John Henry Kardinal Newman (1801 – 1890) wurde vor einem Jahr vom gegenwärtig amtierenden Papst heiliggesprochen. Dies ist der Anlaß für die Wiederherausgabe der vorliegenden Anthologie, die 1984 erstmals erschien und nun mit einer neuen Einführung versehen worden ist. Einer der Herausgeber bemüht sich um Newmans angebliche Vorreiterrolle für das Zweite Vatikanum, doch diese Mühe ist umsonst: Newman, der die anglikanische Kirche verließ, um sich mit Leib und Seele dem Katholizismus zu verschreiben, war alles andere als ein Ökumeniker.
Im Gegenteil, er entschloß sich gerade deshalb zur Konversion, weil er beide Bekenntnisse am Ende eben nicht für gleichwertig hielt. Das war auch sein Hauptargument gegen den religiösen Liberalismus, den er zeitlebens bekämpfte: nämlich das Credo, daß jedes Bekenntnis so gut wie jedes andere sei und es keine positive Wahrheit gebe. Seinen Übertrittsprozeß, in dessen Mitte er noch glaubte, der anglikanischen Staatskirche den maßvollen Mittelweg zwischen Protestantismus und Katholizismus als via media zuordnen zu können, dokumentierte Newman in unzähligen Briefen, Streitschriften und theologischen Reflexionen.
Das Newman-Lesebuch möchte diesen Dokumenten Raum geben, um das Denken des Theologen weiträumig abzustecken. Dieser Umstand führt dazu, daß es fast unmöglich ist, ins Lesen hineinzufinden. Außer für historischtheologisch Interessierte, meinethalben Studenten, die eine Hausarbeit verfassen sollen, sind die Kontroversen Newmans mit seinerzeitigen Kollegen und Vorgängern, die inneranglikanischen Rißlinien, seine Lektüren heute unbekannter Autoren und Einzelfragen der Dogmatik so gut wie irrelevant. Auch der Kardinal als Humanist, seine Reden zugunsten der Universität als Hort der artes liberales und der lehrenden Institutionen der Kirche zur freien Zusammenkunft gelehrter Männer, sind höchstens unter »zeitgenössisch« zu verbuchen. Auf seine Lektüre der Kirchenväter und des byzantinischen Christentums deutet John Henry Newman in den abgedruckten Passagen stets nur hin. Man findet kein Wort davon, was genau ihn daran begeistert hat (und da gäbe es – man führe sich Gerd-Klaus Kaltenbrunners oder Hugo Balls Schriften zu diesem Komplex genießend zu Gemüte – schier Unglaubliches zu finden).
Endlich, nach etwa 250 Seiten, erlauben die Herausgeber dem Heiligen tiefere Gedanken, die allesamt um das kreisen, was Newman mit einem Zentralbegriff seines Werkes »to realize« genannt hat, zu entfalten: Gedanken über den Sitz des Glaubens im individuellen Leben. So schreibt er, Gott »gibt uns genügend Zeichen seiner selbst, die unseren Geist in Ehrfurcht zu ihm erheben können; aber er scheint so häufig rückgängig zu machen, was er getan hat, und Fälschungen seiner Zeichen zu dulden, daß eine Überzeugung von seiner wunderwirkenden Gegenwart höchstens im einzelnen Menschen vorhanden sein kann«. Im Konkreten, in eigener Krankheit, Not oder Trennung bemerkt der Christ, daß Gott ihn kennt und von ihm Hingabe fordert: »Wer Freunde oder Verwandte hat, und sich aus ganzem Herzen in die Trennung von ihnen ergibt, wo diese noch in Frage steht, und beten kann: ›Nimm sie mir, wenn es Dein Wille ist, Dir übergebe ich sie, Dir vertraue ich sie an‹, und bereit ist, beim Wort genommen zu werden – auch dieser riskiert etwas und ist Gott wohlgefällig.« Newman hat schon in seiner Zeit die Kirche im permanenten Kampf gegen den Materialismus und Atheismus gesehen. Seine Argumente gegen Atheisten sind von derart tiefer eigener Gläubigkeit, daß er sich schlicht nicht vorstellen kann, was ein Atheist von ihm in Wirklichkeit wollen könnte.
Auf diese Weise findet er jedoch etwas über die Gottesleugner heraus, sowohl die wütenden als auch die gleichgültigen: »Denn es lebt in ihnen die Befürchtung, daß es irgendwo etwas Großes und Göttliches gibt; und da sie es nicht in sich tragen, bereitet es ihnen keine Schwierigkeit zu glauben, es sei überall dort, wo Menschen Anspruch auf seinen Besitz erheben.« Das ist eine perfekte Parade nicht nur gegen spirituelle »Sinnsuche«, sondern auch gegen diejenige moderne Wissenschaft und Afterwissenschaft, die in jeglicher Religion nichts als das »Herrschaftswissen« privilegierter Menschen erkennen kann. Der Leser wünscht sich mehr von diesem Heiligen – im Grunde müßte man noch ein zweites Newmanlesebuch edieren, das eher so wie das vergriffene, 1965 von Walter Lipgens herausgegebene und in der Herder-Bücherei erschienene Buch John Henry Newman: Summe christlichen Denkens beschaffen wäre.
Leben als Ringen um die Wahrheit, herausgegeben von Günter Biemer, James Derek Holmes und Roman A. Siebenrock, kann man hier bestellen.