Stattdessen am Schreibtisch, wie angekündigt. Post, Lektüre, Lektorat, vor allem aber Aufräumarbeiten, also Ablage der Korrespondenzstöße und Aussortieren der viel zu vielen neuen Bücher, die sich deshalb in größerem Umfang als früher ansammeln, weil der Druck on Demand der Pest des Selbstverlags die Ausbreitung erleichterte. Wieder also: ein Paradigma. Wir schätzen die Freiheit, begrüßen die Umgehung der gekaperten und gleichgeschalteten Instanzen, diese Barrieren vor der veröffentlichten Meinung – und bekommen vor allem das Nicht-Ausgesiebte vor die Augen gekippt, das, was kein an Qualitätsmaßstäben ausgerichteter Lektor oder Verleger hätte durchgehen lassen.
Wie gründlich an einem Buch gearbeitet werden kann, zeigt mein Austausch mit Martin Lichtmesz, der an sein neues Buch Ethnopluralismus. Eine Verteidigung letzte Hand legt, bevor am Montag der Setzer setzen und Caroline Sommerfeld Endkorrekturen zusammentragen wird. Die Diskussionen mit ihm über die letzten Verteidigungslinien, die wir für den ethnischen Anteil am Volksbegriff einrichten können, müßten im Grunde als Anhang in sein Buch aufgenommen werden.
Wissenschaftlichkeit, politische Strategie, verbale Selbstzensur, Gewichtungsunterschiede – alles das würde deutlich, und darüber hinaus eben vor allem eines: Wie genau wir es nehmen mit der Verlagslinie und mit dem Anspruch, die für unsere Denkrichtung wichtigen Bausteine gründlich bearbeitet zu vermauern.
Inhaltlich ist das Ganze ein Schock: Wie rasant das ius sanquinis von seiner Verankerung im Grundgesetz (und im gesunden Menschenverstand) abgerutscht ist zu einer nur noch von vermeintlichen Rassisten vorgetragenen Überzeugung. Die Frage ist: Kann man aufgrund “realpolitischer Erwägungen” von der Herkunft des Volkes, also von seiner Wirklichkeit als Abstammungs- und Fortpflanzungsgemeinschaft absehen? Muß man, weil er zum verfassungsgerichtlich angesetzten Hebel geworden ist, den ethnischen Volksbegriff aufgeben? Muß den Sieg eines höchstrichterlich festgezurrten politischen Willens akzeptieren, wenn man weiterhin mitspielen will?
– – –
Fließender Übergang: Es wäre ungerecht, die Bilder und die zentralen Reden aus Berln unter dem Eindruck der Vermutung Jürgen Elsässers zu beurteilen, es handelte sich beim 29. August um den wohl wichtigsten Tag der deutschen Geschichte seit 1945. Solche absurden Aufladungen sind entweder der Ausfluß von Geschäftssinn oder der fahrlässige und durch nichts gedeckten Wunsch nach einem Putsch. Oder glaubte da jemand im Ernst, die bloße Anwesenheit und das bloße Gewicht von “Millionen auf der Straße” reiche in einem so flexiblen System wie dem unseren aus, daß sich die Kanzlerin leise weinend in einen Hubschrauber begebe, um außer Landes zu fliehen?
Man sollte sich davor hüten, von sich selbst eine Karikatur zu zeichnen – und von allen anderen gleich mit, die sich aufmachten und nun wieder zuhause sind und weiterhin unter derselben Regierung, in derselben Gängelung, vor denselben Problemen, demselben Bankrott, derselben toxischen Atmosphäre stehen wie vor Berlin, trotz des vermeintlichen 1945er-Moments …
Wo war der gemeinsame Nenner in Berlin, und zwar nicht der kleinste, also dieses grundsätzliche Mißtrauen in die redlichen Absichten der politischen Führung und der von ihr gefütterten Medien, sondern der größte: Worauf können sich alle einigen, die dort waren, um zu demonstrieren, Flagge zu zeigen? Es ging gegen die Corona-Maßnahmen, gut, aber war es das? Dann wäre das Ziel ja bloß dieser Zustand “davor”: Alles bestens, hätte die Regierung nicht durchgedreht und den Virus ernst genommen.
