Ich hatte bereits damals so viel über das Skandalbuch gehört und gelesen, daß mein Bedarf eigentlich gedeckt war.
Daher wollte ich nur kurz reinblättern, als nun die deutsche Übersetzung unter dem Titel Die Einwilligung erschien. Natürlich hatte ich als Skandal empfunden, was ich bis dahin schon wußte: Vanessa Springora, Jahrgang 1972, war mit 14 Jahren Geliebte des preisgekrönten, damals fünfzigjährigen Schriftstellers Gabriel Matzneff geworden.
Das linksliberale Kulturestablishment duldete diese offenkundig illegale Intimbeziehung nicht nur – es wurden zuvor, in den späten Siebziger Jahren, sogar „offene Briefe“ (von Matzneff initiiert, in Le Monde veröffentlicht) verfaßt, die sich für die Legalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Minderjährigen und Erwachsenen einsetzten. Unterschrieben hatten die Petition eine lange Reihe linksliberaler Intellektueller von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre bis hin zu Roland Barthes und Gilles Deleuze.
Nun, das erschien mir alles arg genug. Ich wollte lieber nicht genau lesen, wie Frau Springora nun ihre Geschichte aufbereiten und womöglich vom Fahrwasser der #metoo-Bewegung getragen würde.
Drum warf ich nur einen Blick in das schmale Buch – wurde aber sogleich völlig hineingezogen. Die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der Vanessa Springora (heute Chefin eines Verlagshauses) erzählt, wie gern sie damals dem sechsunddreißig Jahre Älteren auf den Leim ging, ist von Anfang an frappierend. Wie es ihr, die sich – vom Vater längst verlassen – als „häßliche Kröte“ fühlte, schmeichelte, von einem so bedeutenden Mann angehimmelt zu werden! Er schreibt ihr Briefe, er siezt sie höflich und überschüttet sie mit Komplimenten.
Als es zu einer ersten Verabredung kommt, denkt sie an ein Treffen im Café. Als er sie zu sich nach Hause einlädt, fühlt sie sich so überrumpelt, wie sich jeder Teenager in einer solchen Situation gefühlt hätte.
„Vor allem will ich nicht wie eine Idiotin dastehen. Nein, vor allem das nicht, und nicht wie eine dumme Göre, die keine Ahnung vom Leben hat.“
Matzneff beschwört sie, sie solle nicht „auf all die Horrorgeschichten hören, die man über mich erzählt.“ Sie kennt gar keine Geschichten. Sie folgt ihm mit klopfendem Herzen.
„Er muß erraten haben, daß ich es mit der Angst zu tun bekommen habe, denn er geht nun voraus, wohl damit ich nicht das Gefühl habe, in der Falle zu sein, damit ich glaube, ich könne noch umkehren. G. redet begeistert auf mich ein, wie ein junger Mann, der ganz aus dem Häuschen ist, weil er zum ersten Mal ein Mädchen in sein Appartement einlädt.“
Es wird weder bei diesem Mal noch bei den nächsten Treffen zu dem kommen, was man klassisch „Entjungferung“ nennt. Wie es letztlich „dazu“ kommt und was stattdessen zuvor geschieht, ist zu barbarisch, um es hier zu zitieren. Die Autorin bemüht hierzu übrigens nur dezente Worte. Das hier ist entschieden keine Schmierentheater.
Vanesa Springoras Mutter, Teil der Literaturszene, reagiert ähnlich wütend auf diese Beziehung wie der verflossene Vater, der sich nur sporadisch meldet. Beide sind zunächst vollkommen entsetzt. Die Mutter holt sich Rat bei Freunden aber: „Niemand schien besonders entsetzt zu sein.“
Bald lädt die Mutter das frische „Liebespaar“ gelegentlich zum Abendessen ein. Springora:
„In unserem unkonventionellen Umfeld aus Künstlern und Intellektuellen werden Verstöße gegen die Moral nicht nur toleriert, sondern sogar mit einer gewissen Bewunderung aufgenommen.“
Um hier abzukürzen: Der Vierzehnjährigen dämmert nach der von Matzneff verbotenen Lektüre seiner drastischen Büchern (heute hübsch im Preis gestiegen…) und nach einem zufälligen Blick in sein Tagebuch, was für ein Mensch hier Besitz von ihrem Leben ergriffen hat.
Matzneff hat die Päderastie zu seiner Philosophie erhoben. Sein Interesse gilt ausschließlich pubertären und vorpubertären Körpern beiderlei Geschlechts. Freimütig schildert er in seinen sich bestens verkaufenden Journalen seine häufigen Reisen nach Thailand, wo er sich von kleinen Jungs, gern von zahlreichen zugleich, „verwöhnen“ läßt.
