Identität – eine Konferenz in Lissabon

PDF der Druckfassung aus Sezession 93/Dezember 2019

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

»Mei­ne Fra­ge ist: Was kön­nen wir tun gegen den Auf­stieg des Rechts­po­pu­lis­mus, und wie kön­nen wir die rechts­extre­men Nar­ra­ti­ve dekonstruieren?«

Wen die ver­mut­lich ame­ri­ka­ni­sche Stu­den­tin mit »wir« meint, ist nicht ganz ersicht­lich. Aller­dings scheint sie es für selbst­ver­ständ­lich zu hal­ten, daß das zuvor Gehör­te ver­dient, umge­hend wider­legt und bekämpft zu wer­den. Gera­de­zu phy­si­sche Pein erlei­det Astrid Hau­ge Ram­bøl von der Uni­ver­si­tät Oslo.

Die Dok­to­ran­din, die sich der Erfor­schung von Extre­mis­mus, Popu­lis­mus und »anti-isla­mi­schem Akti­vis­mus« wid­met, sieht sich bemü­ßigt, sich klar zu positionieren:

Ich fin­de es irri­tie­rend, was für ein Nar­ra­tiv hier gera­de ver­brei­tet wird. Migra­ti­on ist eine Mas­sen­tra­gö­die für die Migran­ten, und nicht für Europa.

Sofort kommt Wider­spruch aus dem Publikum.

Wür­den Sie denn sagen, daß das, was die Kin­der von Rother­ham erlebt haben, kei­ne Tra­gö­die ist?

Der Fra­ge­stel­ler ist eben­falls Skan­di­na­vi­er und trägt einen Thor­s­ham­mer um den Hals. Spä­ter wird er sich als poli­ti­scher Akti­vist zu erken­nen geben. Eine por­tu­gie­si­sche Stu­den­tin wen­det sich an José Pedro Zúquete, den Initia­tor der Kon­fe­renz »From Ame­ri­ca to Euro­pe: Iden­ti­ty, Mass Migra­ti­on and White Back­lash«, die am 5. und 6. Novem­ber 2019 in eng­li­scher Spra­che an der Uni­ver­si­tät Lis­sa­bon abge­hal­ten wird: Migra­ti­on sei doch vor allem Fol­ge von Kolo­nia­lis­mus und Aus­beu­tung, die »wir« ver­schul­det haben.

Das gro­ße und eigent­li­che Pro­blem sei der Ras­sis­mus der Euro­pä­er, und auch Por­tu­gal müs­se sich der Ein­wan­de­rung öff­nen und mehr Flücht­lin­ge auf­neh­men. Ihr wird von einem öster­rei­chi­schen Besu­cher wider­spro­chen: Er fän­de es als Aus­län­der erschre­ckend, daß es auch hier Men­schen gebe, die sich frei­wil­lig die glei­chen Pro­ble­me wie Frank­reich, Deutsch­land oder Schwe­den auf­hal­sen wol­len, und er hof­fe, daß Por­tu­gal Por­tu­gal bleibe.

Dar­auf­hin ver­lie­ßen nicht weni­ger als sechs Leu­te empört den Saal …

Mir, dem öster­rei­chi­schen Besu­cher, war rasch auf­ge­fal­len, daß in Lis­sa­bon so gut wie kei­ne Mus­li­me zu sehen waren, was viel­leicht auch ein Grund ist, war­um »Rechts­po­pu­lis­mus« in Por­tu­gal – im Gegen­satz zum Nach­bar­land Spa­ni­en – kein gro­ßes The­ma ist.

Auch die Anti­fa-Akti­vi­tät ist in Por­tu­gal sehr gering, und so durf­te ich eine Kon­fe­renz erle­ben, die in Deutsch­land, wo selbst ein Bernd Lucke ins Visier der Links­extre­mis­ten gerät, wohl schon im Vor­feld abge­blockt wor­den wäre.

