Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher

Was für ein schöner, treffender Titel! Fraglos war Karl Kraus ein großer Widersprecher.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Er war einer, der kaum etwas mehr scheu­te, denn als publi­zis­ti­sche Stim­me den Haupt­strom zu bedie­nen. Kraus (1874 – 1936, gebo­ren als »Früh­chen« und neun­tes Kind des jüdi­schen Fabri­kan­ten Jacob Kraus im Böh­mi­schen, auf­ge­wach­sen, geblie­ben und gestor­ben in Wien) war meist dage­gen. Und doch bezog er Haltung.

1899 grün­de­te er Die Fackel (drei Aus­ga­ben pro Monat). Ab 1912 war er ihr allei­ni­ger Autor. Sei­ne Apho­ris­men sind bis heu­te bestechend: »Die intel­lek­tu­el­le Pres­se macht dem Schwach­sinn des Phi­lis­ters Mut und erhebt Platt­heit zum Idea­le.« Oder, einer der zahl­rei­chen Karl-Kraus-Klas­si­ker: »Wenn die Son­ne der Kul­tur nied­rig steht, wer­fen selbst Zwer­ge lan­ge Schatten.«

Dem Salz­bur­ger Publi­zis­ten Jens Mal­te Fischer (*1943), der zwan­zig Jah­re lang als Pro­fes­sor für Thea­ter­wis­sen­schaf­ten in Mün­chen lehr­te, dürf­te in sei­ner eben vor­ge­leg­ten Kraus-Bio­gra­phie nicht das kleins­te Detail aus Leben, Schaf­fen und selbst dem brei­ten Umfeld des wohl scharf­zün­gigs­ten Kri­ti­kers sei­ner Zeit ent­gan­gen sein. Dar­un­ter sind for­mi­da­ble Ein­ord­nun­gen (etwa Kraus’ ambi­va­len­te Hal­tung zum tech­ni­schen Fort­schritt oder zur Drey­fus-Affä­re: Er ließ den roten Wil­helm Lieb­knecht einen drei­tei­li­gen Text gegen die Drey­fusards schrei­ben!) und inter­es­san­te Fund­stü­cke, etwa über die Freund­schaf­ten zu Otto Wei­nin­ger und Georg Trakl.

Erschre­cken­de Ein­zel­hei­ten hin­ge­gen: bei­spiels­wei­se, daß Adolf Loos (Orna­ment und Ver­bre­chen, Tauf­pa­te bei Krau­sens Kon­ver­si­on zum Katho­li­zis­mus) eben­so wie der enge Kraus­freund und Schrift­stel­ler­kol­le­ge Peter Alten­berg (d. i. Richard Eng­län­der) in eine Viel­zahl haar­sträu­ben­der Pädo­phi­lie­af­fä­ren invol­viert waren.

Kraus selbst – den Fischer aller­dings glaub­haft von pädo­phi­len Nei­gun­gen frei­spricht – hat­te ein Lie­bes­ver­hält­nis mit der fünf­zehn­jäh­ri­gen Schau­spie­le­rin Irma Kar­c­zews­ka, die im Rah­men eines »Hetä­ren­kults« zugleich sexu­ell mit Erich Müh­sam, Fritz Wit­tels und ande­ren ver­kehr­te. Inter­es­sant ist, daß der Bio­graph bei den vie­len höchst kri­ti­schen und zumal heu­te schwie­ri­gen Fra­gen, die ver­han­delt wer­den (Eman­zi­pa­ti­on, Homo­se­xua­li­tät, »Präpon­der­anz der Juden in Wien« etc.), sel­ten in mora­li­sie­ren­den Duk­tus verfällt.

Bis­wei­len über­steigt das die Kon­ven­ti­on bei wei­tem: Daß »Neger«, »Ver­ju­dung«, »Finanz­ju­den­tum« anders als in die­ser Rezen­si­on anfüh­rungs­zei­chen­los geschrie­ben wer­den, ist min­des­tens erstaun­lich. Kraus selbst hat­te ein­mal einen Spott-Text über Gän­se­füß­chen geschrie­ben – das soll­te jedoch nicht dazu füh­ren, daß sein Bio­graph sich Kraus­sche Wort­schöp­fung wie »Sexu­al­schnüf­fe­lei« nun durch Ver­zicht auf Anfüh­rungs­zei­chen zu eigen macht.

Man muß es ohne­hin so hart sagen: Fischer erscheint als zer­streu­ter Pro­fes­sor, der all­zu lan­ge mit dem Objekt sei­ner For­schung im Elfen­bein­turm haus­te. 1102 dicht­be­druck­te Sei­ten sind in jedem Fall maß­los. Hier nun han­delt es sich um einen mons­trö­sen Zet­tel­kas­ten, der nur grob sor­tiert dem Leser über­reicht wird. Ers­tens wim­melt es von Dop­pe­lun­gen, man­cher Gedan­ke wird gar drei- und vier­fach an aus­ein­an­der­lie­gen­den Stel­len (oder auch auf ein und der­sel­ben Sei­te) wort­gleich aus­ge­führt. Eine Zumutung!

