Wachsende Ringe – Tagebuch (2)

Obwohl wir nur hier, in unserem Blog, und nur ein einziges Mal für die Teilnahme an unserer Sommerakademie warben, waren wir nach drei Tagen ausgebucht:

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Über 150 Anmel­dun­gen gin­gen bei uns ein, zulas­sen kön­nen wir im Sep­tem­ber aller­dings nur rund neun­zig Hörer, die Coro­na-Auf­la­gen sind ein­deu­tig. Wir haben also sofort über sech­zig, mitt­ler­wei­le über fünf­und­sieb­zig Stu­den­ten absa­gen müs­sen – und den­ken bereits dar­über nach, die­sel­be Aka­de­mie ein paar Wochen spä­ter ein­fach zu wiederholen.

Daß unse­re Ver­an­stal­tun­gen so beliebt sind und daß sich die Teil­neh­mer weder von der ins Absur­de getrie­be­nen VS-Dro­hung noch von der Anti­fa-Folk­lo­re vor dem Gast­hof und vor unse­rem Ver­lags­ge­bäu­de abschre­cken las­sen, wun­dert mich grund­sätz­lich nicht: Wo gäbe es etwas ähn­li­ches sonst? Etwas von par­tei­na­hen Stif­tun­gen oder von gro­ßen Kon­zer­nen so ganz und gar Unab­hän­gi­ges ? Wo auch nur annä­hernd sol­che Ver­dich­tungs­ta­ge im Kreis geäch­te­ter und nicht zuletzt des­we­gen breit und gründ­lich rezi­pier­ter Publi­zis­ten, denen der Geg­ner offi­zi­ell bloß das Boh­ren dün­ner Bret­ter, inof­fi­zi­ell jedoch seit Jah­ren die treff­si­chers­ten poli­ti­schen Pro­gno­sen zutraut?

Aber dann, bloß ein paar Tage, ach was: bloß ein paar Stun­den spä­ter wundert’s mich doch ganz und gar, daß so vie­le so jun­gen Leu­te so weit fah­ren und von so weit her­kom­men, um zu hören und mit uns zu bespre­chen, was wir zu sagen haben. Ich kom­me mir unred­lich vor, hal­te mich für einen Schar­la­tan, der Ange­le­se­nes, Pas­send­ge­dach­tes, Gele­gent­li­ches, in Stim­mun­gen Zurecht­ge­bo­ge­nes aus­brei­tet, obwohl doch im Moment des Sagens bereits die intel­lek­tu­el­le Erkennt­nis par excel­lence den Fuß in die Tür stellt:

Was Du da sagst: Man könn­te das alles auch anders sagen, anders sehen, anders deu­ten. Woher nimmst Du Dei­ne Sicher­heit? Wäre es nicht ange­bracht, Dich den “Vor­läu­fi­gen” zu nen­nen? Som­mer­aka­de­mie, Sonn­tag, 11 Uhr: “Der Vor­läu­fi­ge” spricht jetzt zum Thema…

Im Grun­de: Die Krank­heit aller Geis­tes­wis­sen­schaft. Kaum etwas geht auf, vie­les ist Geplus­ter, Geschäu­me, Gequir­le, fast alles ist schon gut genug geschrie­ben wor­den, man müß­te es her­aus­su­chen und vor­le­sen und wür­di­gen. Ich weiß, daß es ande­re Gemü­ter gibt, vor allem unter His­to­ri­kern: die Able­ger, die Archi­vie­rer, die Auf­tür­mer, die Schnell­schrei­ber, die Zet­tel­kast­ler und vor allem die­je­ni­gen mit dem The­men­rie­cher, die durch offe­ne Scheu­nen­to­re rennen.

Glaubt mir: Die Tage vor den Aka­de­mien sind die schlimms­ten. Sie sind es, weil man weiß: Die­se vie­len jun­gen Leu­te – sie erwar­ten zurecht einen Hin­weis, einen Impuls, etwas von der Stim­mig­keit, die jeder braucht, der sei­ne Lebens­me­lo­die zu pfei­fen ler­nen will.

– – –

Der sieb­te Refe­rent hat nun auch end­gül­tig zuge­sagt. Er wird über das The­ma “Ord­nungs­staat, Rechts­staat, Sozi­al­staat” spre­chen. Aber einer fehlt noch, und das ist nun etwas, das mich wurmt und wun­dert. Gibt es unter unse­ren Lesern, Abon­nen­ten, Mit­den­kern kei­nen, der über Carl Schmitts “Ver­fas­sungs­leh­re” vor­tra­gen könn­te (45 Minu­ten, anschlie­ßend Debat­te), und zwar hin­zie­lend auf die erschüt­tern­den Mona­te Ende 1932, als Schmitt an dem Ver­such betei­ligt war, die Repu­blik mit­tels Prä­si­di­al­dik­ta­tur und Mili­tär­putsch noch vor Hit­ler zu retten?

