Ihr Wohnungsbauprogramm sah die andere Republik damals als Kernstück ihrer Sozialpolitik und daher als „Hauptaufgabe der entwickelten sozialistischen Gesellschaft” an. Lange her. Fragt mich jemand, wo ich wohne, verblüfft meine Antwort. Wieso? Warum das denn? Wie hältst du es da bloß aus? Dort gibt es doch nur noch Loser, Assis und Ausländer!
Aber es gibt nichts auszuhalten; es lebt sich – ganz ordentlich. Und es war “antizyklisch” genau die richtige Idee, mal wieder das Abseits zu wählen. Wer hier zu Hause ist, der erlebt augenfällig die Differenz zwischen den Etablierten und dem Rest, jenen Riß, den die Berliner Republik mit Gerechtigkeits- und Teilhabe-Rhetorik verschmieren möchte.
Man entgeht in der Platte der Gut-drauf-Diktatur der Positivität, wie sie sich sowohl offiziell und politisch-propagandistisch als auch konkret alltagskulturell bei den besserverdienenden Erfolgstypen, multifitten Selbstausbeutern und coolen Hedonisten etabliert hat. Außerhalb der angesagten Stadtteile und Szeneviertel darf man Versager sein, kann man offener depressiv erscheinen oder sich gehenlassen. Nichts verpflichtet einen auf zur Schau getragene Glückseligkeit. Ist man hier angekommen, muß man äußerlich keinem irgendwas beweisen.
Damals, in der bereits welken Scheinblüte der Siebziger-DDR, war froh, wer es aus den zerfallenden Innenstädten in die „Neubaugebiete“ schaffte. Heute hat sich das umgekehrt. Die es seit den Neunzigern geschafft haben, leben nie und nimmer „in der Platte“, sondern entweder in sanierten und pittoresk hergerichteten Häusern der Altstadt oder in Edelimmobilien, die gerade in bester Lage und mit „zeitloser Architektur“ entstehen, zum Vorzugspreis von zweihundert- bis dreihunderttausend Euro für eine technisch perfekte Zweiraum-Eigentumswohnung sterilen Charmes, mit Terrasse und Blick in die Weite aus bodentiefen Fenstern, gern dorthin, wo noch Natur und Historisches vorerst unplaniert blieben.
Innerstädtisch regiert eine knallharte Grundstücksverwertung und ‑vermarktung, die für die SUV-Bourgeoisie wie für die neue linksgrüne Bürokraten-Elite einer Landeshauptstadt genau das Richtige bereithält.
Als vor fünfzig Jahren die „Platte“ entstand, wurde sie sogleich lebendig: junge Familien, viele Kinder, neue Schulen. Einige der damals Jungen leben immer noch hier – meist genau jene Wendeverlierer, die es eben nicht geschafft haben und jetzt, älter als sechzig, bleiben müssen. Als sie als junge Facharbeiter dank Ehe-Kredit und Kindergeld in die neuen Blocks zogen, drang das böse Wort von den „Arbeiter-Schließfächern“ oder – mit Heiner Müller – den „Fickzellen mit Fernheizung“ noch nicht bis hierher durch.
Man war zunächst zufrieden: Innentoilette, warmes Wasser aus der Wand, zwei oder drei Zimmer, für größere Familien sogar vier, Spielplätze, Kaufhalle, Sportanlagen und Schwimmhalle. Die DDR mußte wegen ihrer fatalen sozialistischen Planwirtschaft, der weitgehenden Abschottung vom Weltmarkt und der Zwangsexporte Richtung Sowjetunion auf eine pseudo-preußische Weise bescheiden sein, ihre Leute mußten es ebenfalls, wollten es freilich nicht; das Land ging, von der UdSSR plötzlich zum Anschluß freigegeben, eher aus dem Mangel an Komfort und Konsum unter als wegen der später beschworenen Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit. Golf statt Trabant, klar.
