Von Christoph Ransmayr alles, wirklich alles, und alles ist gründlichst, mehrfach, zigfach gelesen, der letzte Schnipsel noch. Als Kositza und ich vor einem Jahr eine Idee Benedikt Kaisers aufgriffen und unseren Autoren und uns selbst die Frage nach lebensprägender Lektüre stellten, stand auf meiner Fünferliste ganz oben sofort der Name Ransmayr. Bloß welches Werk – das würde noch zu entscheiden sein.
Ich entschied mich dann für Die letzte Welt und schrieb den Beitrag über dieses Durchbruchswerk Ransmayrs in anderthalb Stunden herunter, weil seine Lebensstimmung und Welterschließungshaltung mir ins Blut übergegangen ist wie sonst kaum eine Lektüre.
Nachzulesen ist dieser Text in einem der schönsten Bücher, die wir je machten: Das Buch im Haus nebenan ist – an Bradburys Roman Fahrenheit 451 entlanggebaut – ein großartiger Beleg für die breitgefächerte Lektüre unserer Denk-Szene, die sich eben nicht auf einen Kanon oder einen schmalen Korridor festlegen ließe. Im Gegenteil: Es ist so, wie ein gestandener Rechter die Welt sowieso sieht – vielgestaltig, lebendig, schwer zu bändigen, voller Wege, von denen keiner weiß, warum sie, von irgendwoher kommend, aufeinandertreffen und eine Weile parallellaufen.
Warum ist Ransmayr, was er für mich, den Leser Götz Kubitschek, ist, und warum ist er das keineswegs für Ellen Kositza, wo wir doch beide auf derselben Spur durchs Leben gehen? Keine Ahnung. Bloß eines weiß ich: Daß Ransmayr nichts dafür kann. Er hat seine Manuskripte mit jedem neuen Buch wieder aus der Hand gegeben, hat getan, was er in Die letzte Welt am Beispiel Ovids und seiner Verse festschrieb: Keinem bleibt seine Gestalt – also auch dem Satz, dem Buch, dem Werk nicht. Denn der Leser greift danach.
Was für eine Zugriffsfreiheit! Was für eine Ausweitung des Raums! Bloß auf eines muß man achten: Von solchen wie Richard Kämmerlings und Siv Bublitz muß man sich fernhalten, wenn’s um diese inneren Räume geht: Diese Maron-Hinausbeförderer und Säuberungserklärer, diese Typen, die den moralischen Leberhaken zu schlagen wissen – die wollen der unsichtbaren und unerfindlichen Berührung durch genau dieses Buch oder diesen Autorenton nicht begeistert zusehen, sondern wollen bestimmen, bei wem und wie und wodurch das nicht geschehen darf. Sie haben eine so genaue Ahnung davon, daß sie besser zu wissen vermeinen als wir selbst, wie wir lesen und wir wir lesen sollten. Denn was kann alles furchtbares passieren, wenn man Autoren freien Lauf läßt und sie nicht verantwortlich dafür macht, wer ihre Bücher liest und vertreibt!
Wie ist das jetzt mit Ransmayr? Sein Werk erscheint seit 1995 im Verlag S.Fischer in Frankfurt/Main, ohne Ausnahme, und was davor erschienen war, ist bei Fischer neu aufgelegt worden. Ich kann ganze Passagen in Stimmung und Wort nacherzählen, und Kositza schenkte mir erst vor Monaten die von Ransmayr eingesprochenen Schrecken des Eises und der Finsternis als Hörbuch, weil ich seine Stimme mag, die ganz langsame und während der Rede den Gedanken noch einmal prüfende, vielleicht sogar erst zu Ende entwickelnde Art des Erzählens.
Das können sich die Kämmerlingse dieser Welt nicht vorstellen, oder vielleicht wollen sie es sich bloß nicht vorstellen: daß man so viel liest, daß man totale Lektüre treibt. Diese Leute denken wirklich, man hat einen Schuhkarton auf dem Schreibtisch stehen, darin Schmitt, Jünger, Gehlen, Mohler, sonst nichts und sonst auch nicht viel im Kopf.
Wir hatten ja leider über die letzten sechs Jahre eine ganze Menge blinder Blödmänner in unserer Bibliothek sitzen, die so ganz offen taten, dann aber nur die Edda stehen sahen, und eine Riefenstahl-Biographie, und die sich nicht schämten, hinterher in ihren Berichten unsere gefüllten Regale darauf zu reduzieren.
