­ein­an­der wir­ken­de Ent­wick­lun­gen und Ten­den­zen, nicht aber mit dem einen als »Basis« des ande­ren. Auf die­se Wei­se kann man nicht mit der­lei Begrif­fen han­tie­ren. Statt­des­sen müß­te, wenn man sie ver­wen­det, zunächst ein­mal geklärt wer­den, was man eigent­lich damit meint.

Will man reflek­tiert mit der­ar­ti­ger Ter­mi­no­lo­gie umge­hen, so gilt es zunächst, sich von nur par­ti­el­len Her­lei­tun­gen zu lösen, die die Bedeu­tung eines Begrif­fes unzu­läs­sig ein­engen und damit ver­hin­dern, daß man umfas­send und grund­sätz­lich über ihre Bedeu­tung dis­ku­tie­ren kann. Wenn von Kol­lek­ti­vis­mus ver­sus Indi­vi­dua­lis­mus die Rede ist, so sind damit auch Aspek­te des sozia­len Lebens gemeint, die über die öko­no­mi­sche Bedeu­tung und die Fra­ge des Arbeits­pro­zes­ses und ‑ertrags deut­lich hinausgehen.

Anders gesagt: Will man sich die Bedeu­tung jener Begrif­fe erschlie­ßen, so gilt es, die Sozio­lo­gie zu kon­sul­tie­ren und nicht (nur) die Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten. Will man sich erschlie­ßen, was eigent­lich »Indi­vi­dua­lis­mus« meint, so ist es klug, zunächst ver­wand­te Begriff­lich­kei­ten in den Blick zu neh­men. Der Begriff der »Indi­vi­dua­li­tät« meint im Sin­ne einer kon­struk­ti­vis­tisch inspi­rier­ten Sozio­lo­gie so viel wie »Zurech­nung von Einzigartigkeit«.

Von Beginn sei­ner Sozia­li­sa­ti­on an bil­det der Mensch Indi­vi­dua­li­tät her­aus: Begin­nend beim Namen, der über Ele­men­te wie Bedeu­tung, Klang, Geschlecht etc. die Ein­zig­ar­tig­keit des betref­fen­den Men­schen her­aus­stel­len soll (wäre dies anders – wozu dann Namen geben?), über Klei­dung bis hin zur sozia­len Selbst­dar­stel­lung auf Face­book oder Insta­gram – auf all die­sen Wegen wird Indi­vi­dua­li­tät kom­mu­ni­ziert bzw. in der Fol­ge der Per­son schein­ba­re oder ech­te Ein­zig­ar­tig­keit zugerechnet.

In gewis­ser Wei­se wird hier ein mensch­li­ches Grund­be­dürf­nis bedient, denn das Selbst­wert­ge­fühl des Men­schen basiert in nicht uner­heb­li­chem Maße auf der (Selbst-)Wahrnehmung, im Uni­ver­sum ein­zig­ar­tig zu sein. Fehlt ihm dies, so fühlt er sich aus­tausch­bar und wird damit sei­nes Selbst­wer­tes zumin­dest teil­wei­se beraubt. Ein Grund, wie­so Men­schen Lie­be brau­chen und nicht nur einen Arbeits­platz – erst die Lie­be kom­mu­ni­ziert als ent­ge­gen­ge­brach­tes Gefühl die Zurech­nung als »ein­zig­ar­tig«.

Man wird kost­bar durch die Ein­zig­ar­tig­keit und dadurch »lie­bens­wert«. Was nicht ein­zig­ar­tig ist, ist auch weni­ger wert. Im Ergeb­nis wird der Mensch zum »Indi­vi­du­um«, zu einem Sub­jekt, das als indi­vi­du­ell gilt. Indi­vi­dua­lis­mus lie­ße sich nun fas­sen als poli­ti­sche und / oder welt­an­schau­li­che Bestre­bung, eine Gesell­schaft zu schaf­fen oder zu bewah­ren, in der der­ar­ti­ge Indi­vi­dua­li­tät poli­tisch bzw. staat­lich kon­ti­nu­ier­lich gestärkt und schließ­lich bis ins Uner­meß­li­che über­dehnt wird.

