Als der sächsische Ministerpräsident nach den Ereignissen von Chemnitz 2018 von einem »Angriff auf unsere Wahrheitssysteme« sprach, war ihm in den alternativen Medien Spott gewiß. Zu deutlich hatte er sich verplappert: Nicht bloß bestimmte Wörter wie »Willkommenskultur« oder »Haß in den Herzen« bestimmen die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Es handelt sich um ein ausgewachsenes semantisches Herrschaftssystem.
Der Soziologe und Literaturwissenschaftler Michael Esders schöpft theoretisch aus dem vollen. Wenn er im Kapitel »Die Narrative der Hypermoral« nachzeichnet, wie Greta Thunbergs Mission sprachlich inszeniert worden ist oder wie die Chemnitzer »Hetzjagden« entstanden sind, wie nudging und framing durch die Mainstreammedien funktionieren, dann findet der Leser Erklärungen, die ihm von Kleine-Hartlage, Uwe Krüger oder aus Mit Linken leben bekannt sein können. Auf dieser Ebene wird verständlich, wie Sprachregime herrschen.
Esders geht noch eine Ebene tiefer. Hier erweist er sich als Kenner der postmodernen Linken – ein Soziologiestudium in den 90er Jahren prägt. So kann er erklären, warum Sprachregime herrschen. Frappierend: Es ist über weite Strecken nur mithilfe der Beobachtungsraster der postmodernen Linken möglich, ihre Machtübernahme zu formulieren. Der »Konformismus der Differenz« und die »Agenda der politischen Dekonstruktion« lösen den marxistischen Klassenkampf ab. Der Poststrukturalist Jaques Derrida hatte in Die Schrift und die Differenz (1967) über die Nivellierung von Unterschieden durch ihre Festschreibung geschrieben, dieser aber derart ubiquitäre Macht zugesprochen, daß es kein Entrinnen aus dem »Phonologozentrismus« des abendländischen Denkens mehr gab – außer der Feier der »Differenz« als solcher. Wer sich auf die Seite der »Differenz« schlägt, hat historisch gewonnen und kann fortan darangehen, überall »gewaltförmige Einschreibung« von irgendwas in »die Körper« zu wittern. Esders kommt zur Diagnose: Die entkernte Linke habe Derridas Theorie parasitiert, und der als »Loop programmierte Diskurs ist darauf angelegt, das Denken in den Automatikmodus zu versetzen, also abzuschaffen«.
Typisch dafür ist, daß »Differenzdenken« offensichtlich keine Schwierigkeiten hat, sich mit Karl Poppers »kritischem Rationalismus« zu verbrüdern (in der postrukturalistischen Schule war kaum etwas so verpönt wie »Vernunft«). Die »offene Gesellschaft«, die in Gestalt der Open Society Foundation des Popper-Schülers George Soros gewaltig in Diskurse und reale »Experimente« (Yasha Mounk) hineinlangt, vollzieht dieselbe Mission wie die Propagandisten der »Diversity« und der »offenen Grenzen«. Michael Esders prägt dafür den Begriff »Antitopik«, der hübsch postmodern zweideutig ist. Er bedeutet die Ortlosigkeit der anywheres und das Niederreißen von »Grenzen«, aber auch ein Gegenprogramm zur Topik der antiken Rhetorik.
Der Autor der Sprachregime geht noch einen Schritt weiter. Die dekonstruktivistische Linke kam nicht unvorbereitet in die Welt. Esders nennt die Denkfigur, auf der die Macht der politischen Wahrheitssysteme aufruht, im Rückgriff auf den Kulturphilosophen Boris Groys »Metanoia«. Dieser hatte 2006 in Das kommunistische Postskriptum das Sowjetregime als ein Sprachimperium, das auf der »Verwaltung der Metanoia« gründete, charakterisiert. Der Begriff geht – hier verlasse ich Esders und beziehe mich auf Hans Blumenbergs Höhlenausgänge – auf Platons Staat zurück, wo dieser die »Umwendung der Seele« aus der sinnlichen Erfahrungswelt hinauf zu den Ideen periagogé nennt. Im Neuplatonismus wird daraus ein Programm des totalen Umbaus der Erkenntnis: Metánoia ist die überlegene Weltwahrnehmung, die strukturelle Einnahme einer Metaposition. Von der Gnosis über Hegel wird diese Überlegenheit durchgereicht zu Marx: »Die materialistische Dialektik, die das Paradoxon zum Ausweis geistiger Überlegenheit machte, nimmt eine solche Position ein« und macht sich dadurch unkritisierbar.
Wer immer Einwände gegen sie erhebt, versetzt sich freiwillig in die Niederungen der Höhlenbewohner zurück, die nur die Schatten der Wahrheit sehen. Das Hinterlistige an der linken Denkoperation der Metanoia ist, daß sie überaus wahrheitskritisch daherkommt – logisch, sie hat sich ja selbst an die Stelle der herrschenden Vernunft gesetzt. Sie untergräbt den alltäglichen, lebensweltlichen Sprachgebrauch und gewinnt dadurch die Hoheit über solche Ausdrücke wie »fake news« und »hate speech«, weil sie bestimmen kann, was diese neuen Tatbestände erfüllt. Reflexion ist ihre Waffe.
Was kann man dagegen aufbieten? Noch mehr Reflexion? Hier bleibt der Autor fest auf dem Boden der Realität: Wer wie Esders die Funktionsweise von Machtsystemen messerscharf filetiert hat, ist gegen Illusionen gefeit. Die Übernahme der Gegnersprache (also beispielsweise unter Rechten von »linkem Faschismus« zu reden) ist stets die schwächere Kopie des überlegenen frames. Wer das weiß, gibt sich der Illusion nicht hin, »Gegennarrative« zu erfinden. Mit dem Satz »Obwohl die Macht des Sprachregimes auf organisierter Unkenntlichkeit beruht, hat die Entstellung zur Kenntlichkeit ihm bislang wenig anhaben können«, schließt das vorliegende Buch. Die politischen Wahrheitssysteme werden noch eine Weile herrschen.
Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme von Michael Esders kann man hier bestellen.