Das ist antiquiert, ich weiß. Aber machen wir altmodisch weiter: Leibesübungen üben etwas Leibliches ein, nämlich Durchhaltevermögen, Kraft, Koordination und Geschicklichkeit. Sie verbessern die Haltung, im Wortsinne. Nie trainiert sich die Physis allein; die Seele hält mit. Richtiges Joggen, früher der “Waldlauf”, ließe sich als eine westliche Form der Meditation verstehen und beschreiben. Selbst zur gedanklichen Widerständigkeit, zur psychischen Resilienz, einfach zum Scharfsinn bedarf es einer festen physischen Grundlage, die immer neu errungen werden muß.
Wir arbeiten, indem wir Sport treiben, überhaupt dem Verfall, der Entformung, gewissermaßen der Entropie entgegen und gewinnen oder behalten damit Kontur und entwickeln dabei Eleganz. Sport kommt somit ethische wie ästhetische Relevanz zu.
Je umfassender historisch die technisch-zivilisatorischen Entlastungen griffen, um so nötiger hatten wir Bewegung, Kraftübungen und Ausdauerprogramme, um nicht an oder dank der Maschinerie zu degenerieren. Sogenannte Industrienationen kranken in dem Maße an Bewegungsmangel, Übergewicht und damit verbundenen Folgeschäden, in dem einst natürlicherweise erforderte körperliche Aufwendungen technisch ersetzt sind, die Ernährung aber übersättigend stattfindet, so daß die Bürger vom Super-Markt in den medizinisch-pharmazeutischen Komplex übergehen und dort medikamentös „eingestellt“, also wiederum technisch behandelt werden. In Deutschland zählen wegen Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes 30 bis vierzig Prozent der Bevölkerung zur Corona-Risikogruppe.
Insbesondere die Arbeiterschaft erkannte in ihrer frühen, immens kulturbildenden Geschichte die Notwendigkeit des körperlichen Ausgleichs und wollte fit sein für Klassenkampf und Revolution. Mit den Arbeiterbildungsvereinen entstanden auch proletarische Sportvereine. Die bürgerliche Jugend trainierte in feinerem Zwirn ebenfalls, und die Lebensreformbewegung um 1900 nutzte u. a. Gymnastik als Beitrag für ganzheitliche Gesundung. Im Akte einer inneren Befreiung entwickelten die Enthusiasten ein neues, für ursprünglich gehaltenes Zutrauen gegenüber Natürlichkeit und Körperlichkeit, verbanden das mit dem Eros und bedienten damit den Jugendstil der Zeit. Diese Körperkultur folgte Nietzsches Impuls zur „großen Gesundheit“. Manches davon übernahmen die Ideologien der großen Diktaturen und schalteten es im Sinne ihrer Ziele der Staatsdoktrin gleich.
In unserer „Gesellschaft der Singularitäten“ ist sportliche Betätigung hingegen weder lebensreformerisch noch ideologisch angelegt, sondern eher Ausdruck des Narzißmus einer selbstbespiegelten Selfie-Generation in ihrer Ästhetik der Glätte. Man möchte „selbstoptimiert“ fit sein für den Job und sich überhaupt darwinistisch und platt sexuell weit vorn plaziert wissen. Dem „Freizeitsport“ heutiger „Leistungs- und Entscheidungsträger“ eignet daher ein zwangsneurotischer Zug von Verbissenheit. Man berauscht sich an den eigenen physischen Werten, die man permanent digital einmißt, so daß sich die Kurven zu Puls, Energieverbrauch und Belastungsdauer als vermeintliche Bilanz des eigenen Leistungsvermögen lesen lassen. Um Entspannung geht es nicht; Bewegung bleibt Hochspannung: Man will sich nicht ausgleichen, sondern vielmehr „auspowern“. Man qualifiziert sich innerlich kaum, man quantifiziert seine Parameter.
Während sich die Hochleister bis ins Rentenalter schinden, bleibt die Jugend zurück. Mindestens 45 Minuten körperliche Aktivität empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation als Tagesminimum für Kinder und Jugendliche. Für besser hält sie eine Stunde mit mindestens moderater Bewegungsintensität: Herumtoben, Laufen, Radfahren, Spiele oder das Training einer Sportart. Also in etwa das, was noch vor dreißig Jahren nahezu alle Kinder von selbst hinbekamen, indem sie einem natürlichen Bewegungsdrang folgten – beim Spielen, im Schwimmbad, auf dem Bolzplatz, in Vereinen.
