Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität, München: Claudius 2019. 128 S., 14 €
Der sächsische Rapper Trettmann firmiert unter dem Plattenlabel KitschKrieg. In seinem Song »Stolpersteine« sinniert er über den Holocaust: »Okay / In meiner Straße / Stolpersteine / Vögel singen und ich weine.« Besser hätte Trettmann dem Namen seines Labels nicht gerecht werden können. Er reiht sich damit nahtlos ein in die derzeit überschäumende Vermischung von politischer und emotionaler Sphäre, die ausschließlich mit appellativen Bildern ohne analytischen Sinngehalt arbeitet: etwa Omas und Einhörner »gegen Rechts« oder heuchlerische Reden von Filmstars bei der Oscarverleihung. Auf diesem Basar der öffentlichen Ergriffenheit, dessen Ausstellungsfläche durch die sozialen Medien exponentiell wächst, möchte sich jeder im moralisch richtigen Licht präsentieren.
Alexander Grau versucht in seinem neuesten Essay all dem auf den Grund zu gehen. Der Cicero-Kolumnist hat sich über die Jahre den Ruf eines ebenso feinsinnigen wie scharfzüngigen Beobachters erarbeitet. Grau fragt sich, was eigentlich Kitsch sei und wie dieser zum tragenden Strukturrahmen in der Kommunikation politischer Botschaften, ja zu deren eigentlichem Inhalt werden konnte. Für Grau äußert sich Kitsch vor allem in einer unüberbrückbaren Divergenz von Realität und wirklichkeitsverzerrendem Wunschdenken.
So fand er über die Jahrhunderte seinen Weg von der Ästhetik über das Moralische in die Politik. Die öffentlichen Bekundungsrituale der Postmoderne sind gekennzeichnet durch das »gnadenlos Infantile der jeweiligen Selbstdarstellungen, das Aufgekratzte und Gefühlige der benutzen Sprache, die süßlichen Bilder und Metaphern.« Grau verortet die Erfindung des Kitsches im (deutschen) Bürgertum. In diesem kumulieren zum Ende des 18. Jahrhunderts Tugendstolz, ökonomische Macht und kulturelle Unsicherheit.
Überzeugend stellt Grau die Auswirkungen der pietistischen Ergriffenheitsrhetorik über das sentimentale Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt dar, die jedoch schnell in lutherischen Zorn umschlagen kann, sollte sich das Objekt der Besserungsliebe als ignorant erweisen.
Doch je stärker Grau im Laufe seines Essays den Kitsch als deutsche Spezialität darstellt, desto mehr beginnt er sich zu verrennen. Warum sollten die Deutschen besonders anfällig für den Kitsch sein? Er greift zur Untermauerung dieser These auf eine Vulgärdarstellung der Romantik zurück und reduziert diese auf ein sinnentstellendes Konvolut aus Empfindsamkeit, Waldeinsamkeit und Schauermärchen. Grau gerät dadurch zu sehr ins Fahrwasser Fritz Sterns, der schon vor Jahrzehnten die These von der Romantik als Grundlage des abgründigen deutschen Sonderbewußtseins zimmerte. Vor allem die romantische Ironie blendet Grau in diesem Zusammenhang vollständig aus.
Graus verständliches Kopfschütteln über die hypermoralischen Zustände der deutschen Gesellschaft verengt seine ansonsten so luzide Blickschärfe. Bei all den Käßmanns, Neubauers und Prechts darf nicht übersehen werden, daß diese nur ein kitschiges Stimmungsvorbild nachahmen, das seit Jahrzenten in den USA virulent ist. Dort wurde es schon vor langer Zeit Pflicht, auf Oprahs Sofa in Tränen auszubrechen, und keine Dankesrede beim Highschool-Abschlußball kann mehr auskommen ohne den schluchzenden Verweis auf die eigenen (weißen) Privilegien. Handelt es sich beim politischen Kitsch des 21. Jahrhunderts nicht vielmehr um ein Phänomen der globalen Medienkultur, das durch emotionale Überbetonung die eigene Sinnentleerung und Konturlosigkeit überspielt, als um nationale Befindlichkeiten?
Die postmoderne narzißtische Persönlichkeitsstruktur trifft auf die Herausforderungen eines inhärent instabilen Systems. Es dämmert ein Kitschkrieg herauf. Grau steuert zu dessen Erhellung einen guten, wenn auch nicht widerspruchslos hinzunehmenden Debattenbeitrag bei.