Baum lebte konsequent: Nachdem sie (ihre Werke fielen 1933 wegen »seichtem Amoralismus« der Bücherverbrennung zum Opfer) 1938 ausgebürgert worden war, schrieb sie nur noch in amerikanischem Englisch. Sie lebte dann übrigens mit ihrem Mann recht herrschaftlich in den kalifornischen Pacific Palisades in Nachbarschaft zu Thomas Mann und Lion Feuchtwanger.
Ihr eigener schriftstellerischer Ruhm kam spät und setzte erst mit ihrem heute als Hauptwerk geltenden Roman Menschen im Hotel (1929) ein, das erfolgreich dramatisiert, vertont und verfilmt wurde. Im Grunde genügt es, das Gesicht Baums zu studieren, diesen großzügig dimensionierten Mund, die auffälligen Augen samt Brauen, um zu wissen, daß wir es hier mit einer besonderen Frau zu tun haben. Vicki Baum ist eine Menschenkennerin par excellence. Es sagt viel aus über das kulturelle Ressentiment des Nationalsozialismus, unter anderen dieses Talent verkannt und als »Asphaltliteratur« (Joseph Goebbels) verbannt zu haben.
Das »Reh«, vor dem hier gewarnt wird, heißt Angelina. Sie ist eine von zwei Töchtern eines schwerreichen, aber relativ kulturlosen amerikanischen Ehepaars. Maud, die ältere, ist eher »breithüftig«, blond und gütig. Angelina – Ann – ist das zarte, verletzliche Reh. Oh, wie sie stets leidet! Sie ist dabei durchtrieben und hinterlistig.
Beide Schwestern lieben den Wiener Geigenvirtuosen Florian Ambros, einen wahren Künstlertypen: großes Genie, hohe Prominenz, weiche Hände und ein zwar treues, aber labiles Gemüt. Ambros, der Star, liebt Maud innig. Sie zeugen ein melancholisches Kind mit dem unzutreffenden Namen »Joy« (der Geiger sagt: »Tschoy«).
1906 wird ihre Wohnstatt San Francisco durch das berühmte Erdbeben erschüttert. Maud, schwerkrank, ist derweil auf Kur. Das »Rehlein« Angelina ist zur Stelle, um den Haushalt zu besorgen. Eigentlich ist sie aber empört, daß sich nun die kräftige Maud kurieren darf:
Angelinas unmittelbare Reaktion war ein hitziger Unwillen. Sie will meinen Donner stehlen. War das nicht Shakespeare? Niemals war bezweifelt worden, daß Angelina das Sorgenkind war, ein zartes, heikles Pflänzchen, der behutsamen Pflege bedürftig, während Maud groß und kräftig aufwuchs, gesund und uninteressant wie ein Blumenkohl.
Das ist großartig übersetzt! Angelina gelingt nun, es so ausschauen zu lassen, als habe sie Joy (der sie wegen ihrer Quengelei in Wahrheit gern den Hals umgedreht hätte) aus den Trümmern gerettet. Tatsächlich war es das heldenhafte Kindermädchen. Angelina, dieses manipulative Genie, vermag es in dieser existentiellen Krise, Ambros für sich zu gewinnen. Klar: Einmal in ihren Händen, erscheint er ihr bald fahl.
Am Ende (im Roman bildet es den Anfang ab) hat die gealterte, noch immer rehartig-unantastbare Angelina (jeder kennt diesen Typus!) fast alle ihre Leute überlebt. Von einer Person, die besonders unter dieser Täuscherin zu leiden hatte, wird sie – ungeplant, in rasendem Affekt – aus einem fahrenden Schnellzug gestoßen. Das hätte logischerweise das Ende des Rehs sein sollen. Hätte … ! Hier trifft alles zusammen, was gute Belletristik ausmacht: exzellente Menschenkenntnis, Zeitcolorit, Spannung: erste Klasse.
Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt. Roman, Zürich: Arche 2020. 411 S., 24 €.
Andreas Walter
“Sie zeugen ein melancholisches Kind.“
Zeugen vielleicht nicht, aber machen es dazu, oder prägen es womöglich so.
Wobei die Zwillingsforschung da anderer Meinung ist, denn es gibt ja auch Zwillinge, die bereits unmittelbar nach der Geburt getrennt wurden.
Wobei auch das nichts aussagt, weil Kinder sogar schon im Mutterleib anfangen zu lernen.
Selbst ein Klavierstück, oder auch Emotionen, aber auch ganze Ereignisse registrieren und verinnerlichen Babys bereits in der Plazenta. Manches davon überträgt sich sogar über Generationen, unbewusst. Besonders traumatische Erlebnisse zum Beispiel, die einer schwangeren Frau widerfahren sind.
Verschüttet worden zu sein, lebendig begraben, durch einem Bombenangriff der “Befreier“, der Zerstörer Deutschlands.
Auch das hat meine Grossmutter zu so einem “Reh“ gemacht, neben wohl, vermute ich zumindest, anderen Dingen, die einer jungen Frau womöglich widerfahren, wenn sie als Weise aufwächst. Not macht erfinderisch, Schwäche manipulativ, Missbrauch zornig.
Dieses “Reh“ in meiner Familie hat übrigens auch alle überlebt, einschliesslich ihre Tochter. Ich dagegen habe sie bereits als Jugendlicher erkannt und deshalb zurechtgewiesen.
Wofür sie sich selbstverständlich dann brutal gerächt hat. Heute kann ich darüber lachen, mit dem Herz voll Narben (in Anlehnung an eine Geschichte von Paulo Coelho im Handbuch des Kriegers des Lichts).