Wenn doch, wenn sich also einer fin­det: anmeldung(at)staatspolitik.de – Hono­rar, Hotel und die legen­dä­ren “Gesprä­che in der Sicher­heit des Schwei­gens” sind selbstverständlich.

– – –

In der Hit­ze, also am See oder im Gar­ten oder mit einer Kan­ne Minz­tee in einer Ahnung von Nacht­küh­le: Lesen. Wie­der, wie so oft, immer häu­fi­ger: nichts Neu­es mehr, son­dern wie­der­hol­te Lek­tü­re, Wie­der­vor­la­ge. Ich hat­te dar­über für die längst ver­grif­fe­ne Sezes­si­on 94 geschrieben:

Von Kin­dern kennt man das: Man erzählt ihnen Mär­chen, Anek­do­ten, Rei­me, und die­sel­ben Geschicht­chen wer­den nun über Wochen Tag für Tag ver­langt. Das Zuhö­ren, die Span­nung, die Erleich­te­rung sind ritua­li­siert, und zum Ritu­al gehört, daß der Wort­laut der­sel­be blei­be, daß sich das Gefühl, das sich ein­stel­len soll, erwart­bar ein­stel­le, kurz­um: daß nicht vari­iert, nicht abge­wi­chen wer­de. Etwas ist also gewiß: gewiß immer so! Erst spä­ter, wenn die Kin­der grö­ßer sind, wird der Per­spek­tiv­wech­sel inter­es­sant, kann man das Pferd mal so, mal anders­her­um auf­zäu­men, beginnt das Immer­glei­che zu lang­wei­len, grei­fen sie aus.

Es ist so: Ellen Kositza liest fast nichts ein zwei­tes, drit­tes, nie irgend­et­was ein zehn­tes Mal, es sei denn, sie muß sich ver­ge­wis­sern, ob sie sich an eine Pas­sa­ge rich­tig erin­nert, auf die sie sich bezie­hen will. Wie Bene­dikt Kai­ser gehört sie zu den Viel­le­sern, die Unmen­gen an Büchern und Arti­keln durch­ge­hen und ver­ar­bei­ten kön­nen. Das bedeu­tet nicht zugleich, daß die bei­den Bücher nicht genie­ßen könn­ten – hier wie dort steht die Bel­le­tris­tik hoch im Kurs. Aber eines tun sie nicht: den Genuß wie­der­ho­len, Bücher oder auch nur Stel­len auf­su­chen wie einen Kräu­ter­gar­ten oder einen Medi­zin­schrank. Oder wie ein Gebet.

Ich selbst lese man­che Bücher oder Pas­sa­gen aus Büchern wie Heil­sud, wie For­meln, lit­ur­gisch, auf Wir­kung. Sie wir­ken wie Musik­stü­cke oder wie der Besuch eines Got­tes­diens­tes, in dem noch lit­ur­gi­sche Treue herrscht.

Ich muß Stel­len aus Klep­pers “Der Vater” alle paar Mona­te ein­mal lesen. Eben­so Stel­len von Ernst Jün­ger, von Erhart Käst­ner, von Gott­fried Benn, Hans Ber­gel, Chris­toph Rans­mayr, Franz Wer­fel, Wolf v. Nie­bel­schütz, Horst Lan­ge, Knut Ham­sun. In der wie­der­hol­ten Lek­tü­re steckt Ver­ge­wis­se­rung, also: Gewiß­heit. Davon war oben bei den Kin­dern schon die Rede. Daher zwei Behaup­tun­gen: Die Wie­der­holt-Leser sind kind­li­cher als die ande­ren, und sie kön­nen mit Lyrik, der Wie­der­ho­lung als Gebil­de, etwas anfan­gen. Sie woh­nen in den Büchern und Gebil­den, sie strei­fen weni­ger umher.

Wohl­tu­en­de Frag­lo­sig­keit, seß­haf­tes Gehirn, Wie­der­her­stel­lung. Die Grund­be­ru­fe – der Arzt, der Koch, der Bau­er, der Pries­ter: Wiederhersteller.

(Mein Twit­ter-Account besteht aus 451 Esels­oh­ren in 50 Büchern. Der ein­zi­ge Fol­lower bin ich selbst. Kaum je kommt ein neu­er Tweet hinzu.)

