Bevor ich mich grundsätzlich über die Kontaktschuld äußere, die Maron in meine, unsere Richtung vorgeworfen wird, verweise ich auf meine Beschäftigung mit einem ihrer Texte, den ich unter dem Titel “Zwischen den Zeilen. Innere Emigration heute” veröffentlichte. Ich bin im Falle Marons kein poetischer, sondern ein politischer Leser. Meine Gedanken sind die gekürzte Fassung eines Vortrags, den ich im Februar im Rahmen der Winterakademie “Lektüren” in Schnellroda hielt. Es gibt sie in schriftlicher und in gesprochener Form. Alles weitere: später.
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PDF der Druckfassung aus Sezession 94/Februar 2020
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Zwischen den Zeilen
Am 7. November des vergangenen Jahres veröffentlichte die Schriftstellerin Monika Maron in der Neuen Zürcher Zeitung einen Beitrag unter dem Titel “Unser galliges Gelächter – es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen”.
Schon der Untertitel ist eine Mitteilungstechnik: Marons Unterton legt nahe, daß es nicht mehr sonnenklar ist, inwiefern sich die DDR von damals und die BRD von heute im Umgang mit regierungskritischen Stimmen voneinander unterscheiden. Denn wenn es ihr auch fernliegen mag, DDR und BRD in diesem Punkte gleichzusetzen, sieht sie sich doch gedrängt, öffentlich darüber zu berichten, daß sie überhaupt wieder ans Vergleichen denke.
Der Text beschreibt eine besondere, ein gallige Art des Lachens, die in den Wohnungen (den Rückzugsorten unter diktatorischen Verhältnissen) zu hören gewesen sei, wenn man sich nach Feierabend traf und einander
erzählte, was man erlebt hatte auf dem Wohnungsamt, mit der Polizei, im Betrieb oder Institut, mit einem Parteisekretär, dem Chefredakteur, den Handwerkern, den Taxifahrern, beim Schuhekaufen für die Kinder, und fast alle diese Geschichten waren so absurd, dass man darüber nur verzweifeln, vor Wut toben oder darüber lachen konnte, wütend und verzweifelt lachen.
Nach dem Mauerfall sei, so Maron, dieses Gelächter nicht mehr notwendig gewesen, es sei verstummt, weil ja nun jeder alles sagen und schreiben konnte, was er sagen und schreiben wollte. Sie selbst habe ihre Aussiedelung von Berlin nach Hamburg (bereits im Jahr vor der Wende) ganz und gar als einen Gang in die Freiheit empfunden und erlebt, und die Gesellschaftsumbaubemühungen des linken und grünen städtischen Milieus seien zwar ulkig und lästig gewesen, hätten aber keine übergriffige Macht auf den Lebensentwurf und die Alltagsgestaltung, die politische Beteiligung oder Meinung des Einzelnen ausüben können.
Diese Zeiten, also: die Gewißheit, in einer tatsächlich freien Gesellschaft zu leben, seien vorbei, schreibt Maron.
Seit einigen Jahren höre ich es wieder, ein böses, hilfloses Lachen, von mir und von anderen, von Ostdeutschen und von Westdeutschen auch. Wir fragen uns gegenseitig, ob die alle irre sind oder wir selbst, und weil wir uns nicht erklären können, warum das alles passiert.
Das, was da alles passiert (Maron zählt ein paar Sachen auf), ist das, was seit zehn Jahren für die Hellhörigen und seit fünf Jahren für alle, die nicht taub sind, unüberhörbar aus dem Ruder läuft: das große Gesellschaftsexperiment, zu dessen Absicherung unser Staat Maßnahmen ergreift, die seinem Selbstverständnis zuwider laufen: Bevormundung, Vertuschung, Überwachung, Denunzierung und Kriminalisierung.
Für solche Ordnungsverletzungen, Lücken und Lügen, für dieses Auseinanderklaffen von Begriff und Bedeutung, Wirklichkeit und Wirklichkeitsbeschreibung, haben die ehemaligen DDR-Bürger feine Ohren, die feinsten Antennen, und vor allem stellt sich bei ihnen sofort die Erinnerung an eine gesellschaftliche Atmosphäre ein, aus der sie sich befreit hatten.