Zwei­tens fal­len in Viel­zahl höchs­tens semi­pro­mi­nen­te Namen (Josef Kainz, Alex­an­der Mois­si, vor­na­men­los Blumen¬thal und Schönthan, Mech­til­de Lich­now­sky und dut­zen­de ande­re), die ent­we­der gar nicht oder hun­der­te Sei­ten spä­ter kon­tex­tua­li­siert wer­den. Wer soll was damit anfan­gen? Drit­tens gibt es zahl­rei­che zwei­fel­haf­te Aus­sa­gen und Detail­feh­ler. Die letz­te Aus­ga­be von Wei­ni­gers Geschlecht und Cha­rak­ter erschien nicht 1980, son­dern 1997.

Daß Kraus zu den »ganz weni­gen kon­ser­va­tiv grun­dier­ten Intel­lek­tu­el­len des 20. Jahr­hun­derts zählt, die kei­ner­lei Dis­po­si­ti­on für den Faschis­mus auf­wei­sen«, ist wohl ein Witz, der Lesern die­ser Zeit­schrift nicht erklärt wer­den muß. Auch das hier gezeich­ne­te Bild vom patri­ar­cha­len, lieb­lo­sen Vater erscheint kaum strin­gent, wo Vater Jacob sei­ne äußerst für­sorg­li­chen (»trach­te nur daß Du Dir nicht den Magen ver­dirbst«) Brie­fe doch mit »Lie­ber Sohn!« beginnt und mit »sei herzl. geküsst« enden läßt.

Und, nur als wei­te­res Bei­spiel: Der Aus­tritt von Kraus aus der katho­li­schen Kir­che habe sicher damit zu tun, daß es im Ers­ten Welt­krieg (1914) Waf­fen­seg­nun­gen gege­ben habe. Kraus, par­don, trat 1923 aus.

Vier­tens: Es kann süß und erquick­lich sein, auf erzäh­le­ri­sche Abwe­ge geführt zu wer­den. Ein Bio­graph darf tüch­tig aus­schrei­ten. Hier aller­dings wird all­zu deut­lich, daß sich Fischer zuvor aus­führ­lich etwa mit Wal­ter Ben­ja­min (er »schrieb zwan­zig Jah­re spä­ter Ähn­li­ches …«) und Kaf­ka samt Ver­lob­ter Feli­ce Bau­er beschäf­tigt hat. Eine von Krau­sens Frau­en (die Lich­now­sky) wird in Per­ma­nenz mit der Kaf­ka-Freun­din ver­gli­chen – mit dem Resul­tat, daß bei­de sich deut­lich unterschieden.

Kraus’ Hal­tung zu Strind­berg wird läng­lich aus dem Mun­de von Tho­mas Mann begrün­det. Die Fas­zi­na­ti­on des »Theat­ro­ma­nen« Kraus durch das Wie­ner Burg­thea­ter wird durch einen nach­drück­li­chen, lan­gen »Evo­ka­ti­ons­text« belegt. Pein­lich, daß der Autor die­ser sprü­hen­den Elo­ge nicht Kraus, son­dern Max Rein­hardt war. Gab es kei­nen Lek­tor, der die­sen Schreib­rausch hät­te bah­nen und ban­nen kön­nen? Übri­gens: Es lebe Karl Kraus.

Jens Mal­te Fischer: Karl Kraus. Der Wider­spre­cher, Wien: Zsol­nay 2020. 1104 S., 45 €, hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (3)

quarz

9. August 2020 07:11

Also Alexander Moissi war durchaus ein ganzprominenter Name.

Leo

9. August 2020 13:07

Jaja, kaum hat man im August-Heft die Rezensionen durchgescannt, kommen die Appetithäppchen daraus auch auf SiN. (Aber hier kann man nichts mit Bleistift anstreichen: Es lebe die analoge Druckausgabe!) Der zerstreute Professor... Tja, Dopplungen sind immer ärgerlich. Ohne Lektorat aber passieren solche Ärgernisse. Und fälschlich zugeschriebene Zitate. Mensch, Zsolnay...

Ein "Witz, der Lesern dieser Zeitschrift nicht erklärt werden muß"? Pardon, ich lese die Sezession zwar schon ein paar Jährchen - aber ich verstehe den Witz nicht. (Geht vielleicht nicht nur mir so.) Erbitte hiermit zumindestens einen Wink mit einem Zaunpfahl, Frau Kositza. Thanks in advance!

Kositza: Fischer schreibt, daß KK zu den ganz wenigen konservativ grundierten Intellektuellen des 20. Jh. zähle, die keine Disposition zum Faschismus aufweise. Als langjähriger leser der Szession könnten Ihn mindestens 3 Dutzend weitere einfallen: Joachim Lübbe, Johannes Fest, Karl Wolfskehl, Eric Voegelin,Leo Strauss, Hj von Merkatz; von den jüngeren ab Geburtsjahr 1950 ganz zu schweigen.

Maiordomus

9. August 2020 14:47

Hervorragend kritische Rezension. Schreibe gerade Zeugs mit ähnlichen Versuchungen, die Faktenhuberei betreffend, kann es also für mich als Warnung nehmen.

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