Wirt­schaft­li­che Fra­gen – und hier nähern wir uns nun wie­der der struk­tu­rel­len Schwä­che von Udaus Argu­men­ta­ti­on – stel­len hier­bei nur ein klei­nes Räd­chen im Getrie­be der Indi­vi­dua­li­tät dar. Gewiß: Man braucht Geld, um sei­ne Indi­vi­dua­li­tät zu sti­li­sie­ren, um sich selbst zu pro­fi­lie­ren. Klei­dung, die u. a. die­se Funk­ti­on erfüllt, gibt es nicht gra­tis, eben­so wenig wie Besu­che beim Fri­seur oder im Tat­too-Stu­dio oder das Smart­phone, das einem das Pro­fi­lie­ren auf Insta­gram erlaubt.

Auf wel­cher Basis man aber an das Geld kommt bzw. wie das Arbeits­ein­kom­men zustan­de kommt, ist in die­sem Kon­text eher uner­heb­lich und übri­gens auch nicht der Kern­punkt kon­ser­va­ti­ver (oder sozia­lis­ti­scher) Indi­vi­dua­lis­mus-Kri­tik, eben­so wenig wie es der Grund dafür ist, wie­so (Neo-)Liberale den Indi­vi­dua­lis­mus als pro­gres­siv fei­ern. Die Grün­de hier­für sind viel­mehr in gesell­schafts­po­li­ti­schen Zusam­men­hän­gen zu suchen, die im Ergeb­nis auch wirt­schafts­po­li­ti­scher Natur sind.

Adam Smith und Tho­mas Hob­bes lie­fern hier­für weni­ger Ant­wor­ten als viel­mehr gesell­schafts­li­be­ra­le (!) Phi­lo­so­phen wie John Locke, John Stuart Mill oder – heut­zu­ta­ge – Jür­gen Haber­mas. Die­sen ging bzw. geht es in ihrem Wir­ken nicht pri­mär um den Arbeits­pro­zeß, son­dern um die gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Stel­lung des Individuums.

Der Men­schen­rechts­uni­ver­sa­lis­mus, der in den letz­ten Jahr­zehn­ten welt­weit zu west­li­chen Krie­gen und »huma­ni­tä­ren Inter­ven­tio­nen« geführt hat, ist das Pro­dukt libe­ra­ler Phi­lo­so­phie und steht in einem direk­ten Zusam­men­hang mit indi­vi­dua­lis­ti­schen und wirt­schafts­li­be­ra­len Struk­tu­ren in der moder­nen kapi­ta­lis­ti­schen Gesellschaft.

Die Abso­lut­set­zung des Indi­vi­du­ums hat eine Ato­mi­sie­rung der Gemein­schaft zur Fol­ge, da sie zur Eli­mi­nie­rung von Kol­lek­ti­ven bzw. kol­lek­ti­ven Iden­ti­tä­ten führt, sei es nun die Fami­lie, das Volk oder die Nati­on. Seit 1945 haben wir in Deutsch­land eine ste­ti­ge Inten­si­vie­rung die­ses Pro­zes­ses erlebt, die heut­zu­ta­ge in der völ­li­gen Auf­split­te­rung von allem ehe­mals Gemein­schaft­li­chen mündet.

Aus­kunft hier­über geben nicht zuletzt auch die mal mehr, mal weni­ger sub­ti­len Bot­schaf­ten der ame­ri­ka­ni­sier­ten Unter­hal­tungs­in­dus­trie, die in schö­ner Regel­mä­ßig­keit wie­der Mot­tos wie »Lebe dei­nen Traum!«, »Mach dein Ding!« und »Sei ganz du selbst!« mit wirt­schafts­li­be­ra­len Bot­schaf­ten ver­bin­den, die dann bei­spiels­wei­se in pathe­ti­schen »Vom Tel­ler­wä­scher zum Millionär«-Szenarien von Cas­ting-Shows münden.

Die Ent­wick­lung der gro­ßen Reli­gio­nen im Wes­ten, das Ver­eins­ster­ben, die gestie­ge­nen Schei­dungs- und die sin­ken­den Gebur­ten­ra­ten, die sin­ken­de Anzahl der Ehe­schlie­ßun­gen und vie­les mehr zei­gen jedes Jahr plas­tisch auf, wie sehr die Indi­vi­dua­li­sie­rung – also der vom Indi­vi­dua­lis­mus ange­trie­be­ne gesell­schaft­li­che Wand­lungs­pro­zeß – inzwi­schen schon fort­ge­schrit­ten ist.

