Wer den Nischenplatz, den die Philosophie gegenwärtig in den aktuellen Debatten einnimmt, für unangemessen hält, wird sich der These, »daß die Philosophie die Akademie verlassen muß und als gesellschaftsbildender Akteur im öffentlichen Diskurs auftreten soll«, grundsätzlich anschließen. Mit ihr wird der Band eröffnet, der Untersuchungen einer Arbeitstagung Philosophie und Epochenbewußtsein, die im März 2019 an der Universität Leipzig stattfand, versammelt.
Die These stammt von Thomas Wendt, der die Tagung organisiert hat und in dem vorliegenden Band mit drei Texten vertreten ist. Neben ihm haben sich zwölf weitere Philosophen an der Tagung beteiligt, die alle entweder in Leipzig studiert oder gelehrt haben oder dies heute noch tun, darunter mit Steffen Dietzsch und Pirmin Stekeler-Weithofer auch zwei bekannte Namen. Der einzige Text, der schon durch den Titel in Richtung der Neuen Rechten weist, stammt von
Mirko Fischer, einem Promovenden, der am Beispiel des Vormärz die Metapolitik als »typisch linke Strategie der Diskurseroberung« untersucht, sich dabei aber leider für den Begriff der »Metapolitik« auf tendenziöse Literatur bezieht.
Eine wirkliche Überraschung in dem Band ist Wendt selbst, der bislang so gut wie gar nicht durch Publikationen in Erscheinung getreten ist. Wendt lehrt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter Philosophie an der Universität Leipzig, ist Jahrgang 1958 und wurde 1984 in Leipzig mit einer Arbeit über den vergessenen Berliner Philosophen Friedrich Eduard Beneke (1798 – 1854, dessen Karriere Hegel erfolgreich behinderte) promoviert.
Er ist Schüler des marxistischen Erkenntnistheoretikers Dieter Wittich (1930 – 2011) und hat es geschafft, sich über die Einschnitte in der akademischen Landschaft der ehemaligen DDR im Mittelbau der Universität zu behaupten. Er vertritt heute eine »kritische Anthropologie« oder »Positive Philosophie«, die er als eine am »heiligen Dreieck« Mensch-Natur-Absolutes orientierte Metaphysik gegen Positivismus und Determinismus in Stellung bringt. Erkenntnistheoretisch will er die (christlich fundierte) Idee des Menschen mit seiner Lebens praxis und Geschichte abgleichen, um von diesem Punkt aus deterministische Ableitungen zu widerlegen. Von dieser Warte aus entwickelt Wendt eine beachtenswerte Liberalismuskritik, die wohl nur deshalb an einer deutschen Universität geäußert werden kann, weil sie von links kommt (auch wenn das im Ergebnis der Kritik keinen großen Unterschied macht; interessant zudem, daß Wendt für eine »rechte Vernunft« plädiert, womit er eine umfassende meint).
Seine Überzeugung, daß der Menschheit ein Epochenwechsel ins Haus steht, teile er mit so verschiedenen »Autoren wie Francis Fukuyama, Samuel Huntington, Rolf Peter Sieferle, Thilo Sarrazin, Bassam Tibi, Meinhard Miegel, Eric Hobsbawm und Anthony Giddens«. Das ist in der Tat eine erstaunliche Zusammenstellung, in dem das Bemühen zum Ausdruck kommt, das Krisenphänomen von allen Seiten zu beleuchten. Dementsprechend finden sich in dem (etwas hermetischen) Text zahlreiche Anspielungen zu gegenwärtigen Entwicklungen in Deutschland, etwa wenn er Pegida mit den Maschinenstürmern identifiziert, Alain de Benoist zitiert, den Grünen Totalitarismus bemerkt, Schelsky zur Lektüre empfiehlt oder Reeducation mit dem »Abrichten« von Menschen vergleicht.
Seinen Haupttext beendet Wendt mit den lateinischen Worten: »Dixi et salvavi animam meam!« Das bedeutet so viel wie: »Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet«, hat seinen Ursprung im Buch Hesekiel des AT und wurde von Marx am Ende seiner Kritik des Gothaer Programms (1875) der späteren SPD zitiert. Das Wendt diese pathetischen Worte am Ende seines vergleichsweise harmlosen Textes wiederholt, läßt Raum für Spekulationen – über die gegenwärtige Verfassung der Universitäten und den linken Diskurs, der Abweichler offensichtlich mit Höllenstrafen bedroht.
Philosophie und Epochenbewußtsein. Untersuchungen zur Reichweite philosophischer Zeitdiagnostik, herausgegeben von Matthias Janson, Florian König und Thomas Wendt, kann man hier bestellen.