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (12)

Volksdeutscher

12. August 2020 00:20

Die Begeisterung der Jugend für die rechte Sache stimmt hoffnungsvoll. Die Wiederholung bei dieser Beliebtheit wäre also wirklich von Nöten. Leider gehöre ich nicht mehr zu dem Alterskreis, um daran teilnehmen zu können.

Heinrich Loewe

12. August 2020 00:29

Man hat heute die Getreideernte fertig, die Anspannung fällt ab, kann deswegen nicht schlafen, steht nochmal auf und findet dann "at-home" ein paar Sätze, in denen man sich so wiederfindet...Daß Frau Kositza fast nur Neues liest, liegt an der weiblichen Neugier. Oder besser: einer Art Lebenshunger, die uns Männern manchmal abgeht - allzuoft schon beobachtet. Der Nachtrag in Klammern ist derart herzerfrischend, daß er in das Layout der Netzseite eingebaut werden sollte. Wie nennt man das, ..."Signatur"? Spende anbei. Den jungen Leuten würde ich mitgeben: Die Hinführung auf die einfachen, wesentlichen Dinge; den ruralen, familiären Lebensalltag.

 

Nemo Obligatur

12. August 2020 08:01

Im Grunde gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder liest man soviel, wie man nur irgend lesen kann. Oder man erkennt, dass man in seinem Leben noch nicht einmal das Lesenswerte annähernd schaffen kann, dann beschränkt man sich auf das Notwendige.

Ernst Jünger (gehört für mich zu den Notwendigen) hat irgendwo notiert, dass es mit dem Lesen von Büchern ist wie dem Aufschichten von Ziegelsteinen. Wenn man es sich zur Gewohnheit macht, kann man am Ende seines Lebens in einem Palast wohnen.

Monika

12. August 2020 09:17

Also! Eselsohren in Büchern gehen überhaupt nicht! Das hat mir meine Mutter schon früh ausgetrieben. Heute gibt es kleine Markierungspfeile zum Einkleben, in verschiedenen Farben, auf einem kleinen Lineal. Da kann man die Lieblingsstellen  noch zart unterstreichen. Ich lese kaum was Neues und bin Wiederholungsleser. ( Ich wünsche niemandem einen Nachlass mit Simmel , Konsalik und Däniken u.ä. 😢😢). Ich versuche, meinen Bücherbestand auf 2qm zu begrenzen. Ab und an Inventur. Am Schluss sollte alles in zwei schöne französische Holzweinkisten passen. Oder drei. Ernst Jünger Gesamtausgabe ausgenommen...

quarz

12. August 2020 09:27

@Volksdeutscher

Veranstaltungen exklusiv für die jungen Leute haben was für sich. Der "Zeltlagergeist" stiftet auch dann, wenn es mehr um geistige Dinge geht als um Lagerfeuerromantik, eine besondere Aufbruchsatmosphäre, in der Ältere nur stören würden.

Dennoch vermisse ich einen komplementären Versuch, die notorisch auftretenden gegenseitigen Sticheleien ("Grünschnabel"-Schulmeisterei vs. "Boomer"-Polemik) zwischen den Altersklassen im "rechten Mosaik" zu überbrücken, die nur unnötige Reibungsverluste erzeugen.

Diejenigen von uns, die bereits im Rentenalter sind und über entsprechende Freizeit verfügen, könnten z.B. ihr spezifisches Wissen und Können in Seminaren an junge Mitstreiter weitergeben. Um gegen den Goliath des Merkelsystems bestehen zu können, müssen diese in Bezug auf Faktenwissen, Rhetorik und mentale Stärke 300% besser sein als die mit Floskeln operierenden "Fließbandindividualisten" ((c) D. Engels) der Gegenseite. Dann kann Alphatier-Charisma seine Wirkung auf Disputzeugen entfalten.

In der Nachwuchsschulung gilt es unter anderem jene Wissenslücken zu schließen, die absichtlich geschaffen wurden, um die Sherpas der staatlichen Narrative nicht zu verunsichern. Und über viel von diesem fehlenden Wissen verfügen jene, denen es altersbedingt in ihrer Jugend noch nicht vorenthalten wurde und die es nun organisiert weitergeben könnten.

Laurenz

12. August 2020 09:43

@Nemo Obligatur

Gut formuliert. Ernst Jünger ist eine Ausnahme. Daß der Soldaten-Dichter die Front überlebte, über 100 Jahre alt wurde, ist rein dem Gott Zufall oder den Nornen geschuldet. Gorch Fock soff am Skagerrak mit der "Wiesbaden" ab (wurde in Schweden angespült) & Hermann Löns fiel früh bei einem Angriff an der Westfront (im Alter von 48 Jahren).