Es wird also wieder gallig gelacht – wir wissen von dieser zugleich befreienden und hilflosen Äußerungsform aus Marons Text, aber natürlich auch aus eigenem Erleben: Man ist ja in solchen Räumen unterwegs, kommt in solchen Wohnzimmern zu sitzen, in denen Gespräche so verlaufen und so münden. Aber sehr viele Leute machen sehr viel mehr als nur gallig zu lachen, auch Monika Maron. Ihr Tätigkeitsfeld ist der Text, ist die Autorschaft, und indem sie aus den (neuerdings wieder von DDR-Gelächter erfüllten) Wohnzimmern berichtet, hilft sie denen, die das nicht so genau in Worte fassen können, die Lage zu verstehen, einzuordnen, zu – vergleichen:
Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. … Wenn aber Zweifel schon verdächtig sind, wenn Fragen als Provokationen wahrgenommen werden, wenn Bedenken als reaktionär gelten, wenn im Streit nur eine Partei immer recht hat, können einen alte Gefühle eben überkommen. Und dann kann man darüber verzweifeln, vor Wut toben oder darüber lachen, unser schönes galliges Gelächter.
“Dieses Gelächter”, schreibt Monika Maron, “war eine Form des Widerstands”, und wir dürfen lesen: Es war damals in der DDR und ist heute in der BRD wieder eine Form des Widerstands – eine Selbstvergewisserung zunächst, etwas, das im Freundeskreis für Übereinstimmung sorgt, für eine befreiende, die Wut ableitende Gemeinsamkeit, die jedesmal nachspielt, was in dem Märchen von “Des Kaisers neuen Kleidern” vorgeführt wurde: das gemeinschaftliche Gelächter über nackte Tatsachen. Im Märchen platzt das öffentlich heraus, in der Phase des Zusammenbruchs von Diktaturen auch, aber zuvor wird schon im Verborgenen gedacht und gelacht, und öffentlich wird angedeutet, zwischen den Zeilen geschrieben, die Grenze des Sagbaren ausgereizt.
Es gibt für diese Technik des Schreibens in Chiffren den Begriff: “Innere Emigration”. Man faßte bald nach dem Krieg die in Deutschland während des Dritten Reichs verbliebenen, aber publizistisch widerständigen Schriftsteller unter dieser Bezeichnung zusammen.
Das bekannteste Werk, das dieser Epoche zugerechnet wird, ist Ernst Jüngers Roman Auf den Marmorklippen von 1939. Er rief in ihm den “Widerstand durch reine Geistesmacht” aus und zeichnete Schreckensszenarien von großer prognostischer Kraft. Andere Beispiele sind Werner Bergengruens Roman Der Großtyrann und das Gericht (1935, Thema ist das Wechselspiel aus Verdächtigung, Gefallsucht und totaler Herrschaft), Reinhold Schneiders Las Casas vor Karl V. (1938, über den Mut zur Anklage vor dem Herrscherthron) oder auch Friedrich Reck-Malleczewens Bockelson (1937, die “Geschichte eines Massenwahns” in der Zeit der Münsteraner Widertäufer).
Jedes dieser Werke konnte einfach als literarisches Werk gelesen werden, dann aber auch als politische Botschaft von denen, die zwischen den Zeilen zu lesen vermochten. Die Autoren meisterten Balanceakte: Zum einen durfte die Verschlüsselung das Dechiffrierungsvermögen der Leserschaft nicht überfordern, zum anderen aber dem Machtapparat keine eindeutigen Argumente an die Hand geben. Die ebenfalls der Inneren Emigration zugerechnete Schriftstellerin Elisabeth Langgässer nannte die sprachliche Jonglierkunst solchen Schreibens ein “Spiel mit sechserlei Bällen”.
Natürlich ist “Innere Emigration” über diese Epoche hinaus zur Bezeichnung für das nicht mehr ganz offene, ganz unmißverständliche Schreiben und Reden unter politisch enggefahrenen Verhältnissen geworden (um es einmal recht harmlos auszudrücken). “Innere Emigration” steht dabei nicht für einen Rückzug ins Private, ins Verborgene, ins Unauffällige, ins Schweigen, in die Verweigerung, die Nichtbeteiligung; sie steht für das Aufrechterhalten der Äußerung, für die geschickte Beteiligung dort, wo sie gewagt werden kann.
Es geht um Verhaltenslehren entlang einer Linie, die wahrzunehmen man erst (wieder) lernen muß: Was äußere ich wo, was verstecke ich lieber, welche Wörter, welche Wertungen schaden mir, wenn ich sie auch dort anbringe, wo wir uns nicht “in der Sicherheit des Schweigens” befinden (um ein Phrase Carl Schmitts zu bemühen)?