Als Vanessa Springora dahinterkommt, daß ihr „Geliebter“ zugleich weitere Beziehungen zu Minderjährigen pflegt, sucht sie heulend Rat bei Matzneffs verehrtem Mentor:
„Das blinde Vertrauen, das mich zu ihm geführt hat, wurzelt nur in einem Umstand: seiner Ähnlichkeit mit meinem Großvater, der ebenfalls aus Osteuropa stammt, den nach hinten gekämmten weißen Haaren, den durchdringend blauen Augen , der Adlernase und dem schneidend scharfen Akzent.“
Dieser würdige Herr bescheidet nun der Vierzehnjährigen:
„G. ist ein Künstler, ein sehr großer Schriftsteller, eines Tages wird die Welt das erkennen. (…) Sie lieben ihn, dann müssen sie seine Persönlichkeit akzeptieren. G wird sich niemals änder. Er hat ihnen eine große Ehre erwiesen, indem er sie auserwählt hat. Ihre Aufgabe ist es, ihn auf seinem schöpferischen Weg zu begleiten, und auch, sich seinen Launen zu beugen. (…) Die Frauen verstehen oft nicht, was ein Künstler braucht. Wissen Sie, daß Tolstois Frau ihre Tage damit zubrachte, in absoluter Selbstaufopferung die Manuskripte zu tippen, die ihr Mann mit der Hand schrieb, und dabei unermüdlich den winzigsten Fehler von ihm korrigierte? Aufopfernd und selbstlos, so muss die Liebe beschaffen sein, die die Frau eines Künstlers dem schuldet, den sie liebt.“
Wer war nun dieser Mentor? Niemand Geringeres als Emil Cioran.
Ein entsetzliches, trauriges Buch! Selbst und gerade für jemanden, der wie ich davon ausgeht, daß eine Frau die Konsequenzen ihres Tuns stets gründlich überdenken sollte.
Mit vierzehn Jahren aber ist man aber noch keine Frau, die über den Impuls des “Gemochtwerdens” hinausdenken kann. (Ich sage das auch als Mutter von sechs Töchtern, die sämtlich in der Nähe dieses Alters sind oder waren.)
Das Mädchen beendet die Beziehung. Doch Matzneff wird ihr noch über Jahrzehnte Briefe schreiben. Er – ein echter Vielschreiber – wird die Beziehung zur Autorin inklusive Abdruck des Briefwechsels in gefeierten Büchern dokumentieren.
Gallimard, eines der einflußreichsten Verlagshäuser Frankreichs, hat über Jahrzehnte die Tagebücher Matzneffs (worin seine sexuellen Vorlieben keineswegs ein Nebenschauplatz waren) publiziert.
Gab es denn nie kritische Stimmen? Doch: Dieser Clip, eine französische Literatursendung aus dem Jahre 1990 zeigend, ist enorm aufschlußreich. Die kanadische Literatin Denise Bombardier fährt darin dem „Dandy“ vehement gegen den Karren.
Es ist übrigens merkwürdig, daß der Eintrag zu Gabriel Matzneff in der deutschen Wikipedia keinerlei Hinweis auf seine skandalträchtigen Selbstbekenntnisse und Affären erhält. Sowohl die englischsprachige als auch die italienische tun das sehr wohl. Die französische tut dies (naheliegenderweise) sehr ausführlich: Dort wurde bis zum Mittag des 19. Juni 2020 zudem behauptet, Matzneff sympathisiere und kooperiere mit der Nouvelle Droite, der französischen Neuen Rechten.
Diese Aussage war mit dem wiki-internen Hinweis „Beleg hinzufügen“ versehen. Da dieser Beleg fehlte, ging ich davon aus, daß eine falsche Fährte gelegt worden war. Wäre Matzneff ein „Rechter“, warum hätte Frau Springora das nicht als zusätzlichen Belastungsfaktor erwähnt?
Ich sah aber, daß Matzneff durchaus von der Nouvelle Droite hofiert wurde und in ihren Publikationen über Jahre häufiger zu Wort kam. Eine Schande, fand und finde ich! Ich fragte einige Leute per Mail und Telefon nach ihren diesbezüglichen Erkenntnissen. Unmittelbar danach, also am Nachmittag des 19. Juni, ist der Hinweis auf Matzneffs Kontakte in „unser Lager“ aus der französischen Wikipedia getilgt worden. Ein ulkiger Zufall.
Nun gut: Es muß in Frankreich, anders als hierzulande, wo man ihn kaum kennt, in den letzten Monaten einen fanatischen Haßsturm gegen Matzneff gegeben haben. Unter anderem hat Gallimard – das muß man sich vorstellen: nachdem sie ihn über Jahrzehnte bedenkenlos publiziert hatten! – seine Bücher aus dem Programm genommen.
In einem maßgeblichen Magazin der französischen „Neuen Rechten“ heißt es nun:
„Oui, la pédophilie est une abominable saloperie, et la juste place d´ un pédophile est dans une cellule de prison- aussi vrai que la juste place d‘un livre est dans une librairie.“ – „Ja, Pädophilie ist eine scheußliche Schweinerei, und der gerechte Platz für einen Pädophilen ist eine enge Gefängniszelle – genauso, wie es wahr ist, daß der gerechte Platz für ein Buch eine Bücherei ist.“
Nun – ich bin da unentschieden. Ich hasse solche „Schauprozesse“. Aber ich halte Gabriel Matzneff – horribile dictu – für einen echten Kinderschänder.
Man lese nach: Vanessa Springora, Die Einwilligung.
franzheister
Sehr gute Rezension Frau Kositza. Just in der vergangenen Nacht wurde übrigens der Wikipedia Eintrag des Intellektuellen nachgebessert. Dies passiert auch bei anderen Einträgen dieser Enzyklopädie regelmäßig und lässt tief blicken. Die regelmäßigen konsolidierten Aktionen zur Zersetzung unserer Kultur und Gesellschaft durch progressive Interessengruppen, sind keine krude Theorie. Allerdings ist dieses Land nicht mehr in Lage sich gegen diese Entwicklungen zu verteidigen. Ich persönlich sehe in diesen vielen kleinen Grenzüberschreitungen und Aufkündigungen sozialer Konstrukte, einen "Plan" zur Zerstörung! Es ist jedoch sehr schwierig diese Theorie angemessen zu bestätigen.