Ram­bøl, die einen Stoff­beu­tel mit dem Auf­druck »Klas­se­kam­pen« mit sich trug (nach einem kom­mu­nis­ti­schen Maga­zin, für das sie tätig ist), refe­rier­te am fol­gen­den Tag über »The far-right in Scan­di­na­via«, ein Begriff, der sowohl gewalt­be­rei­te Grup­pen als auch »Rechts­po­pu­lis­ten« wie die »Schwe­den­de­mo­kra­ten« umfaßt.

Ihr Vor­trag war deut­lich wer­ten­der und par­tei­ischer als die ande­ren Bei­trä­ge; so emp­fand sie es als »scho­ckie­rend«, daß in Däne­mark sogar die Sozi­al­de­mo­kra­ten eine restrik­ti­ve Ein­wan­de­rungs­po­li­tik ver­fol­gen. Als sie zur Fra­ge nach den Grün­den des wach­sen­den Zulaufs zu den Rechts­po­pu­lis­ten kam, ver­mu­te­te sie psy­cho­lo­gi­sche Dis­po­si­tio­nen und sprach über glo­ba­le wirt­schaft­li­che Dyna­mi­ken, die eher Flucht- und Migra­ti­ons­ur­sa­chen betreffen.

Der »Goril­la auf der Hol­ly­wood­schau­kel« (Micha­el Klo­novs­ky) blieb wäh­rend ihres gesam­ten Vor­trags hart­nä­ckig uner­wähnt, und in der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­ons­run­de frag­te ein Zuhö­rer listig:

Gibt es in Skan­di­na­vi­en eigent­lich so etwas wie Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät und isla­mi­schen Extre­mis­mus und Ter­ro­ris­mus, und wie könn­te dies zu der Ent­wick­lung bei­getra­gen haben, die Sie eben geschil­dert haben?

Ram­bøl war durch die­se Fra­ge, die in ihrer aka­de­mi­schen Bla­se offen­bar nicht ein­mal gestellt wird, sicht­lich aus der Bahn gewor­fen. Ja, es gäbe isla­mi­schen Ter­ro­ris­mus, gestand sie schließ­lich ein, aber er sei »nicht signi­fi­kant« und Brei­vik habe doch im Allein­gang viel mehr Men­schen umgebracht.

Nach ihr war der öster­rei­chi­sche His­to­ri­ker Lothar Höbelt an der Rei­he, der als FPÖ- und AfD-nahe­ste­hend gilt. Auch sein Vor­trag berei­te­te Ram­bøl sicht­lich Unbe­ha­gen, wobei Höbelt, als His­to­ri­ker ein Mann des Kon­kre­ten, nichts ande­res tat, als ein detail­lier­tes und sach­li­ches Bild des Auf­stiegs der FPÖ unter Hai­der zu zeichnen.

Dabei beton­te er mehr­fach, daß das Migra­ti­ons­the­ma beson­ders in der Arbei­ter­klas­se auf erheb­li­che Reso­nanz gesto­ßen sei, was der Sozi­al­de­mo­kra­tie nach­hal­tig gescha­det habe.

Lin­ke und rech­te Refe­ren­ten auf einem gemein­sa­men Podi­um, lin­ke und rech­te Fra­ge­stel­ler im Publi­kum, offe­ne Debat­te, kei­ne Ran­da­le durch Anti­fa­schis­ten – dies war für einen Besu­cher aus einem deutsch­spra­chi­gen Land eben­so ver­blüf­fend wie stimulierend.

Dabei ging es dem an der Uni­ver­si­tät Lis­sa­bon täti­gen Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Zúquete vor allem um ein kla­res Ver­ständ­nis sei­nes The­mas »Iden­ti­tät, Mas­sen­ein­wan­de­rung und wei­ße Gegen­re­ak­ti­on« jen­seits von Ideo­lo­gie­pro­duk­ti­on und poli­tisch ein­sei­ti­gem »Framing«.