In die Innere Emigration zu gehen bedeutet, ein geistiges Doppelleben zu beginnen, also ins nicht mehr eindeutig Deutbare auszuweichen: in den Witz beispielsweise, in die Anspielung, in eine Sprache, die hinter den naheliegenden Sinn einen Hintersinn packt, also etwas zwischen die Zeilen schreibt, was nur derjenige zu lesen vermag, der so etwas ahnt oder auf so etwas hofft. Vor der Entscheidung, sich von nun an lieber indirekt zu äußern, steht das Gefühl (oder schon die Einsicht), daß es nicht mehr zuträglich sei, das, was gesagt werden soll, einfach zu sagen: eindeutig und klar und unmißverständlich.
“Kürzlich”, schreibt Monika Maron, “erzählte ich einem Freund, ich fühlte mich beim Schreiben zuweilen wie früher, als ich mein erstes Buch ‘Flugasche’ geschrieben habe, wieder gedrängt ins Politische, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt von dem Gedanken, was ich mir wohl einbrocke, wenn ich einen Protagonisten meines Buches diesen oder jenen Satz sagen lasse.”
Diese Äußerung einer erfahrenen, vor allem diktaturerfahrenen Schriftstellerin, führt zu der Frage, ob es heute auch (also wieder) die Notwendigkeit zu einer inneren Emigration gebe – und damit wahrnehmbare literarische Zeugnisse einer wiederbelebten Gattung.
Ist es so, daß sich Themen aufdrängen, daß eigentlich über diese oder jene Ungeheuerlichkeit sehr dringend geschrieben und gesprochen werden müßte, daß aber zugleich Form und Sprache, in denen noch verhandelt werden kann, einer Gratwanderung gleichen? Muß man sich als bereits anerkannte, also im literarischen Betrieb der BRD arrivierte Autorin, (und somit als jemand, der noch “etwas zu verlieren hat”) nun im Moment des Sagens und Schreibens zwischen Tarnung und Offenheit, Camouflage und Signalfarbe entscheiden?
Monika Maron spielt mit ihrer Beschreibung einer neuen Unsicherheit während des Schreibvorgangs auf ihren jüngsten Roman an. Munin oder Chaos im Kopf erschien Anfang 2018, Ellen Kositza und Susanne Dagen haben das Buch im Rahmen ihrer Literatursendung “Aufgeblättert. Zugeschlagen” besprochen, unsere Zeitschrift hat es rezensiert.
Chaotisch sind in Marons Roman drei Schichten: Den Hintergrund bilden gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen, an denen “die menschliche Vernunft zu scheitern drohte”: Die Angst, daß die Vorahnungen sich erfüllen könnten, ist gegenwärtig, das Wort “Vorkriegszeit” im Umlauf, aber alles ist doch zu vage und fern, als daß es eindeutig wäre und tatsächlich elementar ins Leben eingriffe.
Vor diesem dunklen Himmel widmet sich die Ich-Erzählerin einer Auftragsarbeit: Sie soll die Geschichte einer Stadt während des Dreißigjährigen Krieges schreiben, schafft es aber nicht recht, die chaotischen Kriege im Krieg, die Uneindeutigkeiten der Bündnisse und Verläufe zu ordnen und daraus etwas für die Stadt abzuleiten, in deren Auftrag sie arbeitet. Erst als sie das lapidare Kriegstagebuch eines Landsknechts studiert, kann sie auf einer für sie faßbaren Ebene schreiben: dem Schicksal und der inneren Versehrtheit eines Mannes, den seine chaotische Zeit, eine “Wolfszeit”, schwer verwundete und formte und der unter Umständen, die “von der Vernunft hätten erfaßt werden können”, ganz sicher ein ganz anderer geworden wäre.
Diese Spiegelung der Vorkriegszeit unserer Tage in den Vorkriegs- und Kriegsjahren des Dreißigjährigen Krieges wird von Maron noch einmal unter einem Brennglas verdichtet: Die Ruhe in der kleinen Nebenstraße der Hauptperson ist nicht etwa dahin, weil die großen Umwälzungen und Gesellschaftsexperimente ihren Bewohner zusetzten, sondern weil es da eine Frau gibt, die Tag für Tag auf ihren Balkon tritt und schrill und schräg singt, vor allem dann, wenn sie jemanden erspäht. Man wird dieser unausgesetzten Belästigung nicht Herr, weder juristisch noch durch gutes Zureden oder mit Drohgebärden, man muß ertragen, was kaum zu ertragen ist und muß ausweichen, weil man nichts ausrichten – sich wehren? zuschlagen? töten? – kann.
