Ian Morris: Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen

Ian Morris: Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen, München: DVA 2020. 430 S., 26 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Der Titel die­ses Buches ist bestechend, der Ansatz auch: Drei unter­schied­li­che For­men der Ener­gie­ge­win­nung hät­ten – so die Kern­the­se des an der Stan­ford Uni­ver­si­ty leh­ren­den Archäo­lo­gen Ian Mor­ris – drei Mensch­heits­epo­chen aus­ge­bil­det und geprägt. Die Moral sei dem Fres­sen nach­ge­ord­net, die mate­ri­el­le Grund­la­ge habe den Men­schen jeweils unmit­tel­bar davon ableit­ba­re Orga­ni­sa­ti­ons­for­men nahe­ge­legt: fla­che Hier­ar­chien und hohe Gewalt­a­ffi­ni­tät in der »Urge­sell­schaft« der Wild­beu­ter und Samm­ler; aus­dif­fe­ren­zier­te Hier­ar­chien und nied­ri­ge Gewalt­a­ffi­ni­tät in Agrar­staa­ten; wie­der­um fla­che Hier­ar­chien sowie star­ke Ableh­nung von Gewalt und Zwang in jenen Gesell­schaf­ten, die mit­tels fos­si­ler Brenn­stof­fe die Ener­gie­zu­fuhr pro Kopf ins Unvor­stell­ba­re getrie­ben hät­ten. Jede Ener­gie­form lege einer Gesell­schaft also ande­re Wer­te zugrun­de – zwin­gend, über­all. Dar­über und über die Ablei­tun­gen kann man nach­den­ken. Es leuch­tet nicht ein, war­um fos­sil ange­trie­be­ne Gesell­schaf­ten Gewalt ablehn­ten: im Innern viel­leicht, aber nach außen? Die USA? Holt man sich da nicht viel­mehr, was man braucht, ein­fach so und mit einer gigan­ti­schen, auf Öl und ande­rem basie­ren­den, mili­tä­ri­schen Überlegenheit?

Man mag grund­sätz­lich die­se Art des Zugriffs: den Über­flug über die Kra­ter­land­schaft der Geschich­te, den Über­blick aus gro­ßer Höhe, die gro­be Ein­tei­lung, die vie­les igno­riert, aber Ent­schei­den­des sor­tiert. Bei Mor­ris ragt das Lob des gesun­den Men­schen­ver­stands her­aus. »Der gesun­de Men­schen­ver­stand ist zer­set­zend und zer­frisst die Ideo­lo­gien wie Säu­re«, schreibt er, und womög­lich ist die­ser Satz der zen­tra­le Satz sei­nes Buches.
Mor­ris meint damit, daß sich die Men­schen grund­sätz­lich ent­lang der Mög­lich­kei­ten ein- und aus­rich­ten, die funk­tio­nie­ren, die ihr Leben erleich­tern und ihnen einen Über­schuß an Nah­rung, Zeit, Ruhe, Kom­fort ver­schaf­fen. Das ist die Neu­gier des Jägers auf eine bes­se­re Waf­fe und die des Bau­ern auf einen Wen­de­pflug, auf einen Trak­tor oder ein Pes­ti­zid. Die­se Lebens­ein­stel­lung ist in die­sem Sin­ne zugleich die Abwe­sen­heit jeg­li­cher buko­li­schen Roman­tik. Außer­dem, so Mor­ris, sei der gesun­de Men­schen­ver­stand unbe­stech­lich in der Bewer­tung der Herr­schaft, der man sich zu unter­wer­fen habe: Er weh­re sich scho­nungs­los gegen ihre womög­li­che Dys­funk­tio­na­li­tät und räu­me sie ab, sobald es ihm mög­lich sei.

Mor­ris läßt sei­ne The­sen von vier Gesprächs­part­nern infra­ge stel­len, unter ande­rem von der Schrift­stel­le­rin Mar­ga­ret Atwood. Im Schluß­ka­pi­tel greift er die Ein­wän­de auf und for­mu­liert zwei Schluß­fol­ge­run­gen. Sie sind lei­der nicht der Rede wert. Mor­ris macht damit sein Buch zu einem Bei­spiel für fla­che Hier­ar­chien – eine nerv­tö­ten­de Ange­le­gen­heit. Mei­ne The­se: Die­ses stän­di­ge Aus­ta­rie­ren des Gesag­ten ist der Tanz durchs Minen­feld der poli­ti­cal cor­rect­ness, ist der Tanz um den blin­den Fleck. Zöge Mor­ris die eigent­li­che Schluß­fol­ge­rung aus dem, was er zusam­men­trug, wäre er wis­sen­schaft­lich erledigt.
Die­se Schluß­fol­ge­rung lau­tet näm­lich: Die nahe­zu gren­zen­lo­se und vor allem mühe­lo­se Ver­füg­bar­keit von Ener­gie erlaubt es jeder­mann, das zu ver­schleu­dern, was frü­her mühe­voll erar­bei­tet wer­den muß­te. Dies wirkt sich ver­hee­rend auf die »Wer­te« einer Gesell­schaft aus: Alles Kon­ser­va­ti­ve (Fleiß, Dank­bar­keit, Haus­hal­ten, Bewah­ren, Ein­rich­ten) bleibt auf der Ste­cke, wenn im Hin­ter­grund und ohne daß man sie selbst antrei­ben müß­te, hun­der­te Pfer­de­stär­ken, hun­der­te Skla­ven­stun­den für jeden von uns das weg­räu­men, was wir ver­pfu­schen und das bereit­stel­len, wor­auf wir nicht ach­te­ten und was wir aus einer Lau­ne her­aus kon­su­mie­rend erset­zen. Fos­si­le Ener­gie ermög­licht fahr­läs­si­ge Eman­zi­pa­ti­on von allem und jedem, ermög­licht Expe­ri­men­te, Lebens­ent­wür­fe, Ver­fet­tun­gen, über die der gesun­de Men­schen­ver­stand der letz­ten 20 000 Jah­re völ­lig ungläu­big den Kopf geschüt­telt hätte.

Ent­mün­di­gung durch mate­ri­el­len Über­schuß: Das wäre ein The­ma für Mor­ris gewe­sen. Man rebel­liert nicht, wenn man alles hat, und man kann jeden Unter­schied leug­nen, wenn für alle Alles aus der Steck­do­se kommt. Beu­te, Ern­te, Öl: Erst das Öl (nicht bereits die Koh­le!) mach­te die har­te Arbeit über­flüs­sig. Das ist die Kul­tur­schwel­le, über die Mor­ris spre­chen und von der her er die »Wer­te« unse­rer Zeit hät­te ablei­ten sol­len. Aber das kann einer nicht, wenn er in Stan­ford lehrt.

Beu­te, Ern­te, Öl. Wie Ener­gie­quel­len Gesell­schaf­ten for­men von Ian Mor­ris kann man hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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