Die Kon­fe­renz begann mit einem Vor­trag, der die Dis­kus­si­ons­grund­la­ge für alle wei­te­ren Bei­trä­ge absteck­te. Der 1970 gebo­re­ne und an der Uni­ver­si­tät Lon­don täti­ge Kana­di­er Eric Kauf­mann ist der Autor eines sehr nüch­ter­nen, sehr dicken, sehr hilf­rei­chen und fak­ten­ge­sät­tig­ten Buches, das man mit Fug und Recht als Mei­len­stein betrach­ten kann: Whites­hift. Popu­lism, Immi­gra­ti­on and the Future of White Majo­ri­ties (Lon­don, 2018) ist ver­gleich­ba­ren Ver­su­chen, die »popu­lis­ti­sche« Wel­le zu erklä­ren (wie Iden­ti­tät von Fran­cis Fuku­ya­ma oder Der Zer­fall der Demo­kra­tie von Yascha Mounk) schon allein durch die Tat­sa­che weit über­le­gen, daß Kauf­mann den größ­ten Ele­fan­ten im Raum fron­tal ins Visier nimmt und in den Mit­tel­punkt sei­ner Ana­ly­se stellt.

Was Kauf­mann »Whites­hift« nennt, ist nichts ande­res als »der gro­ße Aus­tausch«, näm­lich der epo­cha­le demo­gra­phi­sche Wan­del der west­li­chen, »wei­ßen« Natio­nen durch Ein­wan­de­rung und Ras­sen­ver­mi­schung. Ohne einen »Ras­sen­rea­lis­mus« à la Jared Tay­lor oder Charles Mur­ray zu bemü­hen, erkennt Kauf­mann an, daß auch »ras­si­sche« Iden­ti­tät ein wir­kungs­mäch­ti­ger gesell­schaft­li­cher Fak­tor ist, mit dem man rech­nen muß.

Er bestä­tigt nicht nur, daß die­ser fort­schrei­ten­de, »bei­spiel­lo­se« Pro­zeß des Bevöl­ke­rungs­aus­tau­sches eine unleug­ba­re Rea­li­tät ist, er sieht in ihm auch den ent­schei­den­den Motor für die Hin­wen­dung gro­ßer Bevöl­ke­rungs­grup­pen zum »Popu­lis­mus«: »It’s NOT the eco­no­my, stu­pid!«, beton­te er mehrfach.

Zen­tral sind also nicht wirt­schaft­li­che Grün­de, son­dern in der Tat die Fra­ge nach dem Erhalt und Schutz der eige­nen, auch eth­nisch und »ras­sisch« kon­no­tier­ten Iden­ti­tät, ein Eigen­in­ter­es­se, das Kauf­mann für nach­voll­zieh­bar und legi­tim erklärt. Demo­gra­phi­sche Ver­schie­bun­gen bedeu­ten Macht‑, Identitäts‑, und Tra­di­ti­ons­ver­lust, und das Gefühl der Bedräng­nis inner­halb der schrump­fen­den Noch-Mehr­heit wird ver­schärft durch die aggres­si­ve, oft unver­hoh­len anti-wei­ße Mul­ti­kul­tu­ra­li­sie­rungs­po­li­tik der Lin­ken, die die Iden­ti­tä­ten der Ein­wan­de­rer und Nicht-Wei­ßen gegen die wei­ßen Auto­chtho­nen aufmunitionieren.

Dabei sind es oft klei­ne Details, die mit Iden­ti­tät, kul­tu­rel­ler Tra­di­ti­on und »per­sön­li­chen Wer­ten« zu tun haben, die sich sum­mie­ren und auf das gro­ße Gan­ze aus­wir­ken: Wer etwa für die Bei­be­hal­tung der tra­di­tio­nel­len Klei­der­ord­nung bei den Ten­nis­tur­nie­ren von Wim­ble­don ist, neigt eher dazu, für den Brexit zu stim­men als dagegen.

