Michail Prischwin: Tagebücher Band 1: 1917 – 1920.

Michail Prischwin: Tagebücher. Band 1: 1917 – 1920. Hrsg. von Eveline Passet, Berlin: Guggolz 2019. 459 S., 34 €

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Begon­nen wer­den soll­te die Lek­tü­re die­ses Buches mit dem her­vor­ra­gen­den Essay des Schrift­stel­lers Michail Schisch­kin. Er zeich­net den Lebens­weg des stu­dier­ten »Agro­no­men« Michail Prischwin (1873 – 1954) nach, der als Schrift­stel­ler drei Kar­rie­ren vor­zu­wei­sen hatte.
Die ers­te fand um die Jahr­hun­dert­wen­de statt, als sich Prischwin einen Namen als eth­no­gra­phi­scher Autor mach­te. Die zwei­te folg­te in der Sowjet­uni­on nach dem Bür­ger­krieg, in der Prischwin als Autor von Natur­bü­chern Mil­lio­nen­auf­la­gen erziel­te. Die drit­te schließ­lich begann mit dem Unter­gang des Kom­mu­nis­mus und der Edi­ti­on sei­ner Tage­bü­cher, die in Ruß­land zwi­schen 1991 und 2018 in 18 Bän­den erschienen.
Ohne die­se Hin­füh­rung (und dem aus­ge­zeich­ne­ten Kom­men­tar) erschlie­ßen sich die Tage­bü­cher, unbe­ar­bei­tet und her­me­tisch, nur schwer. Sie offen­ba­ren mit Prischwin einen Schrift­stel­ler, der sich im Moment der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­ti­on bewußt für die Inne­re Emi­gra­ti­on ent­schie­den hat­te und mit sei­nen Tage­bü­chern sein eigent­li­ches Werk schuf. In wel­cher Gefahr er sich damit befand und was ihm bei Ent­de­ckung der Tage­bü­cher droh­te, war ihm bewußt. Vor die­sem Hin­ter­grund macht Schisch­kin klar, war­um Prischwin sich in sei­nen – teils auf Deutsch vor­lie­gen­den – Büchern der Natur wid­me­te: »Die ein­zi­ge Wahr­heit inmit­ten der kom­mu­nis­ti­schen Lüge war die Natur«.
Prischwin, der zu Beginn des 20.  Jahr­hun­derts mar­xis­ti­sche Anwand­lun­gen hat­te, stand dem Bol­sche­wis­mus ableh­nend gegen­über; eine Hal­tung, die sich im Lau­fe des Bür­ger­krie­ges zum Haß stei­ger­te. Das war weni­ger sei­ner Anhäng­lich­keit dem alten Sys­tem gegen­über geschul­det, als der Tat­sa­che, daß das neue ihm jeden Rück­zugs­raum abschnitt. Die Ver­lust­er­fah­run­gen waren für Prischwin ein­schnei­dend: Er wur­de ent­eig­net, leb­te an wech­seln­den Orten und schlug sich als Leh­rer und Biblio­the­kar durch. Er war kurz­zei­tig inhaf­tiert, zahl­rei­che Freun­de und Bekann­te wur­den getö­tet. Er nimmt auch den all­ge­mei­nen Nie­der­gang wahr, der in dem Moment ein­setz­te, als sich nie­mand mehr für irgend etwas ver­ant­wort­lich fühl­te, weil nie­man­dem mehr etwas gehör­te: Der Kom­mu­nis­mus ist ein »Sys­tem der gänz­li­chen Ver­schmel­zung von Mensch und Affe«.

Die Tage­bü­cher kann man hier bestel­len.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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