Die Werbung im Westfernsehen bewirkte weit mehr als die vollbärtigen intellektuellen Bürgerbewegten mit ihren Träumen vom dritten Weg. Was findige Ingenieure vor dem Ende der andere Republik dennoch „innovativ“ versuchten, das findet sich spannend und symptomatisch in diesem Podcast dargestellt. Letztlich blieb ihr enormes Bemühen vergeblich.
Demokratie und Freiheit? Kannte man nicht. Und als man sie kennenlernte, wirkten sie ähnlich grau und durchbürokratisiert wie das einst ungeliebt Vertraute. Meinungs‑, Presse- und all die anderen bürgerlichen Freiheiten interessierten jene, die sich darin gedanklich bewegen wollten. Das war wie stets eine Minderheit. Alle anderen befleißigten sich so wie einst der “Normerfüllung” nun des Konsums, der die sogenannte Demokratie bis heute zusammenhält.
Ein wesentlicher Unterschied, der erst später klar wurde: Die DDR, so verwachsen sie als Kind des Kalten Krieges erschien, verstand sich dezidiert als Nation; die Bundesrepublik wollte genau das ihrem prinzipiell veränderten Selbstverständnis nach gerade nicht mehr sein.
Gegenwart: Die Platte steht noch, stabil und gerade, hier und da bunt getüncht; Beton hält ein paar Jahrzehnte. Trivialisierte, primitivisierte Bauhauskultur, neue Sachlichkeit nach sozialistischer Art. Ich renovierte mir klassisch mit Rauhfaser und fester Farbe eine Zweiraumwohnung mit Balkon und verspürte sogleich den spröden, aber lichten Charme der DDR-Siebziger. Eines haben sie nämlich hingekriegt: große Fenster für viel hohen Himmel. Die Wohnung ist licht und freundlich. Ich fühle mich im Ausblick freier als in einer Spitzgiebel-Mansardenwohnung der Innenstadt. Ganz bewußt putze ich die Fenster sehr aufmerksam und verzichte zugunsten von Klarsicht auf Gardinen.
Da ich überhaupt gern reduziert und mit wenig Anhaftung lebe, habe ich Platz für Sport auf dem praktischen Kunststoff-Fußboden. Nein, kein Parkett, kein Laminat, zum Glück auch kein ekliger Teppichboden, sondern abwischbarer, ausnehmend pflegeleichter und hygienischer Kunststoff, eine Art fester Gummi, wie Turnhallenbelag, ideal für Gymnastik und Kraftübungen.
Mit dem Rad bin ich in ein paar Minuten in der Natur. Das Fahrrad ist für mich überhaupt ein Medium der Freiheit. An den Verkehrsstaus und an den Masken-Gesichtern in der Straßenbahn surre ich vorbei. Der Arbeitsweg in die Innenstadt ist recht lang, führt aber durchs Grüne. Man ist beinahe allein, da die anderen den Streß des Verkehrs die mehrspurigen Zufahrtsstraßen entlang bevorzugen.
Meine Nachbarn gehören zum unteren Drittel der sozialen Staffelung, aber das paßt mir, denn gewissermaßen bin ich ebenfalls einer, der es nicht geschafft hat, jedenfalls lange nicht bis in die Innenstadt-Quartiere, wo die Leistungs- und Entscheidungsträger und die selbsterklärt Erfolgreichen leben. Wo ich zu Hause bin, da wohnen die „sozial Benachteiligten”, die Migranten und die zugereisten „persons of color“. Ausländische Stimmen, aus denen ich nur das Russische sicher heraushöre, viele ernste bärtige Männer, weiblicher Kopftuchchic, orientalische Kleidung, die Gesichter Afrikas und Vorderasiens.
Man erlebt also eine Art Zuwanderungssozialismus. Wer es hierher geschafft hat, aber “nicht in Arbeit gebracht” ist, es mutmaßlich gar nicht anstrebt, bekommt zur Grundsicherung die Miete und die Heizung bezahlt. Und geht einkaufen. Es bilden sich sichtbar Sonderstrukturen in manchen Straßen und Plattenbaukomplexen. Die Situation als solche ist ein Problem, vor allem eines der Gerechtigkeit; ein größeres ist jedoch, daß die Blockparteien-Regierungskoalitionen es gar nicht als Problem ansehen, sondern sich noch mehr Zuwanderung wünschen, die mit dem Begriff “Einwanderung in die Sozialsysteme” schon richtig beschrieben ist.