Nein: Jede Gruppe, jedes Projekt, das antritt, um das System Merkel niederzukämpfen, muß eine Antwort auf die Frage geben, wie es nach dem “Day after” mit unserem Land, unserem Staat weitergehen sollte.
Im Deutschlandfunkinterview äußerte der Soziologe Professor Dieter Rucht, daß man vermutlich keinen gemeinsamen Nenner über dieses grundsätzliche Mißtrauen hinaus finden könne. Vielmehr speise sich die Demonstration aus sehr vielen Einzelanliegen, die tatsächlich Gruppierungen von ganz links und ganz rechts neben monothematischen Bewegungen (Impfgegner, Chemtrailer, solche, die für Deutschland einen Friedensvertrag fordern oder noch auf ganz andere historische Fragen zu sprechen kommen wollen) für einen Tag in einer Querfront vereine und nebeneinander auf die Straße bringe.
“Rechtsoffen” hat Martin Sellner die Stimmung dort genannt, und das ist zugleich viel und nichts: viel, weil es etlichen Leuten das Erlebnis bescherte, für ihr “Anliegen” nicht gleich in die Nazi-Ecke abgeschoben zu werden; akzeptiert zu werden ist aber zugleich nichts, denn es bedeutet, daß man vor allem selbst etwas zu akzeptieren hat, das weit hinter dem zurückbleibt, was man zuvor für unverhandelbar hielt.
Aus Sicht der “Querdenker” war und ist es ganz und gar das Richtige, so wenig festgelegt, so wenig vereinnahmt wie möglich zu agieren und tatsächlich quer über den Lagern zu liegen. Wir selbst sind ja nicht mehr weitergekommen mit unseren Methoden und Versuchsanordnungen in den vergangenen Monaten. Die Konfrontation auf eine neue, noch unberechenbare, noch nicht festgestellte Art zu suchen, ist notwendig und sollte von uns nicht gestört werden. Die Festlegungs- und Denunziationsversuche laufen sowieso schon, diese Posse eines dynamischen Gruppenfotos auf den Reichstagstreppen paßt den Wichtigtuern in Politik und Medien, diesen bestbesoldeten Hausbesetzern unserer “Herzkammer” so richtig in den Kram.
Von einer Vereinnahmung der “Querdenker” durch rechte Gruppen oder Strukturen konnte, das ist mein Eindruck, in Berlin keine Rede sein. Dazu sind die Beweggründe für die Anreisen eben viel zu individuell, zu verschieden, zu disparat, und das Ausgrenzende, Abgrenzende, Exklusive, das jeden rechten Politikentwurf zwingend prägt, stieße tatsächlich gleich auf Ablehnung, würde es in seiner ganzen Härte und Tragweite auf die Bühne gebracht.
Als ich zum Auftakt der Veranstaltung an der Siegessäule auf einen Live-Stream schaltete, ließ sich dort gerade eine Gruppe auf dieser zentralen Bühne nieder, die von einem Mann mit orangenem Turban angeführt wurde. Diese Gruppe trat an, um mit einem gesungenen und getrommelten Mantra eine Atmosphäre kräftiger, toleranter, friedfertiger Herzen wo nicht herzustellen, so doch wenigstens herbeizusehnen …
Man muß nicht alles rekapitulieren, was davor und danach noch alles im Live-Stream zu besichtigen war: welche Leute, Botschaften, Anliegen, Vermutungen, Schlüsselbegriffe, und welche Hoffnung auf die Losungen Toleranz, Liebe, Freiheit, Wahrheit und Menschheit, auf Nähe, Seele, Glück, Graswurzel und Basisdemokratie gesetzt wurden.