Das­sel­be gilt für Men­schen, die Ord­nung am Schreib­tisch und das Land­le­ben schät­zen oder Fami­li­en­wer­te hoch­hal­ten. Kauf­mann bestä­tigt, daß die »pro­gres­si­ve Lin­ke« an die­ser Stel­le tat­säch­lich an einem unhalt­ba­ren Dop­pel­stan­dard fest­hält, der unwei­ger­lich zu Gegen­re­ak­tio­nen füh­ren wird.

»Kon­ser­va­ti­ve Wei­ße« haben heu­te nur die Wahl zu »kämp­fen« – indem sie sich etwa rech­ten Bewe­gun­gen und Par­tei­en anschlie­ßen – oder zu »flie­hen«, mit­hin sich auf die »white flight« in loka­le und sozia­le Rück­zugs­ge­bie­te zu bege­ben, eine Pra­xis, die auch unter wei­ßen Lin­ken und Libe­ra­len nicht sel­ten ist.

Kauf­mann nun hält den Wider­stand gegen den demo­gra­phisch-eth­ni­schen Wan­del (also den »gro­ßen Aus­tausch«) für eben­so aus­sichts­los, wie den Ver­such, den rechts­po­pu­lis­ti­schen Wider­stand durch »anti­ras­sis­ti­sche« Repres­si­on zu bre­chen. Statt­des­sen betont er, daß man den »wei­ßen Mehr­hei­ten« in den west­li­chen Län­dern eine posi­ti­ve Iden­ti­tät und eine Zukunft als Grup­pe in Aus­sicht stel­len müsse.

Allein das unter­schei­det sich wohl­tu­end vom Hohn lin­ker Aka­de­mi­ker und Mei­nungs­ma­cher beson­ders im anglo­pho­nen Raum über die »Aus­lö­schungs­ängs­te« und den »Ras­sis­mus« der »abge­häng­ten« Wei­ßen. Dabei plä­diert Kauf­mann für eine »offe­ne Form der wei­ßen Iden­ti­tät«, die Ras­sen­mi­schun­gen bis zu einem gewis­sen Grad zuläßt und als unver­meid­lich akzeptiert.

Das »Weiß­sein« wird nicht ver­schwin­den, aber womög­lich in eine phä­no­ty­pisch und kul­tu­rell neue Form umge­gos­sen wer­den. Mit die­sem und ande­ren Kom­pro­mis­sen hofft Kauf­mann, dem Popu­lis­mus sei­nen Sta­chel zu zie­hen und die wach­sen­den eth­ni­schen Span­nun­gen, die Fol­ge der Erset­zungs­mi­gra­ti­on sind, zu ent­kräf­ten – die­se »Ver­wer­fun­gen« also, wie der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Yascha Mounk die Fol­gen des »his­to­risch ein­zig­ar­ti­gen Expe­ri­ments« unse­rer Zeit nennt.

Dies mag ein zwie­späl­ti­ges und unbe­frie­di­gen­des Ange­bot sein, es bricht aller­dings mit dem Äch­tungs­ta­bu, mit dem heu­te jede Form von pro-wei­ßer Iden­ti­täts­po­li­tik behaf­tet ist. Kauf­mann selbst erscheint als eine Art Eli­ten-Pro­to­typ die­ses »neu­en« wei­ßen Man­nes der Zukunft: Gebo­ren in Hong­kong mit Wohn­sitz Wim­ble­don, hat er chi­ne­si­sche, jüdi­sche, latein­ame­ri­ka­ni­sche und tsche­chi­sche Vorfahren.

Stär­ker noch als Fuku­ya­ma betont er, daß eth­ni­sche, abstam­mungs­be­ding­te Grup­pen­iden­ti­tät nicht aus der Welt zu schaf­fen sei. Dar­um kann ein blo­ßer »civic natio­na­lism«, ein »staats­bür­ger­li­cher Natio­na­lis­mus« auf der dün­nen Basis von »uni­ver­sel­len Wer­ten« allein nicht genü­gen, um die west­li­che Welt vor dem Absturz in einen »end­lo­sen Kul­tur­kampf« zu bewahren.

