Mein Karst (ich fand ihn hinterm Haus, als wir einzogen) liegt wie angegossen in der Hand, die Arbeit mit ihm ist ohne Vergleich auf unserem schweren Boden. Bloß: Arbeit war es diesmal nicht. Die angehäufelte Erde war unter dem verwelkten Kartoffelkraut wunderbar krümelig und schon fingerbreit aufgerissen, so üppig drängten die rötlichen Knollen.
Man haut den Karst in die Furche und rüttelt die Kartoffeln nach oben. In diesem Jahr, das nasser und kühler ist: ein Kinderspiel. Von acht Pflanzen füllte ich einen großen Eimer, und das Zwanzigfache liegt noch im Boden. Zu Mittag gab es eine gekochte Schüssel voll, dazu von den eigenen Zwiebeln und vom frischen, mit Kräutern und scharfer Paprika überstreuten Ziegenkäse.
Manchmal ist das Leben ganz einfach, ganz konkret, sehr befriedigend, sehr stimmig. Man begreift etwas, und dann ist es so, wie Rilke es meinte, als er von “wachsenden Ringen” schrieb, “die sich über die Dinge ziehn”.
– – –
Als ich am 3. August zum ersten Mal nach langem wieder ins Internet ging, lagen auch Berichte über die Corona-Demo in Berlin im Postfach.
Ich hatte in völliger Nachrichtenabstinenz fast eine ganze Woche mit Freunden und Büchern verbracht und weder von der Demonstration noch vom bereits während der Veranstaltung tobenden Streit um die Höhe der Teilnehmerzahl etwas mitbekommen. Aus diesem Grund hatte ich mich natürlich auch nicht dazu “geäußert”, hatte diese “mit Macht anbrandende, zweite politische Welle” nicht “eingeordnet” und auch nicht den Versuch unternommen, da “etwas mitzugestalten, wenigstens im Nachhinein”.
Die Zitatfetzen: aus ein paar Mail zusammengestellt, aus euphorischen, fordernden, auffordernden Mails von Lesern, die in der Berliner Demo eine Frischzellenkur für uns “Neue Rechte” vermuteten und nun voller Ungeduld “einen Fingerzeig, eine Richtungsweisung” erwarteten.
Vermutlich enttäuscht meine Antwort diese Ungeduldigen: Selbst dann, wenn ich nicht unterwegs, nicht in eine besondere Ruhe abgetaucht gewesen wäre, hätte ich mich keinesfalls nach Berlin aufgemacht. Ich will die Gründe dafür nennen, und vielleicht mildert das die Enttäuschung.
Ich bin zum einen der Überzeugung, daß die “Neue Rechte”, als einer deren Knotenpunkte unsere Arbeit hier gelten darf, für diese “zweite politische Welle” keine Rolle spielt. Wir kennen weder die Organisatoren noch die Spielmacher dieser Protestbündnisse, wir haben nichts angeleiert, angeschoben, aufgebaut oder begrifflich versorgt. Wir könnten aufspringen, aber das ist nicht notwendig: Das, was ich unter “Neue Rechte” verstehe, ist ein kommentierendes, publizierendes, nachdenkendes und nachdenkliches Projekt, dessen Beteiligung an Massenveranstaltungen nicht ins Gewicht fällt.
Und mehr, also zweitens: Wir stehen seit fünf Jahren im Mittelpunkt eines Spektakels, in dessen Verlauf es dem politischen und metapolitischen Gegner gelungen ist, uns einen Stempel aufzudrücken, der zu uns zwar nicht paßt, dessen Prägung aber dennoch mächtig wirksam geworden ist. Wir gehören mittlerweile zu denjenigen, mit denen man andere, noch unverbrauchte, noch nicht klar markierte Akteure kontaminieren, beschädigen, sogar zur Distanzierung von uns zwingen kann.
Man muß, ist es einmal soweit mit einem gekommen, gründlich erwägen, ob man hier oder dort überhaupt auftauchen sollte. Ich will niemanden in die Lage bringen, sich von den “Superspreadern” (Haldenwang) zu distanzieren. Vermutlich würden das die Veranstalter noch nicht einmal tun, das nehme ich an, weil der geradezu sanfte, harmonisierende, von warmen Herzen, nicht vom kalten Verstand kommende Charakter des Auftritts unübersehbar ist. Das mag übrigens auch der Grund dafür sein, daß (im Gegensatz zu den Überfremdungs- und AfD-Demos) ein so hoher Frauenanteil auf der Straße zu sehen war.
