Das Thema Migration ist nach wie vor Dauerbrenner in der europäischen Medienlandschaft.
Teilaspekte wurden mit erregten Gemütern diskutiert, darunter Ursachen der Migration, Lebensumstände von Migranten, Umgang der EUStaaten mit irregulären Neuankömmlingen sowie Folgen für den Sozialstaat und die autochthonen Völker Europas.
Inzwischen liegt der erste Schock der Migrationskrise des Jahres 2015 bereits vier Jahre zurück, wobei der Erkenntniswert der diesbezüglich publizierten Untersuchungen erwartungsgemäß unterschiedlich ausfällt.
Der erste zu vermerkende Band ist die Dissertation des Münchner Historikers Philip Zölls Regieren der Migration. Von Einwanderungsprozessen und staatlichen Regulierungspolitiken, die im Allitera Verlag erschien (München 2019,
232 S., 36 €).
Zölls liefert eine detaillierte Beschreibung der bundesdeutschen Migrationspolitik. Er beginnt in den 1950er Jahren und leitet über zu den Auswüchsen in den 1970er Jahren.
Der Autor verweist bezüglich des theoretisch-ideengeschichtlichen Hintergrundes seines Werkes auf Theorien Michel Foucaults, kommt aber dann in seinen hauptsächlich deskriptiven Analysen der Migrationspolitik in der Nachkriegszeit kaum auf diese theoriegeleiteten Betrachtungen zurück. Neben der Entwicklung eines migrationspolitischen Zeitstrahls liegt die analytische Leistung Zölls’ vielmehr darin, mit einigen historischen und aktuellen Mythen der politischen Debatte um das Thema Migration
nach Deutschland und zur Perspektive der BRD als Einwanderungsland aufzuräumen.
Die Vorstellung, die politischen Weichen für die Masseneinwanderung und den problematischen Umgang mit der Integration oder der Ausweisung von Migranten seien erst 2015 durch Angela Merkels »Grenzöffnung« gestellt worden, wird durch die hier dargelegten Fakten entkräftet.
Zölls’ Darstellung der ordoliberalen Wirtschaftspolitik und ihrer Gier nach günstigen wie flexiblen Arbeitskräften einerseits und den repressiven Bedingungen der Unterbringung und Lebensgestaltung von Arbeitsmigranten in der Ära Ludwig Ehrhards andererseits zeigt die Ambivalenz der Migrationspolitik der 1960er Jahre.
Die Schilderung der Restriktionen bei der Einreise von Migranten in Form strenger Kontrollen der Herkunft, medizinischer Sicherheitsüberprüfungen und einer zentralisiert-reglementierten Unterbringung beweisen, daß die Bundesrepublik nicht immer so wehrlos-passiv gegenüber dem Zustrom von Migranten war, wie es dem Bürger heute erscheint. Aus Perspektive des Autors sind diese Maßnahmen freilich durchweg negativ konnotiert.
Das Ende des Zeitstrahls bildet ein Bericht des damals frisch ernannten Bundesbeauftragten für Ausländerfragen aus dem Jahr
1978, der eine Zäsur im Umgang mit Migranten aus bundesdeutscher Regierungsperspektive darstellt. Der Bericht bezeichnete die Entwicklung Deutschlands zu einem Einwanderungsland als »unumkehrbar«, forderte eine »vorbehaltlose und dauerhafte Integration« und stellte ein kommunales Wahlrecht für Migranten in Aussicht.
Das alles wurde 37 Jahre vor »Wir schaffen das!« Regierungsansinnen, weshalb es als ein Indiz für die migrationspolitische Kontinuität des herrschenden Kartells über die variierenden Regierungskonstellationen hinaus zu gelten hat.
Zölls’ veröffentlichte Dissertation ist dabei ein nüchtern verfaßter, jedoch pointierter Bericht, der keine Antworten auf die heutige Situation geben kann, aber eine gute Argumentationsgrundlage darstellt und überdies einen Eindruck davon vermittelt, wie es konsequent zum Ist-Zustand kommen konnte.
Eine andere Perspektive nimmt der schweizerische Journalist Beat Stauffer ein. In seinem Werk Maghreb, Migration und Mittelmeer, das im Verlag NZZ Libro erschien (Zürich 2019, 320 S., 38 €), beschreibt der erwiesene Nordafrika-Kenner die Migration nach Europa aus Sicht der afrikanischen Staaten am Mittelmeer und ihrer Bevölkerung.
Sein Buch, so Stauffer forsch, sei eine »Nachhilfe gegen jede Art von Realitätsverweigerung in Sachen Migration und
Asylpolitik«.
Was folgt, ist eine detaillierte und differenzierte ethnographische Studie, deren Protagonisten über weite Strecken die Harraga sind – junge Männer aus den Maghreb-Staaten, die ihre Heimat auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück, einem Abenteuer oder auf der Flucht vor dem Gesetz verlassen.