Die Alimentierung der Parallelgesellschaften kostet Unsummen. Integrierbar scheinen die allermeisten Migranten nicht zu sein. “Arbeitete” der junge Afrikaner dort, woher er kam? Wollen die Fremden dazugehören? Wozu genau? Zu Deutschland, das nach Maßgabe seiner Regierenden sich kaum mehr als Nation oder Nationalstaat verstehen soll? Was ist denn Deutschland? Jetzt noch? -
Abgesehen davon: Einige, vermutlich wenige, nehmen die Chance wiederum sehr engagiert an. Mein Telefonanlage und das Internet wurden von einem Telekom-Mitarbeiter geschaltet, dessen Vater Russe und dessen Mutter Syrerin ist, wie er mir auf interessierte Nachfrage erzählte. Er sprach sehr gut Deutsch und wurde von einem Palästinenser begleitet, den er so bestimmt und genau anlernte, wie man es sich von einem deutschen Handwerksmeister der Fünfziger vorstellt.
2015 ging es der Regierung um die Rettung von Menschen aus “humanitärer Notlage”. Diese dauert hier nicht an; vielmehr bleibt der Komfort. Wird es “Deutschland” gedankt?
Das stört viele der Restdeutschen mit ihren Billig-Jobs oder “Maßnahme-Karrieren”, oft vom Kik eingekleidet, ja, durchaus noch in Stone-Washed-Look oder Jogginghose, hier und da mit Arschgeweih. Der Zigarettenrauch ist deutlicher wahrzunehmen als anderswo, Frustqualmerei auf dem Balkon, der Alltagsalkoholismus erscheint gegenwärtiger. Mit dem Rad muß ich schon darauf achten, nicht durch Scherben zu fahren.
Verlierer werden hier sichtbar. Es gibt genug Menschen, die aus allerlei Gründen ihre Krisen nicht bewältigten, die also nicht wieder aufstehen und ihr Krönchen richten konnten. Sie hatten nie eins auf. Vielfach waren ihre Startbedingungen schwierig. Das entschuldigt nicht alles, erklärt aber manches. Menschen sind verschieden. In der Platte sammelt sich mehr relatives Unglück als anderswo. Was nicht heißt, daß man dort dann zwangsläufig unglücklich ist. Äußerlich vielleicht, sozusagen objektiv. Subjektiv läßt sich das aber anders spiegeln. Und für die Platte mag gelten: Wo alle weniger haben, lebt sich’s entspannter als dort, wo die Kontraste auffallender sind.
Ich bin alles andere als ein Sozialromantiker, aber ich habe noch nirgendwo eine so dezente und unaufdringliche Freundlichkeit, ja Höflichkeit erlebt wie hier zwischen den „einfachen Menschen“. Und das schließt die Ausländer meines Erfahrungsbereiches durchaus ein. Die kurzen Blicke scheinen zu sagen:
Nun ja, wir versuchen doch alle, hier irgendwie klarzukommen. Du genauso wie wir. Irgendeinen Grund wird es ja haben, daß du dich nun gerade hier untergebracht hast, weißer Mann. Machen wir’s uns nicht gegenseitig schwerer, sondern besser leichter, weil das ohnehin einfacher ist. Dazu gehört auch: Kaum irgendwo sieht es vermüllt aus. Die meisten kümmern sich schon um ihren eigenen Dreck. Damit beginnt ja die Kultur, und sie hält sich hier noch.
Es gibt keine Verpflichtung zum geistreichen Small-Talk mit netten Bonmots, schon gar keine aufdringlich falsche Freundlichkeit; ein Kopfnicken, ein kurzes Lächeln reichen aus. Wird’s mal eng, übt man sich in Geduld. Alle existieren, aber niemand repräsentiert. Mal einer Orientalin die Tür aufhalten belohnt einen mit ihrer stillen, sehr stillen Sympathie.