Im Ergeb­nis hat sie das zur Fol­ge, was Emi­le Durk­heim »Ano­mie« nann­te: Das Weg­bre­chen gesell­schaft­lich ver­bin­den­der Nor­men, mit der Kon­se­quenz der Des­in­te­gra­ti­on, des Weg­bre­chens sozia­ler Bin­dun­gen, bis hin zur Ver­ein­sa­mung und sozia­len Iso­la­ti­on. Die extrems­ten Ergeb­nis­se die­ser Ent­wick­lun­gen sehen wir im post­mo­der­nen Amok­läu­fer im Teen­ager-Alter, der infol­ge­des­sen eine gra­vie­ren­de psy­chi­sche Stö­rung und Haß auf sei­ne ihn iso­lie­ren­de sozia­le Umwelt ent­wi­ckelt hat und irgend­wann um sich schießt.

Die kapi­ta­lis­ti­sche Öko­no­mie for­ciert die­se Ent­wick­lung, da sie von der Indi­vi­dua­li­sie­rung und dadurch der Ato­mi­sie­rung der Gemein­schaft und der Des­in­te­gra­ti­on pro­fi­tiert. Wo sozia­ler Zusam­men­halt schwin­det, da sto­ßen Sozi­al­ab­bau und Steu­er­sen­kun­gen auf weni­ger Wider­stand, da flo­riert ober­fläch­li­cher, hem­mungs­lo­ser, kurz­fris­ti­ger Kon­sum, da wird der Mensch zum geo­gra­phisch ver­schieb­ba­ren und mul­ti­pel ver­wend­ba­ren »Human­ka­pi­tal«, das stö­ren­de Rah­mun­gen wie Fami­lie, Reli­gi­on, Volk und Nati­on abge­legt hat.

Eine sol­che Her­lei­tung führt sehr deut­lich vor Augen, wie­so Kon­ser­va­tis­mus und Sozia­lis­mus (in sei­nen klas­si­schen Aus­le­gun­gen, nicht in Form des »demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus« einer neo­li­be­ral-refor­mis­ti­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie unse­rer Tage) als kol­lek­ti­vis­ti­sche Denk­strö­mun­gen betrach­tet wer­den müs­sen: Sie stel­len die Kol­lek­ti­ve, auf die der Mensch eben­so zwin­gend ange­wie­sen ist wie auf sein Selbst­wert­ge­fühl im Zuge von Indi­vi­dua­li­täts­zu­rech­nung, in den poli­ti­schen Mittelpunkt.

Folgt man der ortho­dox mar­xis­ti­schen Aus­le­gung des Sozia­lis­mus – wel­che Udau fälsch­lich mit »dem« Sozia­lis­mus gleich­setzt, womit er aus­blen­det, daß es auch zahl­rei­che nicht­mar­xis­ti­sche Sozia­lis­men gab und gibt –, so sind die ent­schei­den­den Kol­lek­ti­ve die Klas­se und, in der Fol­ge, der »Arbei­ter- und Bau­ern­staat« und in die­sem die Partei.

Folgt man dem Kon­ser­va­tis­mus, so sind es die Fami­lie, das Volk und die Nati­on, manch­mal auch die Kir­che. Betrach­tet man die poli­ti­sche Pra­xis der ent­spre­chen­den Ideo­lo­gien dort, wo sie »regier­ten«, ist die Vor­rang­stel­lung jener Kol­lek­ti­ve vor dem Indi­vi­du­um, wel­ches sich die­sen im Zwei­fels­fall unter­zu­ord­nen hat­te, empi­risch gleich in vie­ler­lei Hin­sicht klar zu beobachten.

Auch Udau argu­men­tiert durch­aus kol­lek­ti­vis­tisch, indem er das Ide­al eines vor­mo­der­nen Stän­de­staa­tes arti­ku­liert: Hier ist nun eben der »Stand« das Kol­lek­tiv, das den Vor­rang vor dem Indi­vi­du­um ein­zu­neh­men hat. Das Pro­blem dar­an ist frei­lich, daß dies die unrea­lis­tischs­te und anti­quier­tes­te Visi­on einer gesell­schaft­li­chen Umkehr ist, die momen­tan im wei­ten kon­ser­va­ti­ven Spek­trum zirkuliert.