Kauf­manns Modell der »Viel­stim­mig­keit« (»Mul­tivo­ca­lism«) will die »natio­na­le Iden­ti­tät von Popu­lis­ten und Pro­gres­si­ven, Mehr­hei­ten und Min­der­hei­ten« unter einem plu­ra­lis­tisch­na­tio­na­len Dach ver­sam­meln – man stel­le sich etwa ein Deutsch­land vor, in dem das Deutsch­sein von Fer­da Ata­man als eben­so legi­tim ange­se­hen wird wie das Deutsch­sein von Björn Höcke (ich kann es nicht).

Ein dezi­dier­ter Kri­ti­ker des Kon­zepts der »Staats­bür­ger­na­ti­on«, mit prak­tisch den­sel­ben Argu­men­ten wie Kauf­mann, ist auch der 1959 gebo­re­ne israe­li­sche Mili­tär­his­to­ri­ker Azar Gat von der Uni­ver­si­tät Tel Aviv, Autor des Buches Nati­ons: The Long Histo­ry and Deep Roots of Poli­ti­cal Eth­ni­ci­ty and Natio­na­lism (Cam­bridge 2013) und ein wei­te­rer hoch­ka­rä­ti­ger Gast der Konferenz.

Für Gat ist eine Nati­on wie alle sozia­len Phä­no­me bei­des: einer­seits ein bewuß­tes kul­tu­rel­les »Kon­strukt«, ande­rer­seits tief in der mensch­li­chen Natur ver­wur­zelt. Das eine schlie­ße das ande­re kei­nes­wegs aus, das eine baue viel­mehr auf dem Mate­ri­al des ande­ren auf.

Sein Buch kri­ti­siert die »moder­nis­ti­sche« Vor­stel­lung, Natio­nen sei­en his­to­risch neu­ar­ti­ge, ober­fläch­li­che und arti­fi­zi­el­le Phä­no­me­ne ohne Ver­wur­ze­lung in der mensch­li­chen Psy­che.  Dem­ge­gen­über hält er fest, daß eth­ni­sche und natio­na­le Sen­ti­ments eine evo­lu­tio­nä­re Basis haben und die Grund­la­ge für Soli­da­ri­tät und Koope­ra­ti­on jen­seits der unmit­tel­ba­ren Fami­li­en­ban­de bilden.

So lehnt er es auch ab, den »staats­bür­ger­li­chen Natio­na­lis­mus« (»civic natio­na­lism«) gegen den »eth­ni­schen Natio­na­lis­mus« (»eth­nic natio­na­lism«) aus­zu­spie­len, denn jeder Natio­nal­staat tra­ge bei­de Kom­po­nen­ten in sich.

Die Vor­stel­lung, eine Nati­on kön­ne ihren Zusam­men­halt allein durch rechts­staat­li­che Insti­tu­tio­nen und geteil­te Staats­bür­ger­schaft unge­ach­tet des eth­nisch-kul­tu­rel­len Hin­ter­grunds der Bür­ger gewähr­leis­ten, nennt Gat »bes­ten­falls ein ideo­lo­gi­sches Stre­ben nach Tole­ranz, schlimms­ten­falls einen gra­vie­ren­den Fall von ›fal­schem Bewußtsein‹«.

In der Tat gebe es nur sehr weni­ge Natio­nen, die nicht auf einer Art von frag­lo­ser und selbst­ver­ständ­li­cher »Ver­wandt­schafts­kul­tur« basier­ten. Dies gel­te nicht min­der für den kom­pli­zier­ten Fall des »Schmelz­tie­gels« USA, der immer wie­der als Bei­spiel par excel­lence für eine rei­ne »Staats­bür­ger­na­ti­on« her­hal­ten muß: Auch »Ame­ri­ka­ner­sein« sei nicht in ers­ter Linie eine Fra­ge von blo­ßer Staats­bür­ger­schaft, son­dern wer­de durch die Assi­mi­la­ti­on an fun­da­men­ta­le­re Rea­li­tä­ten vollzogen.