Diese Sorte Blödmänner wird ein paar Dinge nicht mehr kapieren: Erstens sind wir so frei, wie sie es gern wären. Wir lesen, was wir wollen, schreiben darüber, wenn wir wollen, denken darüber nach, wie wir wollen und lassen uns von niemandem vorschreiben, an welcher Stelle es besser wäre, so zu denken wie alle anderen. Unser Verhältnis zur Freiheit ist fundamental.
Niemals würden wir ein geistiges Eingesperrtsein von der Art akzeptieren, wie wir es bei unseren Streifzügen ins intellektuelle Deutschland unserer Tage wahrnehmen müssen. Das sind Besuche wie in Sanatorien, wie in Intensivstationen: aseptisch, irgendwie steril, so halt, daß man gleich wieder raus will, wenn man mental unangekränkelt ist, raus, aufatmen und ein Bier öffnen.
Diese Freiheit, diese mentale Unangegriffenheit und dieser Mißmut beim Anblick steriler Gehirne hängt (ich vermute, Susanne Dagen könnte das unterschreiben) zu einem nicht geringen Teil damit zusammen, daß wir unser eigenes Brot essen und deshalb unser je eigenes Lied singen können. Kositza und ich sind selbständig, seit wir uns kennen, und pfeifen auf die Noten, die uns irgendeiner hinhält, der denkt, er dürfe das.
Kultur, Buchkultur – das sind schützenswerte Bereiche, Gemeinschaftsaufgaben, und ich war immer ein strikter Befürworter von Schutzräumen, die den Kleinen vor der übermächtigen Konkurrenz mit den Großen abschirmte. Die Buchpreisbindung ist ein solcher Schutzraum, sie verbietet amazon und anderen Giganten, Bestseller zu Dumpingpreisen anzubieten und dadurch dem kleinen Buchhändler um die Ecke den letzten rest vom Umsatz abzusaugen.
Niemals hätte ich für möglich gehalten, daß es mit mir einmal soweit kommen würde, wie es jetzt gekommen ist. Ich bin doch auch ein Büchermensch und ein Buchhandlungskrabbler und finde es immer noch toll, eine Buchhandlung zu betreten oder auf der Buchmesse sauber ausgearbeitete Verlagsstände zu besuchen. Aber dennoch nun ein Kurswechsel: Ich plädiere für eine zehnjährige Aussetzung der Buchpreisbindung und des staatlichen Zuschuß- und Fördersystems in den Literaturbetrieb hinein. Wer nach diesen zehn Jahren noch aufrecht steht, kann meinethalben wieder gefördert werden.
Der ganze Rest ist dann zum Glück vor die Hunde gegangen, diese kleinen und größeren Versagerverlage, die nichts an den Mann bringen müssen, weil in jedem ihrer Bücher vornedrin so ein Zusatz steht wie “gefördert von”, “mit freundlicher Unterstützung von”, “Übersetzungszuschuß” undsoweiterundsofort.
Der ganze Literaturbetrieb ist vollgestopft mit Leuten, die in typischer Geisteswissenschaftlermanier um berufliche Bedeutung ringen und ausgerechnet aufs Verlegersein verfielen, obwohl sie weder Phantasie noch Mut noch Selbstsicherheit oder wenigstens irgendeine verlegerische Idee jenseits von Fördertöpfen mitbringen. Kraftlose Leute, innerlich herumsitzend, froh über jeden, der im langweiligsten aller Oberstübchen vorbeikommt und sich blöd dazusetzt. Eines aber haben sie drauf: den angesagten Slang, also dieses Themen- und Schlagwortgemisch, das einen auf die gute Seite der Moral spült, auch wenn man nichts anzubieten hat als das fünfhundertste Buch zur selben Rand‑, Opfer‑, Tätergruppe.
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Kositza hat gerade quergelesen und sagt, ich solle jetzt aufhören, mich mit diesem Quark zu beschäftigen. Gebe es einen “Fall Kämmerlings” (der arme Kerl, Kositza nannte noch ein paar andere Namen, aber die kriege ich nicht mehr zusammen), habe es je einen “Fall Kämmerlings” gegeben? Habe je jemand ein Buch über das wahnsinnig spannende Denken dieser Feuilletonclowns geschrieben? Na eben. Außerdem: Das Thema sei Maron, jeder warte jetzt auf Marons nächstes Buch, warte darauf, was Suhrkamp mit Tellkamp anstelle, und ich müsse jetzt den Bogen kriegen.