Stän­de gibt es schon lan­ge nicht mehr, weder ganz­heit­lich noch rudi­men­tär, und eben­so wenig wäre ein arti­fi­zi­el­les Wie­der­auf­le­ben die­ser gemein­schafts­be­grün­dend (geschwei­ge denn über­haupt rea­li­sier­bar). Im Gegen­teil: Dort, wo ein Volk künst­lich in Stän­de zer­split­tert wür­de, wäre ja eben kei­ne Gemein­schaft gege­ben, son­dern es wür­den sich gera­de heut­zu­ta­ge Sozi­al­neid und gegen­sei­ti­ger Haß verbreiten.

Dies gilt um so mehr in einer Medi­en­ge­sell­schaft, in der die Lebens­um­stän­de der Mit­men­schen über aller­lei alte und neue Medi­en bis ins Detail beob­acht­bar – und die Betref­fen­den daher noch schnel­ler und ein­fa­cher zu benei­den – sind. Ein sol­ches Gesell­schafts­sys­tem mag eine roman­ti­sche Sze­ne für kon­ser­va­ti­ve Kamin­a­ben­de abge­ben, steht aber den gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Ver­hält­nis­sen und Not­wen­dig­kei­ten der Gegen­wart dia­me­tral ent­ge­gen. Der Staat ist hier­bei selbst­ver­ständ­lich eng mit dem Gemein­schafts­ge­dan­ken verquickt.

Denn Gemein­schaft mani­fes­tiert sich schließ­lich nicht in besinn­lich-roman­ti­scher Ver­gan­gen­heits­se­man­tik, son­dern in kon­kre­ten, meß­ba­ren Effek­ten, wel­che nur durch den moder­nen, im wert­frei­en Sin­ne büro­kra­ti­schen, orga­ni­sier­ten Sozi­al­staat her­ge­stellt wer­den kön­nen. Gemein­schaft mani­fes­tiert sich durch die Rück­kehr der – eigent­li­chen – kon­ser­va­ti­ven Kol­lek­ti­ve Fami­lie, Volk und Nati­on, wel­che zugleich prak­ti­sche, im All­tag sicht­ba­re Soli­dar­ge­mein­schaf­ten darstellen.

Erst die fami­liä­re und die natio­na­le Soli­da­ri­tät ermög­li­chen kon­kre­te Faß­bar­keit einer Gemein­schaft. Erst die Ver­hin­de­rung einer neu­en Zer­split­te­rung in Stän­de, Klas­sen oder auch nur »sozia­le Schich­ten«, wie Klas­sen in der Gegen­wart neo­li­be­ral-ver­klä­rend genannt wer­den, ermög­licht eine Gesell­schaft, die zugleich wie­der zur Gemein­schaft wird.

Der Gegen­satz zum Indi­vi­dua­lis­mus ist in einem sol­chen Sys­tem deut­lich sicht­bar: Eine Soli­dar­ge­mein­schaft, die auch sozi­al­staat­lich (!) gere­gelt ist, stellt ja eben gera­de »das gro­ße Gan­ze« über den Ein­zel­nen. Daß die­ses im End­ef­fekt auch dem Ein­zel­nen zugu­te kommt, macht hier­aus noch kei­nen Indi­vi­dua­lis­mus, son­dern bestä­tigt nur die posi­ti­ven Fol­gen von Gemeinschaftlichkeit.

In einem intak­ten, funk­tio­nie­ren­den Sozi­al­staat – wel­chen wir in Deutsch­land spä­tes­tens seit Ger­hard Schrö­ders Agen­da 2010 und der Hartz-Reform nicht mehr vor­fin­den – stellt sich der Ein­zel­ne in sei­nen ego­is­ti­schen Inter­es­sen mit­un­ter zuguns­ten der Stär­ke, der Gesund­heit und der über­ge­ord­ne­ten Inter­es­sen der Soli­dar­ge­mein­schaft und damit sei­ner Mit­bür­ger zurück.

Dies ist ein genu­in kol­lek­ti­vis­ti­scher Ansatz und eben kein indi­vi­dua­lis­ti­scher (da haben liber­tä­re Volks- und Staats­geg­ner durch­aus recht). Ein Gemein­we­sen, das die Gesell­schaft als Gemein­schaft orga­ni­siert, ist ohne den (Sozi­al-) Staat, der die­se kol­lek­ti­ve Soli­da­ri­tät all­ge­mein­ver­bind­lich und faß­bar macht, nicht denkbar.

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