Dazu gehö­ren Din­ge wie die gemein­sa­me Spra­che, Sit­ten, Sym­bo­le, sozia­le Prak­ti­ken und Ritua­le, popu­lä­re Geschmä­cker, Bil­der und Natio­nal­hel­den, Musik, Sport, Essen und Feiertage.

Aus den USA kam der jun­ge Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Geor­ge Haw­ley von der Uni­ver­si­tät Ala­ba­ma, Autor des bis­lang wohl bes­ten aka­de­mi­schen Buches über die nord­ame­ri­ka­ni­sche »alter­na­ti­ve Rech­te«: Making Sen­se of the Alt-Right (New York, 2017).

Peni­bel recher­chiert, in einem tro­cken-distan­zier­ten Ton­fall gehal­ten, ohne fak­ti­sche Feh­ler und inhalt­li­che Ver­zer­run­gen, bemüht sich Haw­ley als eine Art Anti-Vol­ker-Weiß um eine sach­li­che Dar­stel­lung der poli­ti­schen Ideen der »wei­ßen Natio­na­lis­ten« und ihre Ent­wick­lung seit der Grün­dung der (inzwi­schen ein­ge­stell­ten) Netz­sei­te Alter­na­ti­ve Right im Jahr 2010 durch Richard Spencer.

Als ent­schei­den­den Impe­tus nennt auch er den Kampf gegen den demo­gra­phi­schen Nie­der­gang der wei­ßen Bevöl­ke­rung in den USA, wobei die Alt­Right über die­sen Punkt und das anti-glo­ba­lis­ti­sche, anti-inter­ven­tio­nis­ti­sche »Ame­ri­ca First« weit hin­aus­geht, indem sie die Uto­pie eines homo­ge­nen Eth­no-Staa­tes ver­folgt, der auf ame­ri­ka­ni­schem Boden wohl kaum zu ver­wirk­li­chen ist.

Absa­gen muß­te die ange­kün­dig­te lin­ke Autorin Ange­la Nag­le, die sich in dem Buch Kill All Nor­mies (Zero Books, 2017) eben­falls mit der Alt-Right im Spie­gel der Inter­net­sub­kul­tu­ren aus­ein­an­der­ge­setzt hat, nicht ohne die Rol­le der Lin­ken an der poli­ti­schen Pola­ri­sie­rung und Eska­la­ti­on außer acht zu lassen.

Vor­bild­li­che Recher­che bie­tet auch das 500 Sei­ten star­ke Buch von José Pedro Zúquete The Iden­ti­ta­ri­ans. The Move­ment against Glo­ba­lism and Islam in Euro­pe, (Not­re-Dame, India­na 2018), das auf sei­nem Titel­bild eine Demons­tra­ti­on der öster­rei­chi­schen Iden­ti­tä­ren zeigt.

Wie Haw­ley hat auch Zúquete mit sei­nen For­schungs­ob­jek­ten lan­ge Inter­views geführt, unter ande­rem mit mir. Die Dar­stel­lung der euro­päi­schen »Iden­ti­tä­ren« (mit Sei­ten­blick auf die USA) beschränkt sich hier nicht auf die »offi­zi­el­le«, ursprüng­lich aus Frank­reich stam­men­de Bewe­gung, son­dern umfaßt ein brei­tes Spek­trum rech­ter Köp­fe, Orga­ni­sa­tio­nen, Zeit­schrif­ten und Strömungen.

Es gäbe vie­le Arten, ein Iden­ti­tä­rer zu sein:

Man kann ein zurück­ge­zo­ge­ner Intel­lek­tu­el­ler sein oder ein Agi­ta­tor von Ideen, ein Kul­tur­kämp­fer oder ein Netz­wer­ker, ein Influen­cer in den sozia­len Medi­en, ein Akti­vist auf der Stra­ße und im Inter­net oder sogar akti­ves Mit­glied einer poli­ti­schen Partei.