In der DDR wurde der Sport wiederum aus politischen Gründen und mit dem Ziel vormilitärischer Ausbildung extrem gefördert, aber der Westen hielt aus eigenem Lifestyle-Verständnis mit, während Jogginghose, Sneaker und Sweatshirts heute längst nicht mehr ein Ausdruck von Fitneß, sondern eher Erfordernis der neuen jungen Bequemlichkeit sind. Man bedarf dieser Kleidung, um mit amorphem Körper noch einigermaßen locker durch den Tag zu kommen. Der Alltag selbst ist anstrengend genug, nicht nur wenn der Fahrstuhl streikt …
Gegenwärtig erfüllen 80 Prozent der Heranwachsenden das von der WHO veranschlagte Minimum einer täglichen Dreiviertelstunde Sport nicht mehr, und die Aktivität nimmt meßbar sogar weiter ab. So konstatiert es der 4. Bericht zum Kinder- und Jugendsport in Deutschland: Die meisten Schüler bewegen sich nicht genug, sie hätten, wird beklagt, keinen Zugang zu Bewegungs- und Vereinsangeboten, der Schulsport komme zu kurz, es gebe zu wenig Anreize dazu.
Anreize! Daß wieder mal jeder dort abzuholen wäre, wo er bewegungsarm, übergewichtig und frühbräsig steht, daß man ihm die Angebote gefälligst zu- und hinterhertragen müsse, daß man keinesfalls Eigenaktivität im Sinne einer Idee von eigenen Selbst fordern und mit Nachdruck anerziehen dürfe, ist Ausdruck der sozialdemokratischen oder eher schon sozialtherapeutischen Gesellschaft. Es gehe darum, „daß die Bewegungs- und Sportgelegenheiten zu den Kindern gebracht werden“, so Sportsoziologe Christoph Breuer wörtlich, ohne die unfreiwillige Komik dieser Äußerung zu bemerken, weil sich im Sport nun mal jeder noch selbst bewegen muß, selbst wenn man ihm die Fitneßgeräte schon hinterherträgt.
Wir Schüler der Siebziger und Achtziger achteten bei Radtouren im Tempo höflich darauf, daß unsere Lehrer bequem mithielten; heute ist es häufig umgekehrt: Die fitten älteren Kolleginnen und Kollegen nehmen sich im Tempo zurück, damit ihre Klassen dranbleiben, wenn der schulische Ausflug mal etwas länger gerät oder gar Anstiege zu bewältigen sind. Vorher pumpen sie ihren Schülern die plattgestandenen Reifen auf, stellen die Sattelhöhen richtig ein und erläutern geduldig die Logik und Funktion der Kettenschaltung ihrer an sich sehr sportiven High-Tech-Bikes. Überhaupt waren Fahrräder früher Vehikel ersten Freiheitserlebens. Man kam damit schnell aus den Zwangsvereinnahmungen und aus der Stadt heraus. Jetzt sitzt die Jugend mit Alltagsmaske in Nahverkehrsmitteln. Nicht wenige nutzen bereits E‑Bikes, während die Großeltern-Generation es immer noch puristisch bevorzugt und auf Stahlrahmenrädern weißes in rotes Fleisch verwandelt.
Bildungspolitisch gilt allgemein: Nur keine Anstrengungsbereitschaft fordern, nur ja keine Selbstüberwindung anregen, sondern die Angebote zu den Betroffenen bringen, freundlich motivieren, bloß nicht überfordern – gemäß der politisch verqueren Logik: „Die Gesellschaft“ hat die Mißstände verursacht, also steht doch der Staat in der Pflicht, mit neuen Slogans eine Kampagnenpolitik zum Mangel- und Nachteilsausgleich zu beginnen, passend zum Inklusionsgedanken. Alles, was Mühe kostet, löst, heißt es, die Gefahr aus, die Kids zurückschrecken zu lassen. Die Erfahrung, daß erst die Anstrengung und das Überwinden eigener Grenzen Erfolg und Freude verheißen, sammeln die Kinder kaum mehr.
Die Unlust oder gar das Unvermögen zur Anstrengung korrespondiert mit einer zunehmenden Angst vorm Schmerz, der Agliophobie. Man will nichts mehr aushalten müssen. Das überfettete Amerika handelte sich mit der inflationierten ärztlichen Verschreibung von Schmerzmitteln, vor allem mit synthetischen Opiaten wie Oxycontin, ein medizinisch verursachtes Drogenproblem ein. Byung-Chul Han spricht auch mit Blick auf Europa und die Corona-Hysterie treffend von einer Palliativgesellschaft.
Die Alternative: Härter werden, wieder etwas aushalten lernen, Mühsal ertragen, Leid erleiden und daran nicht verzweifeln. Gerade der Sport würde nicht nur Muskeln und Kondition trainieren, sondern überhaupt das Vermögen, Impulskontrolle zu entwickeln und mit Niederlagen umgehen zu können. Er erzöge dazu, Augenblicksbedürfnisse zugunsten eines längerfristigen und umfassenderen Erfolgs zurückzustellen, sich für fernere Ziele geduldig anzustrengen und Lust und Frust zu regulieren. Im konkreten wie übertragenen Sinne gilt: Wer wirklich etwas erreichen will, muß lange Strecken gehen und Hindernisse überwinden können.