Also gut, der Bogen: Ich bin der Überzeugung, daß “das Feuilleton”, daß der Literaturbetrieb eine schematische, eine das Leben, Denken, Meinen völlig mißverstehende Wahrnehmungsweise ausgebildet hat. Man kann dort nicht verstehen, daß Monika Maron auf ihre alten Tage hin so schreibt wie sie jetzt eben schreibt, daß Susanne Dagen plötzlich Bücher verlegt, die in anderen Verlagen so nicht erscheinen würden und daß wir hier lesen und denken und meinen, verlegen und vertreiben, wie wir wollen.
Dieses Mißverständnis ist so grundlegend und seine Auflösung wäre so verstörend, daß es vermutlich besser ist, es bleibt alles beim alten. Es ist gut, wenn S.Fischer Maron nicht zurückholt, und zwar für beide Seiten. Klare Verhältnisse, Abnabelung: Hier die Lebendigen, dort die Hygieniker, hier der Mut, dort die Ansteckungsangst und die geistige Maske. Ich will nicht tauschen. “Wer mutig ist, den bestrafen die Feiglinge”, schrieb Harald Martenstein zum Fall Maron. Recht hat er.
Reden will ich mit dem Betrieb sowieso nicht mehr. Das trägt nämlich nichts aus. Von dort loskommen wird einer bloß, indem er sich abkehrt und seine eingesperrte Wahrnehungsweise befreit.
Und damit kriege ich den Bogen: Bei Hoffmann und Campe ist jüngst der neue Roman von Matthias Politicky erschienen, Das kann uns keiner nehmen. Es ist eine ganze Weile her, daß ich so gern und versunken las. Es geht nämlich um einen Büchermensch, einen Autor, dem das Leben eine tiefe Wunde geschlagen hat. Nun muß er die Sache am Kilimandscharo abschließen. Dort trifft er auf den Tscharli, den es ebenfalls hart gebeutelt hat.
Der Tscharli ist einer, den man zuhause, in Deutschland, für einen Rechten hielte, für einen ungehobelten Pegida-Versteher, einen Sexisten oder Wutbürger, einen von Gestern. Aber er kommt in Afrika super zurecht, viel besser als der mit allen Sensibilisierungsvokabeln vollgestopfte Schriftsteller. Dem gehen so langsam die Lichter auf, was man so alles verpaßt, wenn man sich das Leben und das Denken von unberufenen Wächtern madig machen und entzaubern läßt. Schlüsselszene:
An der Bar in Stone Town auf Sansibar legt der Tscharli dem Ich-Erzähler “ganz vorsichtig” seine Hand auf den Unterarm: “Denkst’ drüber nach, wia ma des als Roman verbratn könnt?” Ach, antwortet der Autor, “seit ein paar Jahren sei’s schwierig geworden mit dem Schreiben. So viele Wörter, die man nicht mehr verwenden dürfe, so viele Themen, die einen verrückt machen würden beim Schreiben oder verbiestert… ‘Die sind bei uns nicht so locker drauf wie du!’ ”
In der Tat, die sind hier gar nicht locker drauf, vielmehr verklemmt bis zur Selbstbestrafung. Wenn die Verklemmten ihren Stock im Hintern bloß nicht immer an alle weiterreichen wollten! Lesen wir also mal den Politicky, das ist dermaßen fulminant, daß er es bis zur nächsten Maron bringen könnte!
Dietrichs Bern
Lieber Götz Kubitschek,
nun, ohne die Blödmänner hätte ich mir vermutlich nie Finis Germania bestellt (und manch anderes, u. a. gerade wirklich eines der "schönsten Bücher" die ihr da hinbekommen habt, werde noch einiges davon noch nachlesen).
Und warum ? Weil ich mir von niemandem diktieren lassen will, was ich zu lesen habe.
Bin ich jetzt rechts? Viel wichtiger ist doch, dass die Blödmänner sich so lustvoll gerne ins Knie schießen und Wirkungen erzielen, die sie selbst nicht verstehen. Das ist doch auch eine gute Nachricht.