Es wird eben dies aber durchaus von ihr erwartet. Und beständig verkündet. Immer wieder Adventstimmung, die Erwartung einer Ankunft. Aber politischen Advent gibt es nicht, so wie überhaupt Heil und Segen vom Menschen allein nicht zu erwarten sind. Das ist keine desillusionierte Einsicht, vielmehr ermöglicht dieser Gedanke eine Abgrenzung im Sinne erforderlicher Demut. Wir verkünden immer wieder Neues, vor allem hehre Ziele, aber wir kommen nirgendwo an.
Zwar steigern wir das Tempo, den Komfort, die Geburtenrate, sowieso das Welt-Bruttosozialprodukt, aber dies alles zu einem erheblichen Preis, nämlich der globalen Unterminierung unsere Existenz. Wir verstoffwechseln den Planeten. Hybris. Wir können nicht anders.
Viktor Tschernomyrdins schöner Satz trifft die Vergeblichkeit des Politischen: „Gewollt war das Beste, doch es kam wie immer.“ („Хотели как лучше, а получилось как всегда.“)
Sicherlich, in vielerlei konkreter Hinsicht ist es alles andere als egal, wer etwa die Wahlen gewinnt, sind die Unterschiede beispielsweise zwischen den Grünen und der AfD doch geradezu extrem; aber in dem, was den Menschen am nächsten, am engsten und wesentlichsten betrifft, ist es beinahe einerlei, wer gerade regiert. Das sollte man wenigstens wissen.
Man sollte es wissen, wenn man den infantilen Jubel über vermeintliches Glück auf Wahlpartys erlebt. Wie auf einem Kindergeburtstag – die strahlenden oder die belämmerten Gesichter, wenn um 18.00 Uhr die Hochrechnungen, die Streifen- und Tortendiagramme gezeigt werden, die freudigen Luftsprünge oder das Zusammensinken in Enttäuschung, die Euphorie, die Niedergeschlagenheit, die hysterischen Selbstvergewisserungen, nun noch unverbrüchlicher zusammenzustehen, nach diesem Sieg oder mit dieser Niederlage. Als hätte eine Wahl über unser weiteres Geschick entscheidend zu bestimmen. Wahlergebnisse werden im Moment ihrer Verkündigung geradezu empfunden wie Erlösung oder Verdammnis. Sie sind weder das eine noch das andere.
In fragwürdiger Übertragung: Für Fußballfans ist es überhaupt nicht egal, ob nun Schalke oder Dortmund gewinnt. Sie würden es geradezu blasphemisch finden, wenn man sagte: Genau das ist völlig einerlei. Denn es gibt diese nachvollziehbare Sehnsucht nach Identifizierung, nach Symbolen, nach dem engen Zusammenhalt, nach einer vermeintlichen Authentizität. Aber gerade das Letzte, die Authentizität (authentikós), also die Echtheit, das Originale, den Ursprungskern, findet man weder bei Schalke noch bei der CDU und nicht mal bei der AfD. Den Zusammenhalt erst recht nicht. Denn alles, was diese Kräfte zu bieten haben, ist das vage Jonglieren des Vorläufigen, des Vorübergehenden, also das, wofür in der griechischen Mythologie die Göttin Tyche steht, die launenhaft den Wechsel herbeiführt. Noch in jedem Sieg gründete die nächste Niederlage.
Wie gesagt, wir können nur das Vorläufige, Vergängliche und Unsichere haben, etwas, das an sich nicht dauerhaft, beständig und authentisch sein kann, nur die Erscheinung eben, das Trugbild, die Schatten aus Platons Höhle. Das mag trivial klingen, denn wir wissen es alle.
Aber wir vergessen es, wenn es mal für die kurze Frist von fünf Jahren um eine Wahl geht. Klar, sie betrifft uns: lebenstechnisch, geldpolitisch, rechtlich, kulturell, immer mehr auch ökologisch und neuerdings sogar seuchenmedizinisch. Aber was uns eigentlich zu eigen ist und was uns an Leben wird, daran ändert das Politische letztlich wenig. Es gehört – mit Mephisto formuliert – „in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit.“ Wir halten nichts fest; alles zerrinnt uns. Und gewiß sind wir nicht mal uns selbst, geschweige denn der Gefährten oder gar „Parteifreunde“.
Wen aber sollte man wählen? Vielleicht jene, die nicht so sehr auf den Putz hauen, sondern die dem pessimistischen Lebensernst jenseits der menschlichen Komödie noch am nächsten kommen. Falls es solche Maßhalter überhaupt gibt. Traditionell versucht die Rechte der veloziferischen Forcierung Einhalt zu gebieten. Sie vermeidet Utopismen und mißtraut naivem Idealismus. Vor allem hütet sie sich vor Sentimentalisierung. Die Rechte macht sich unbeliebt, weil sie statt der Schwärmerei Besinnung fordert. Zu Recht. So erscheint es angezeigt, rechts zu wählen; und auf der Seite gibt es in Deutschland nur eine starke und mutige Partei, die AfD.