Als pri­mä­re Säu­le des »Iden­ti­ta­ris­mus« nann­te Zúquete den »Anti-Glo­ba­lis­mus«. Zu die­sem The­ma hat er bereits 2010 ein lesens­wer­tes Buch ver­öf­fent­licht: The Strugg­le for the World (Stan­ford, Kali­for­ni­en) unter­sucht die »anti-glo­ba­lis­ti­schen« Stra­te­gien von so unter­schied­li­chen Phä­no­me­nen wie latein­ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­be­we­gun­gen, Attac und dem Welt­so­zi­al­fo­rum, der euro­päi­schen Neu­en Rech­ten und dem isla­mi­schen Dschi­had gegen die west­lich-ame­ri­ka­ni­sche Welt.

Zuqúe­tes Vor­trag kam erfri­schen­der­wei­se ohne die übli­chen Begriffs­schub­la­den aus. Die allen iden­ti­tä­ren Strö­mun­gen gemein­sa­me Fra­ge sei:

Was bedeu­tet es, ein Euro­pä­er zu sein? Kann jeder­mann, der von über­all her, aus Asi­en, Afri­ka, Latein­ame­ri­ka nach Euro­pa kommt, von sich behaup­ten, er wäre Euro­pä­er? Oder Euro­pä­er wer­den? Die ein­fa­che Ant­wort ist: Nein. Nicht jeder kann Euro­pä­er sein.

Wesent­lich sei, daß es hier nicht bloß um natio­na­le Iden­ti­tä­ten als Deut­sche, Ita­lie­ner, Ungarn oder Schwe­den gehe, son­dern daß aus iden­ti­tä­rer Sicht das Schick­sal der gesam­ten euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on auf dem Spiel steht.

Der Iden­ti­tä­re betrach­tet die Euro­pä­er als die Indi­ge­nen Euro­pas, womit eine »gan­ze Viel­falt an Eth­ni­en gemeint ist – basie­rend auf geo­gra­phi­scher Her­kunft, Geschich­te, Sit­ten, Tra­di­tio­nen, kol­lek­ti­ver Erin­ne­rung, Genea­lo­gie, gene­ti­scher Ver­er­bung. Euro­pä­er sind kei­ne kör­per­lo­sen Wesen, son­dern Abkömm­lin­ge und zugleich Ver­kör­pe­run­gen einer Iden­ti­tät, die bio­lo­gisch wie kul­tu­rell ist. Für Iden­ti­tä­re fällt die Kul­tur nicht vom Him­mel. Sie ist ein Pro­dukt unver­wech­sel­ba­rer Völ­ker, mit ihren eige­nen spe­zi­fi­schen Merkmalen.«

Sich zu die­ser Iden­ti­tät als Euro­pä­er zu beken­nen, glei­che heu­te einem Akt der Rebel­li­on. Zúquete zitier­te David Engels:

Euro­pä­isch zu blei­ben ist zu einem Akt des Wider­stands geworden.

Die­ser Satz sum­mie­re treff­lich die iden­ti­tä­re Psy­cho­lo­gie und Moral. Der Gegen­spie­ler »Glo­ba­lis­mus« wird als »expan­si­ve Macht« gese­hen, die Völ­ker und Kul­tu­ren in die Uni­for­mi­tät zwingt und sie damit zerstört.

Dar­um fin­det sich im iden­ti­tä­ren Den­ken auch eine grund­le­gen­de Kri­tik der Moder­ne, ins­be­son­de­re des Libe­ra­lis­mus, der »das Indi­vi­du­um« aus sei­ner gewach­se­nen, über­lie­fer­ten, sozia­len Ein­bet­tung abs­tra­hiert und damit den Weg für eine Welt der »Post-Iden­ti­tät« berei­tet hat, die kei­ne Ach­tung vor Gren­zen und Beschrän­kun­gen mehr hat.

