Ulla Lenze: Der Empfänger

Dieser Roman firmierte unter den „Top-Frühlingstiteln“. Die meisten größeren Verlage haben so etwas.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wie kommt er an, im „gemei­nen Volk?“ Ich fin­de das inter­es­sant, das Lese­ver­hal­ten, erst recht in Zei­ten der soge­nann­ten Coro­na-Kri­se. Lutz Sei­lers zurecht preisgekrönter,von der “Kri­tik” hoch­ge­lob­ter und weit­hin rezen­sier­ter Roman Stern 111 (als Kon­kur­renz­ti­tel gewis­ser­ma­ßen) erhält gan­ze fünf­zig weit­ge­hend posi­ti­ve „Kun­den­re­zen­sio­nen“ auf den Sei­ten von amazon.de.

Ulla Len­zes noch nicht gekür­ter und in den Leit­me­di­en deut­lich weni­ger prä­sen­ter Roman erfreut sich hin­ge­gen weit grö­ße­ren Inter­es­ses: Knapp dop­pelt so vie­le „Lesen­de“ haben die­sen Roman als gut oder sehr gut bewertet.

Mar­tin Mose­bach sag­te ein­mal, man müs­se bei der Ver­mark­tung von Bel­le­tris­tik gen­der­sen­si­bel vor­ge­hen. Knapp acht­zig Pro­zent der Roman­käu­fe­rin­nen sei­en weib­lich. Damit muß man also arbei­ten als Schrift­stel­len­der! Nicht nur: Künst­ler­sein, son­dern auch: den Geschmack treffen!

Ulla Len­ze (*1973) hat hier – lite­ra­risch ver­frem­det – die Geschich­te eines Man­nes auf­ge­schrie­ben, die und den es tat­säch­lich gab. Prot­ago­nist Josef Klein war ihr Groß­on­kel. Sein Han­deln als Agent inner­halb des Spio­na­ge­netz­werks der deut­schen Abwehr in Zei­ten des Natio­nal­so­zia­lis­mus wird hier, nun ja, lite­ra­risch ver­mensch­licht. Im Grun­de ist die­ser Roman eine post­hu­me Ver­tei­di­gungs­schrift für J. Klein, der da nolens volens in „etwas hin­ein­ge­ra­ten“ ist.

Klein ist bereits vor den Drei­ßi­gern in die USA aus­ge­wan­dert. De fac­to war er (nun: Joe) dort Mit­glied der ras­sis­ti­schen, anti­se­mi­ti­schen „Chris­ti­an Front“ und ließ sich als kun­di­ger Ama­teur­fun­ker für die Sache der Natio­nal­so­zia­lis­ten ein­span­nen. Es ist fas­zi­nie­rend, was Len­ze dar­aus – durch­aus beob­ach­tungs­stark und lite­ra­risch auf der Höhe – macht: Joe war dem­nach in Wahr­heit abge­sto­ßen von die­sen ame­ri­ka­ni­schen Nazis.

Er lieb­te statt­des­sen mul­ti­kul­tu­rel­le Har­lem, in dem er leb­te. Er woll­te ja wider­ste­hen, konn­te es aber nicht in die­sen Not­la­gen. „Ich gehö­re nicht zu denen. Ich wur­de unter Druck gesetzt“, erklärt „Joe“ im Nach­krieg einem ame­ri­ka­ni­schen Offi­cer. Wir lesen, daß Joe sich durch & durch als Ame­ri­ka­ner fühl­te. Wes­halb eigent­lich genau – es bleibt unklar. Es scheint, als wäre es abso­lut logisch, den Natio­nal­so­zia­lis­mus abzu­leh­nen und wenigs­tens “heim­lich” dis­si­dent zu sein. Nachgeborenenlogik!

Über einen Auf­ent­halt im Gefan­ge­nen­la­ger Ellis Island gelangt Joe zu sei­nem spie­ßig­deut­schen Bru­der Carl (der brief­wech­sel­be­dingt denkt, Josef hie­ße nun „Jö“, und der nicht ahnt, daß Jö sei­ner lei­der nur hal­beman­zi­pier­ten Gat­tin nach­stellt) nach Neuss, um dann ab 1949 zunächst in Argen­ti­ni­en (wie sich hier die alten „Nazis“ sam­meln, ist abso­lut for­mi­da­bel erzählt), dann via Cos­ta Rico auf eine Rück­kehr in das Gelob­te Land, die USA, zu hoffen.

Gön­nen wir die­ser begab­ten Autorin die Ansicht, daß ihr Groß­on­kel „eigent­lich“ ein Opfer war. Wer wäre es letzt­lich nicht?

– – –

Ulla Len­ze: Der Emp­fän­ger. Roman, 302 Seiten

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (3)

Maiordomus

19. Juni 2020 14:07

@Kositza: Ihr Aufsatz "Tradwife" im Heft ist halbe Miete, wiewohl es schmerzt, nie mit einer Frau zu tun gehabt zu haben, die Ihrer beschriebenen Phänomenologie genügt. Bedeutend die Aufsätze über Gehlen und das an Maritains "Erhaltungsgesetz der Dummheit" gemahnende Porträt des neuen Spiessers. Bedenkenswerte Zitate u.a. von Sloterdijk und Sieferle, von dem fast nur via Sezession verbreitet wird, dass er einer der bedeutendsten Denker Deutschlands war. Spannungen in Stiftung u. Partei: Ich muss als "Criticonist" nicht automatisch den Kubitscheks u. Sezession recht geben, um denen von "Erasmus" und der Partei entgegenzuhalten, dass sie geistig hinter Durchschnittsniveau der Hefte "Sezession" zurückbleiben. Unentbehrlich Buchbesprechungen, z.B.Lehnert über Theweleit. Da ich Newman Jahrzehnte länger u. genauer gelesen habe als Frau Sommerfeld,  freut mich das Lob: nur blieb der Konvertit Gefangener der Dogmatik. Nicht ganz die Liga Eckhart, Cusanus, Pascal, Frau Droste, F. Baader, Kaltenbrunner; aber doch tiefer als Rhonheimer, mein einstiger Schulkamerad.

Maiordomus

19. Juni 2020 15:35

PS. Im neuen, wieder anregenden gedruckten Heft wird die geistige Breite von Criticon, aus den bundesrepublikanischen Verhältnissen vor 50 Jahren, beschrieben. Ein Anspruch, der von Sezession zugunsten von zwar konkreter Politisierung auf dem Gebiet der Metapolitik - auch nicht umgerechnet auf die heutigen Verhältnisse - noch nicht voll eingelöst ist. Die entsprechende beschreibende Charakterisierung von "Criticon" bleibt aber eine Herausforderung. Dabei würde es aber nicht um Personelles gehen, nicht mal Person Schrenck-Notzing. Schön die Bandbreite der damals vorzüglichen, zum Teil überragenden Mitarbeiter. Mein oben genannter "Schulkamerad" hat dort einen oder gar mehrere seiner vielversprechendsten Aufsätze geschrieben, als Jung-Philosoph, so über die Differenzierung der traditionalen, der pragmatischen und der transzendentalen Legitimation. Für sowas reicht z.B. ein bloss angeschnuppertes Philosophiestudium schlicht nicht, vielleicht abgebrochen aus Mangel überragender Lehrer.

Der_Juergen

19. Juni 2020 20:33

@Ellen Kositza

Schade, dass ich keinen Hut trage, sonst würde ich ihn nach der Lektüre Ihres Artikels "Befreite Feministin und Tradwife" in der neuen Druckausgabe flugs abnehmen.

 

 

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