Ein Drittes: Natürlich erleiden die Medien täglich Glaubwürdigkeitsverluste, aber was ändert das an den Machtverhältnissen? Den DDR-Medien hat überhaupt niemand geglaubt, und mit Teilen der Westmedien stand sogar eine komplette, professionelle Gegenöffentlichkeit zur Verfügung. Trotzdem war im Alltag entscheidend, was das “Neue Deutschland” verkündete, denn dort erfuhr der DDR-Bürger, wie er sich zu verhalten hatte, wie er reden mußte, wann er das Maul halten mußte, wenn er keine Schwierigkeiten bekommen wollte.
Heute wie damals verbindet sich mit der Lügen‑, der Lückenpresse reale Macht, und darauf kommt es an. Ein Restle, eine Reschke, eine Diekmann, ein Gensing: Die können alles, was auf der Straße los ist, gut eingeölt an sich abtropfen lassen und sich darauf konzentrieren, wie sie den nächsten Nazi, den nächsten Fall für den Verfassungsschutz konstruiert kriegen.
Kurzum: keine Romantik, sondern Nüchternheit! Das nicht Eindeutige, das nicht Festlegbare, das Wage, Unkalkulierbare – das könnte die große Stärke der neuen Demonstrationen sein. Denn wenn es überhaupt etwas gibt, das dem politisch-medialen Komplex unheimlich ist, dann das Gefühl, etwas nicht in den Griff zu kriegen, etwas nicht kategorisieren zu können.
Soll sich das neue Bündnis doch erst einmal festigen, oder vielmehr: gar nicht recht festigen, sondern auf eine überraschend amorphe Weise mit möglichst vielen Leuten auftauchen und da sein. Genau das machen sie doch sehr gut. Und wenn dann deutlich werden sollte, daß man eine politische Korsettstange braucht, wenn also von dort (nicht aus unserer Richtung) Fragen kommen – dann wäre doch eher die AfD die richtige Kammerzofe, also eben auch eine Struktur, die auf Masse (auf Wähler) zu zielen hat, nicht wie wir auf ein paar tausend Leser oder höchstens auf eine Buchmesse.
Projekthygiene also, auch hier. Über uns geht gerade die zweite Welle hinweg, das ist für unser Land und für uns selbst nicht schlecht. Wir haben unser Blatt ziemlich ausgereizt, oder? Wir haben fünf Jahre lang gewirbelt und ordentlich etwas abgekriegt. Auf Anraten des Staatsschutzes ist unser “Elfenbeinturm” mittlerweile teilvergittert.
Daß dies notwendig wurde, mag an der Beteiligung seiner Gründer, Bewohner und Autoren an einem mehrjährigen Provokations- und Strukturgemetzel liegen, das sie unter anderem auch in Dresden, Leipzig, Berlin, Frankfurt und Halle auf die Straße und ins Getümmel geführt hat – ohne Maske und Masse, ohne Pseudonym und Rückversicherung.Wir haben es bis zum Karrierebaustein Haldenwangs gebracht, und die Namen unserer Projekte und Protagonisten muß man niemandem im politischen Betrieb mehr erklären.
Ein bißchen Windschatten wäre mir für uns nicht unrecht. (Bloß: daraus wird nichts, das weiß ich.)
– – –
In den wenigen freien Tagen lernte ich fast den ganzen ersten Teil des Stundenbuchs von Rilke auswendig. Rezitierend Fahrenheit-451-Gänge durch einen Wald und über eine Höhe, die vom Vertrockneten und Abgestorbenen ausgelichtet sind. Schon schiebt wertvolle Substanz nach: junge Buchen, Eichen, Birken, die sich festzukrallen beginnen und nicht mehr brauchen als Regen, Sonne, Platz und ein wenig Boden.
Wie schon so oft der Eindruck: Das Buch suchte sich seine Landschaft. Mit dem Rücken an einem von der Sonne aufgeheizten Stein sitzend Meditation über einen rätselhaften (oder schon sonnenklaren?) Vers, der auf den Boden in uns zielt:
Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift.
RMH
Bester G.K. Artikel seit langem.
Und zur rechten Zeit!