Bei allem oben geäußerten Zweifel: Selbstverständlich greift die Politik hart in unser Dasein ein und betrifft uns unmittelbar, oft sogar mit katastrophaler Härte. Im Extrem: Urgroßmutters Leben wäre ein ganz anderes, ein sehr viel besseres gewesen, hätte sie ihre schlesische Heimat behalten können. Ohne Zweifel! Aber: Was Urgroßmutter in ihrem Wesen gewesen sein mochte, daran hat selbst diese immens tragische Katastrophe nichts Eigentliches geändert. – So wie mich selbst eine unfallverursachte Behinderung zwar physisch behindern, aber letztlich nicht wesenhaft verändern würde.
Selbstverständlich wünsche ich mir keinen Unfall, ebensowenig wie Urgroßmutter der Heimatverlust zu wünschen war. Natürlich nicht! Aber mein Heil ist von solchem Ungemach letztlich ebensowenig abhängig wie von einem Lottogewinn. Möglichst gelte: Resilienz gegenüber Kontingenz.
Die Sommer meiner Kindheit, das trügerische Paradies Pubertät als Abiturient, die Jahre als Armeeangehöriger im Kalten Krieg haben mit Honecker und dem SED-Regime einerseits alles, andererseits gar nichts zu tun. Wir stellen uns dem, was uns an Bedingungen umstellt. Glückselige Umstände sollten wir nicht erwarten; sie sind im Großen und Ganzen nicht einzurichten. Wir finden sie ohnehin eher jenseits der hektischen Bewegnisse, nämlich in der Kontemplation und Muße, nicht in der Aktion, sondern im Verhalt.
Zurück: Der politische Betrieb läuft derzeit nicht ohne Parteien. Nur hat, wer in diesem Spiel gerade vorn liegt und wer nicht, weniger mit unserem Leben zu tun, als uns die Politik glauben macht. Sie ist auch in demokratischem Zuschnitt – und dort vielleicht gar deutlicher als im einstigen Gottesgnadentum – in sich zuerst ein Karrieregeschäft und ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Das geht so in Ordnung und ist nicht anders zu haben, darf uns aber nicht tief anrühren, haben wir unsere Maßstäbe, unsere Einstellungen und Tugenden doch an Wesentlicherem zu entwickeln. Das Leben selbst, seine stille Erhabenheit einerseits wie der „normale Wahnsinn“ andererseits, werden uns nicht nur belehren, sondern letztlich sogar richten.
Jedes politische Bekenntnis, einerlei wie verdienstvoll, ist oberflächlich, jedes religiöse hingegen gerade nicht. Unsere metaphysische Sehnsucht besteht in den Fährnissen des Politischen weiter fort, und deswegen werden die Religionen als die größten Geschichten des menschlichen Gedächtnisses nie gänzlich ihre Bedeutung einbüßen. Sie orientieren, Politik desorientiert, wenngleich sie für unsere Geschäfte wohl nötig ist.
Die Religionen vermitteln, darin den Künsten verwandt, das Drama alles Menschlichen, das von Politik zwar zwangsläufig zu begleiten, nie aber im Kern zu ändern oder auch nur anzurühren ist. – Die Einkehr in einen katholischen Gottesdienst oder konzentrierte philosophische Lektüre, überhaupt gründliches stilles Bedenken halten Wesentlicheres bereit als jede politische Kleingeisterei. Und selbstverständlich kann man vor einer Großmutter, die ihren Glauben lebt, mehr Achtung haben als vor einem sogenannten Erfolgspolitiker.
Niemand kommt um Politik herum. Sie regiert unser Leben. Aber wir haben unsere eigensten Angelegenheiten zuallererst selbst zu regieren, mit aufmerksamer Fühlung gegenüber unserem Schicksal, wie auch immer wir das vermögen.
Volksdeutscher
"Sicherlich, in vielerlei konkreter Hinsicht ist es alles andere als egal, wer etwa die Wahlen gewinnt, sind die Unterschiede beispielsweise zwischen den Grünen und der AfD doch geradezu extrem; aber in dem, was den Menschen am nächsten, am engsten und wesentlichsten betrifft, ist es beinahe einerlei, wer gerade regiert."
Diese Behauptung halte ich für ein groben Irrtum. Denn es gibt im Leben eben nicht nur das, was den Leuten am nächsten, engsten und wesentlichsten betrifft, sprich, sich zu ernähren und zu kleiden, in anderen Worten: die Grundvoraussetzungen der Existenz zu befriedigen. Selbst da ließen sich Unterschiede sowohl in privaten wie öffentlichen Dingen aufweisen, z.B. wie im Westen unter dem Kapitalismus und im Osten unter dem Kommunismus diese Grundvoraussetzungen befriedigt wurden. Wann haben die so genannten Grundvoraussetzungen den Menschen (unter welchen politischen oder ideologischen Bedingungen auch immer) jemals gereicht? Und wer bestimmt für wen, welche Dinge zu den Grundvoraussetzungen gehören und welche nicht? Obige Behauptung ist eine unhaltbare, willkürliche Reduktion.