Die Frage nach dem Lesen hat etwas mit dem einzelnen Menschen an sich zu tun. Wenn man liest, konsumiert man das, was aus anderen Menschen kommt. Menschen, aus denen selbst viel kommt, haben einfach wenig Zeit zum Lesen, weil sie entweder selbst am schreiben -, oder mit etwas anderem, aus innerem Drang, beschäftigt sind.

Hier mein liebstes Löns-Lied "Rosemarie", Musik Fritz Jöde, hier gesungen von Hermann Prey https://youtu.be/GBfLaq9q4GY  zum sterben schön.

Ein gebuertiger Hesse

12. August 2020 10:15

@ Monika

"Also! Eselsohren in Büchern gehen überhaupt nicht! Das hat mir meine Mutter schon früh ausgetrieben. Heute gibt es kleine Markierungspfeile zum Einkleben, in verschiedenen Farben, auf einem kleinen Lineal."

Das stimmt nicht unbedingt. Eselsohren sind Zeugnisse der persönlichen Benutzung eines Buchs. Bibliophilie und Buchschonung fallen nicht notwendig zusammen. Wie lange habe ich meine liebsten Bücher auf geradezu behandschuhten Händen getragen wie Reliquien, wobei die physische Lektüre - also das Wichtigste - wie spurlos an ihnen vorbeigehen sollte. Irgendwann fand ich diesen Purismus elfenhaft, überzüchtet, auch unmännlich. Eselsohren mache ich seither zwar immer noch keine, doch werden Bücher nun normal behandelt, und je älter ich werde, schätze ich es umso mehr, nach Jahren noch Indizien meines Gebrauchs in ihnen wiederzufinden.

Franz Bettinger

12. August 2020 11:20

Meine Bücher leben. Sie leben mit mir, werden ein Teil von mir. Jedenfalls die guten. Sie sind voller Unterstreichungen, Randglossen und Zusammenfassungen vorn und hinten; nein, Rücksicht wird nicht genommen. Bücher wie Röde Orm und Unterm Rad, die ich als junger Mensch verschlang, verdaute, in mir aufnahm und so zu einem Teil von mir selbst machte, zeigen mir heute noch, wer ich war und immer noch bin. 

Fritz

12. August 2020 12:00

Haben Sie keine Angst, dass sich unter den vielen Interessierten evtl. auch ein Agent Provocateur oder ein Störer befinden könnte?

antwort kubitschek:
Angst? Haben Sie "Angst" geschrieben? Was ist das: Angst? Also Fürsorgepflicht, ja, und wir haben schon sehr gründlich nachgeschaut, keine Sorge. Aber Angst?

Ein gebuertiger Hesse

12. August 2020 13:16

@ GK

Und ja, diese "intellektuelle Erkenntnis par excellence" - die Vorläufigkeit dessen, was man selbst sagt, schreibt, nach draußen gebt, der Umstand, daß dies schon von anderen bedacht, anders bedacht worden ist - kann einem wie eine Sträflingskugel an der Ferse hängen und beansprucht doch eine natürliche Wahrheit. Daß man aber, und gerade jemand wie Sie, über diese Krux hinausgeht, weil man in dieser und keiner anderen Zeit lebt und das Nach-draußen-Geben sein soll, sein muß, macht, daß sich die Dinge überhaupt bewegen und ein geistiger Findungsort wie Schnellroda überhaupt hat entstehen können. Das mag ähnlich sein wie Eselsohren machen - das Buch hat eine Schramme, aber die Spur ist gelegt und für einen selbst und andere da.

Volksdeutscher

12. August 2020 13:21

@quarz

Vielen Dank für den Hinweis. Ich war mir schon immer skeptisch, was man gemeinhin das Alter nennt. Ab wann ist man denn alt und ab wann gilt man als alt?

Wenn ich mir vorstelle, daß ich jetzt 25 wäre und mir die Frage vorlege: Würde dich stören wenn Leute an einer Veranstaltung teilnähmen, die doppelt so alt wären wie du? Dann würde ich glatt sagen: "Nein".

Wenn man mich aber fragen würde, ob es für mich einen Unterschied hinsichtlich der Stimmung gäbe zwischen einer Veranstaltung mit Leuten von 50 Jahren und einer Veranstaltung mit Leuten von 25 Jahren, da würde ich die Frage bejahen.

Die entscheidende Frage wäre jedoch die, welche der beiden Generationen würde (mehr) stören, daß die andere mit anwesend ist.

Götz Kubitschek

12. August 2020 17:38

badeschluß, liebe follower. das dutzend ist voll.

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