Der Autor gibt ihnen, in Form zahlreicher Photographien, ein Gesicht und läßt sie zu Wort kommen.
Er zeichnet ihren Leidensweg nach, hinterfragt aber ihre Motive und Praktiken. Er kritisiert das idealisierte Bild, welches die Presse zeichnet und macht deutlich, daß die meisten Harraga nicht aufgrund von Hunger, Krieg und Vertreibung nach Europa gelangen.
Es sind kräftige Männer, die auf ihren Smartphones Bilder ihrer Freunde sehen, die es nach Europa geschafft haben und
sich scheinbar spielerisch mit Markenklamotten, Unterhaltungselektronik und Mädchen eindecken. Diese Verheißungen tragen zu ihrer Entscheidung bei, lieber »ihr Land zu verlassen, als sich am Aufbau einer neuen, demokratischeren und gerechteren Gesellschaft zu beteiligen«.
Stauffer benennt zudem die Profiteure des Migrationsdrucks in der Maghreb-Region. Ohne hochkriminelle Schleppernetzwerke würde die massenhafte Migration nicht funktionieren. Der Autor zeigt die Tristesse der Kleinstädte, die krassen Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Touristenorten und den Abgehängten auf dem Land. Er kritisiert den Umstand, daß sich viele Autoren gerade nicht mehr auf Recherchen vor Ort einlassen, wodurch es mehr und mehr zu Zitierkartellen kommt.
Bei Stauffer sind es neben den detaillierten Vor-OrtStudien im Maghreb vor allem die luziden Einschätzungen von Sinn und Widersinn europäischer Migrationspolitik und die pragmatischen Lösungsansätze in einer scheinbar ausweglosen Situation, die sein Werk lesenswert machen.
Stauffer bietet Journalismus mit wissenschaftlicher Präzision und ohne den drohenden Zeigefinger linker Gesinnungsethik.
Diese analytische Schärfe sucht der Leser von Jan Plampers Monographie Das neue Wir (Frankfurt a.M. 2019, 400 S., 20 €) vergeblich.
Der Kosmopolit Plamper, der, in Deutschland geboren, unter anderem in Rußland und den USA lebte und mittlerweile an der University of London lehrt, versucht Massenmigration als einen deutschen Normalzustand darzustellen. Dafür bemüht er eine Fülle von historischen Beispielen, die weder logisch noch chronologisch aneinander anschließen.
Sein geschichtlicher Abriß besteht aus einer Aneinanderreihung von Anekdoten von und über Personen der Zeitgeschichte oder aus dem persönlichen Umfeld des Autors. Von der deutschen Auswanderung nach Amerika im 19. Jahrhundert geht es zur Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten und ihre Ansiedlung in den verschiedenen Besatzungszonen der heutigen BRD. Danach springt er zu den in Westdeutschland angeworbenen Gastarbeitern und den Vertragsarbeitern der DDR. Kurz darauf geht es um Rußlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge, bevor der Sprung ins Jahr 2015 erfolgt.
Plamper stellt die Geschichte der Migration von und nach Deutschland als Erfolgsgeschichte dar, und das, obwohl selbst er fast nur problematische Beispiele aufzählt, in denen Migrationsbewegungen soziale Spannungen hervorriefen, Menschen
ihrer Heimat beraubt oder entwurzelt wurden.
Der Autor verkennt grundlegende soziologische Kausalitäten über das Zusammenleben etablierter, gewachsener Gemeinschaften und ihr Verhältnis zu Außenseitern. Proteste des deutschen Volkes gegen den massenhaften Zustrom an Migranten erscheinen als rechtsradikale Anomalien; kritische Punkte wie Ausländerkriminalität werden nicht thematisiert. Migranten sollten
nicht zur Integration oder Orientierung an einer Leitkultur gezwungen werden, da man dadurch den lokal gewachsenen Sitten und Gebräuchen einen höheren Stellenwert zuschriebe als den neu hinzugekommenen.
Immer wieder drängt sich die Frage auf, wo die versprochene Erfolgsgeschichte der Migration zu finden sei. Stattdessen wartet der Autor vor allem gegen Anfang und Ende seines Werkes mit linken Klischees auf (»Jeder ist Migrant, fast überall, fast immer – besonders die Deutschen«). Eine globale Politik der offenen Grenzen ist ihm am Ende auswegund alternativlos. Schuld daran ist vor allem der Westen, durch seinen Kolonialismus, den Klimawandel etc. Die vorliegende Studie ist letztlich
keine – dafür aber enthält sie die Quintessenz multikulturalistischer Ideologiebildung.
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Alle genannten Werke kann man hier bestellen.