Die Mas­sen­ein­wan­de­rung nach Euro­pa wird als eine Form der Kolo­ni­sa­ti­on auf­ge­faßt. Im iden­ti­tä­ren Nar­ra­tiv ist Euro­pa vom Geist der Abdan­kung und Kapi­tu­la­ti­on befal­len, hat anschei­nend sei­nen Lebens­wil­len ver­lo­ren. Das »per­fek­te Sym­bol die­ses Übels ist der demo­gra­phi­sche Kol­laps«, wodurch die Situa­ti­on ent­steht, daß eine altern­de euro­päi­sche Zivi­li­sa­ti­on auf der nörd­li­chen Hemi­sphä­re jun­gen, expan­die­ren­den Gesell­schaf­ten im Süden gegen­über­steht, die Rich­tung Nor­den strömen.

Als Zúquete auf Renaud Camus, des­sen Kon­ter­fei groß an die Wand pro­ji­ziert wur­de, und den Begriff des »gro­ßen Aus­tauschs« zu spre­chen kam, zück­te er ein Mes­ser, um Camus’ von Lich­ten­berg ange­reg­te Meta­pher des »Aus­tauschs« zu ver­an­schau­li­chen: Ist ein Mes­ser, des­sen Klin­ge und des­sen Stiel man aus­wech­selt, immer noch das­sel­be Messer?

Camus’ Ant­wort ist bekannt­lich »Nein«, und hier sei die gro­ße Lüge zu suchen, die von den herr­schen­den Eli­ten und den Medi­en ver­brei­tet wird: Die Lüge, man kön­ne ein Volk gegen ein ande­res aus­tau­schen, und immer noch die­sel­be Geschich­te, Kul­tur, Zivi­li­sa­ti­on und Iden­ti­tät, also das­sel­be Euro­pa haben.

In Wahr­heit fän­de hier ein bei­spiel­lo­ser Kul­tur- und Zivi­li­sa­ti­onbruch statt. Eine mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schaft wer­de aus iden­ti­tä­rer Sicht unwei­ger­lich zu einer mul­ti-kon­flikt­träch­ti­gen Gesell­schaft, und eine mul­t­iras­si­sche Gesell­schaft zu einer multirassistischen.

Die künf­ti­gen Krie­ge und blu­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zeich­nen sich bereits jetzt ab: In der Bil­dung von No-Go-Zonen, reli­gi­ös-eth­ni­schen Ghet­tos und eth­nisch kon­no­tier­ten Gangs, im Anstieg der Aus­län­der- und Ein­wan­der­er­kri­mi­na­li­tät, in immer wie­der aus­bre­chen­den Ras­sen­un­ru­hen und in der wach­sen­den Zahl sexu­el­ler Über­grif­fe auf euro­päi­sche Frauen.

All dies sei­en bereits Mani­fes­ta­tio­nen einer Form des eth­ni­schen Krie­ges, der sich ver­schlim­mern wird, wenn der »gro­ße Aus­tausch« vor­an­schrei­tet. Zúquete gab die­se Grund­zü­ge der iden­ti­tä­ren Welt­an­schau­ung prä­zi­se, ohne Ver­zer­rung und ohne wer­ten­den Kom­men­tar wieder.

Im Anschluß an Eric Kauf­manns Vor­trag ent­fal­te­ten sie eine Plau­si­bi­li­tät, die wie ein­gangs geschil­dert, unter eini­gen Anwe­sen­den zu erheb­li­chen Irri­ta­tio­nen führ­te. Kauf­mann selbst zeig­te sich im Nach­hin­ein auf­grund der »Band­brei­te an Mei­nun­gen« und dem »hohen Niveau der Aus­ein­an­der­set­zung« begeis­tert von der »ein­zig­ar­ti­gen« Konferenz.

Eini­ge lin­ke Stu­den­ten waren nicht die­ser Ansicht und schrie­ben einen offe­nen Brief, in dem beteu­ert wur­de, daß man zwar für Mei­nungs­frei­heit sei, die­se aber für Leu­te wie Kauf­mann und Höbelt ein­ge­schränkt wer­den müs­se, »die dafür bekannt sind, wei­ßen Supre­ma­tis­mus zu fördern«.


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Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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