Die Erzählerin stellt ihr Leben auf den Kopf, schläft tags, arbeitet nachts, paßt sich völlig den neuen Umständen an, und das kann sie nur, weil sie allein, unabhängig, kinderlos ist, also: nicht um ein normales Leben, um Selbstverständlichkeiten kämpfen muß. Mit den anderen Anwohnern trifft sie sich zwei Mal zu einer Versammlung, aber sie verspürt keine Solidarität und beobachtet nur, daß man sich nicht einig wird: Es kommt zum Riß, der Wutbürger tritt auf, Deutschlandfahnen hängen aus Fenstern, instinktiv verknüpft man die kleinere Hilflosigkeit in der Straße mit der große Hilflosigkeit angesichts des großen Umbaus.
Manches in Marons Roman ist also explizit, aber wie als ferner Horizont beschrieben, manches historisch gespiegelt, manches in eine absurde Szenerie verlegt. Alle drei Methoden waren und sind Anspielungsformen der “Inneren Emigration”, also einer Literatur, die aufgrund einer im Autor wirkmächtigen Sorge um soziale Unversehrtheit kritische Deutungsebenen einzieht, auf die er nicht festgenagelt werden kann.
Es gibt weitere Werke aus jüngster Zeit, in denen wahrnehmungsfähige Leser solche Deutungsebenen entdecken könnten – zwischen den Zeilen also einen Subtext. Nicht jeder Autor geht dabei so weit wie Monika Maron, die nicht nur in ihrem Text vom galligen Gelächter Einblick in ihre Verfaßtheit und ihre schriftstellerische Verfahrensweise gibt.
Eugen Ruge beispielsweise hat im Oktober mit Metropol einen Roman vorgelegt, in dem er am Beispiel seiner Großmutter die entsetzliche Herrschaft des Verdachts in Moskau zur Zeit der stalinistischen Schauprozesse schildert – die Selbstdurchstöberung linientreuer Kader, die in sich nach letzten Gedankenverbrechen suchten, um sich komplett auf Linie zu bringen: eine Gesellschaft im ideologischen Hygienewahn, moralpolitisch eliminatorisch aufgeladen, erbarmungslos, im Zugzwang. Im Verlauf einer Lesung an einem der Buchmessentage in Frankfurt beugte sich Ruge nach vorn, als es sich der Moderator mit der Äußerung bequem machte, daß so etwas heute undenkbar sei: Ist das so? Sind wir uns da ganz sicher?
Das sind Andeutungen, Lesehinweise, und Ruge könnte im Zweifelsfall immer sagen, er habe das Aufkommen der AfD gemeint. Näher liegt aber, daß er die Verbannung rechter Verlage in Sackgassen meinte, oder das, was seinem Kollegen Uwe Tellkamp widerfährt: die Versuche einer von Hygienezwängen geplagten Gesellschaft, dem Autor des Turms (diesem Denkmal für das nach Innen emigrierte Dresdner Bürgertum) den Verlag zu nehmen.
Daß Suhrkamp standhaft blieb, daß auf die Distanzierung des Verlags auf Twitter keine Auflösung des Vertrags mit Tellkamp über dessen gerade fertiggestellten Roman folgte – woran mag das liegen? Es liegt wohl am Potential Tellkamps: Für manches Buch wünscht sich mancher Verlag wohl insgeheim einen so handfesten politischen Skandal, in dessen Verlauf zehnmal mehr Leser als sonst zum Buche greifen.
Daher eine Prognose: Es ist noch nicht wieder so weit, aber wir sind auf einem schlechten Weg hin zu einer neuen “Inneren Emigration”, einer Literatur zwischen den Zeilen, die unter freiheitlich-demokratischen Bedingungen natürlich ganz anders aussehen wird als unter totalitären …
Auf dem Weg dorthin aber findet ein Wettlauf statt, und unsere Hoffnung liegt in denjenigen Autoren, die nun zum Sprint ansetzen. Wenn sie es vor den Denunzianten und Kaputtmachern an die Tür schaffen, werden sie sie zuschlagen und sich davorstellen: Nein, werden sie sagen, es ist nicht notwendig, nach Innen oder sonst irgendwohin zu emigrieren. Wir und unsere Leser sorgen dafür.
Gustav Grambauer
Hier der pessimistische Teil:
Ei, was lese ich da gerade in Wikipedia über, ich zitiere mit Interpunktion, "Die Affaire S.Fischer-Maron" im Hinblick auf die Privatautonomie von Frau Maron (bitte mit dem Seitensucher auf "Horbach" gehen) - ja, woran woran denken wir denn da?!
Ab 5:50.
Oder wir denken an die Mutter von Vera Oelschlegel, wobei die Tochter neben Frau Maron gleich ein weiteres - hochaufschlußreiches, hier im Zusammenhang vieles erklärendes - Beispiel für eine Szondi`sche familiäre Negation bietet.
- G. G.