Jedenfalls: Das alles ist ebenso entgrenzt wie unpolitisch. Machtlos waren und sind immer diese Forderungen nach Friedensvertrag und verfassungsgebender Nationalversammlung: Wer erinnert sich noch an Alfred Mechtersheimers Friedenskomitee, in dem sich vor rund fünfundzwanzig Jahren eine nationale Querfront sammelte, in der Urgrüne, Linksnationale um das Projekt “Wir selbst”, Völkische, Bündische, Neue Rechte, Friedensbewegte, Atomkraftgegner sich sammelten und einige große Friedensfeste veranstalteten, mit tausenden Teilnehmern?
Schon damals diskutierten wir uns den Mund fusselig und bekamen mit Mechtersheimer Ärger, weil wir an eines nicht glaubten: an das eine erlösende Thema, den einen erlösenden Schritt durch die Mauer, an eine geistige Grenzöffnung, einen historischen Befreiungsschlag, einen epochalen Schritt hinauf in ein schöneres, selbstbewußteres, fruchtbareres, fleißigeres, wieder mehr deutsches, wieder weniger fremdbestimmtes Leben. Man darf Heilserwartungen einfach nicht mit Politik verwechseln und das gute Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein, nicht mit Macht.
Also: Nach Berlin zu fahren und sich anzuschließen, war für zigtausende Aufgebrachte, Verzweifelte, Entschlossene, Entrüstete sicherlich das beste, was sie tun konnten. Jedoch: Dort zu sein und nach aller Erfahrung, Lektüre, Beteiligung, Forderung aus den letzten dreißig Jahren nun der Formierung des allerkleinsten Nenners zuzustimmen (Freiheit, Menschheit, Liebe, Frieden) – mir hätte das kein Mensch abgenommen.
– – –
Vielleicht auch deshalb: Las eben im Tagesspiegel einen Artikel über die Einweihung eines Denkmals für die polnischen “Befreier” Berlins, die “wir” gestern vor 81 Jahren ja zunächst einfach so überfallen und selbst im April 45 nicht freudig begrüßt hätten. Der kleinste gemeinsame Nenner wäre für mich, diesen Artikel für abgründig zu halten, für ein so ahnungsloses und ahistorisches Gelaber, für einen solchen Nationalmasochismus, daß es einem den Atem verschlagen sollte.
Diese Befreier hatten – so der Autor – nach der Kapitulation Deutschlands “vorübergehend eine eigene Besatzungszone im Emsland”. Man reibt sich die Augen und weiß nicht mehr, was man sagen soll. Vielleicht dies: Diese Befreier entrechteten, vertrieben, enteigneten, internierten, folterten, vergewaltigten und ermordeten die Deutschen aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und Ostbrandenburg und behielten diese Gebiete ein.
Und weiter: Wir kommen heute gut mit den Polen aus und sind froh darum, daß sie das deutsche Erbe zu pflegen begannen. Wir wissen, daß sie aus Ostpolen selbst vertrieben wurden und daß dort für sie nach 1945 der Krieg ebensowenig zu Ende war wie für unsere Landsleute in den Besatzungszonen. Aber niemals sollte das dazu führen, daß wir ihrer Armee und ihren Vertreibungsverbrechern Denkmäler setzen.
MARCEL
Es gibt eine Revolution der Sichtbarkeit, wenn berechtigte Anliegen, überhaupt Grundrechte, aus der Verborgenheit heraustreten, das ist schon revolutionär.
Ja, es gibt keine Rezepte, vielleicht nicht einmal unbedingten Glauben, dafür reichlich Skepsis durch die Hypothek vieler gescheiterter Versuche.
Aber, es gibt uns in unserem "Weinberg". Lasst uns die "Talente" nicht vergraben aus Angst vor dem "Gott der Geschichte" Das allein sollte die Mächtigen beunruhigen. Ihre Fehler "machen" letztlich die Revolution...