Der Bericht zum Kinder- und Jugendsport beklagt den Bewegungsmangel in einem Land, das, als es sich noch als Nation verstand, insbesondere im Turnen, in der Leichtathletik und im Handball weltweite Erfolge feierte. Damals mußte Schulsport nicht erst verordnet werden und sich einem für jugendlich gehaltenen Geschmack anbiedern („Sport in school is cool!“), denn die Kinder blieben von selbst gern in der Turnhalle und auf dem Sportplatz, wenn die frei waren. Irgendeiner hatte sowieso immer einen Ball dabei. Auf Pausenplätzen wurde gespielt; die Jungen rannten, die Mädchen probierten sich bei „Gummitwist“ aus. Nachmittags wurde gebolzt und dabei Mannschaftsgeist entwickelt. Auf dem Platz gab es öfter Streit, klar, aber so erlernte man das Regeln von Konflikten, ohne dazu der Moderatoren und Streitschlichter zu bedürfen. Heute, lernen wir, bedarf es dazu der Anregung, der Projekte und vor allem „mehr Mittel“. Dabei kann man Liegenstütze, Kniebeuge, Hock-Streck-Sprünge überall üben.
Vor allem bei weiblichen Jugendlichen und innerhalb dieser Gruppe insbesondere bei Mädchen mit Migrationshintergrund, so der Bericht, sei die Abnahme körperlicher Aktivität signifikant. Und gerade Kinder aus weniger vermögenden Haushalten sind seltener Mitglieder in einem Verein; sie kämen kaum in den Genuß von Bewegungsnageboten. – Darüber nachzudenken, weshalb früher gerade „Kinder aus weniger vermögenden Haushalten“ die fitteren waren, führte übrigens zu interessanten Einsichten. Ein Ansatz: Wenn man nicht viel mehr hatte als seinen Körper, dann bildete man diesen aus. Er war das einzige, worüber man verfügte.
Während im Verlauf der sogenannten Corona-Krise seitens der Bildungspolitik die angeblich mangelnde Computer-Ausstattung für das E‑Learning der Schüler beklagt wurde, weist Sportpädagoge Werner Schmidt darauf hin, daß Jugendliche derzeit durchschnittlich 42,5 Stunden mit Medienkonsum verbringen, vorzugsweise am Handy und PC. Sie sind also mehr als eine erwachsene Wochenarbeitszeit von den Screens absorbiert! Das, so der zitierte Bericht, sei die Hauptursache des Bewegungsmangels. Genau so wird es durch die WHO bestätigt. Sie macht die elektronische Revolution dafür verantwortlich, daß Kinder sich zu wenig bewegen, allgemein mehr sitzen und zu viel gefahren werden, fest verschnallt auf dem Rücksitz des elterlichen Autos.
Die Fitneß der nachwachsenden Generation kann überhaupt als Indikator für die ideelle und physische Potenz einer Gesellschaft gelten. Und tatsächlich ist die Berliner Republik trotz ihrer noch andauernden ökonomischen Erfolgsgeschichte überaltert, übergewichtig und erschöpft. Mit einer Ausnahme: Die migrantische männliche Jugend, zahlreicher werdend, erscheint im Durchschnitt mindestens körperlich besser in Form als der biodeutsche Nachwuchs.
Als jahrelang „fachfremd“ unterrichtender Sportlehrer erlebte ich, dass namentlich die orientalischen und arabischen Jungen ausnehmend willig und motiviert auf Anforderungen in der Ausdauer- und Kraftausbildung ansprachen, sich gern herausfordern, motivieren und zu hohen Belastungen führen ließ, dabei eher überrascht als hämisch registrierend, wie die meisten Deutschen zurückfielen und kapitulierten. Begleitet wurde das von einem Phänomen: Diese Jungen waren – mit pädagogischem Wohlwollen – autoritär anzusprechen. Sie vertrugen gut gemeinte Derbheiten zur Anspornung und zogen tapfer und begeistert durch.
Zwar konnte ich noch in der Grundschule und Orientierungsstufe Kinder motivieren und selbst Gedichte in der Turnhalle schneller erlernen lassen, indem ich das wiederholte Sprechen im Chor mit Rhythmik verband. In der Sekundarstufe ließ das jedoch nach. Zu Krafteinheiten und zur Gymnastik waren dann in der neunten und zehnten Klasse und in der Abiturstufe sogar eher die Mädchen aufzurufen als die Jungen. Die wollten lieber spielen, dies allerdings weniger mannschaftlich zusammen als egoistisch posend. Krafttraining strengte sie trotz lauter Kraftmeierei sehr schnell an; mit Ausdauer ging gar nichts, schinden mochten sich nur wenige Individualisten, die erfahren hatten, wie sie an Anforderungen wuchsen.
Ein gebuertiger Hesse
Schöner und "am Riemen reißender" Beitrag gerade jetzt, in diesen Tristesse-droite-Tagen, wo wir eine um die andere Hiobsnachricht auf den Hintern sitzend am PC empfangen. Los also, ertüchtigen wir uns.