Den vielen Geduckten und scheu Verhuschten, gegenüber den depressiven Pegeltrinkern mit Corona-Haarschnitt und den einsamen Hundeausführern reicht ein kurzes „Guten Tag!“, und sie registrieren verblüfft, daß sie von jemandem wahrgenommen werden, in der Weise ruhiger Zugewandtheit, die ihnen nicht gleich ins Leben trampelt und nach Rechtfertigungen für ein fragwürdig verbrachtes Dasein verlangt.
Welches Leben ist denn nicht fragwürdig? Bei der nächsten Begegnung lächeln sie unsicher, und mancher fängt sogar an, erste Sätze zu bilden und sich ein wenig mitzuteilen. Nicht zu viel, denn Distanz und Höflichkeit scheinen in der Platte wichtig, wo man Wand an Wand lebt. Gerade keine DDR-Hausgemeinschaftskultur mehr. Zum Glück nicht! Eher doch Singularitäten, aufgeteilt in Wohneinheiten, draußen aber spürbar verständnisvolles Miteinander. Die kleine Kunst des Umgangs gründet ohnehin im Weniger als im Mehr.
Als im milden Frühdezember die russischsprachigen Kerle draußen immer noch beim Volleyball waren, gesellte ich mich dazu, weil ich sah, daß da fünf gegen sechs spielten. Nachdem mir drei gute Angaben gelungen waren, lief es. Mолодец! Mehr Anerkennung geht nicht. Ich kann weiter mitmachen.
Überhaupt: Beim Sport sieht man nahezu ausschließlich Ausländer und Migranten, Deutsche nicht. Klar, in der Innenstadt joggen die Intellektuellen, deren Frauen auf der Terrasse Asanas einüben. Ihr iPhone dokumentiert die Fitneßwerte. Hier aber pumpen und rennen eher die osmanisch anmutenden Männer, so wie auch deren Kinder draußen spielen, während die deutschen von Fortnite absorbiert werden.
Eines ist so geblieben: Das Leben hat Maß. Für die, die hier ankamen, mitunter strandeten, ist der Plattenbau-Standard immer noch Luxus: Innentoilette, Wasser aus der Wand, Fernheizung, Balkon. Die Küche hat man sich selbst einzubauen oder holt sie beim Möbel-Spareinkauf, der Alternative zu den schicken Küchenstudios der Innenstadt. Als ich bemerkte, daß beim “Sparkauf” zu erträglichen Preisen durchaus Qualität geboten wird, sagte der Verkäufer im Blaumann: Wir vertreiben hier das Gleiche wie die anderen, nur finanzieren wir nicht noch zwei Chefs und zwei Porsches mit.
Überhaupt sind wir Plattenbaubewohner gern im Baumarkt und suchen nach „praktischen Lösungen“. Das ist offenbar die Alternative dazu, sich für das Innenstadtquartier oder das eigene Heim in den Eigenheimghettos der umliegenden Dörfer in die Gefangenschaft der engen Kreditlinien zu begeben. Wir hier im Plattenbaubezirk bleiben mobil. Wir könnten flott weg. Müssen wir aber nicht.
RMH
"Trivialisierte, primitivisierte Bauhauskultur, neue Sachlichkeit nach sozialistischer Art."
Wo ist der große Unterschied zu aktuellen Mehrparteien-Wohnneubauten, welche die überall gleichen CAD- Programme unseren Architekten und Bauingenieuren (ob FH oder Uni spielt bei dem aktuellen Gestaltungspauperismus keine Rolle mehr) bequem anbieten?
Gut, man sieht keine offenen Fugen mehr, alles ist schon "gedämmt" hinter "gebrochenem" weißen Putz, die Fenster haben dunkle Rahmen und die Häuser haben jetzt Aufzüge ---- aber sonst?
In der DDR war der Wohnraum tatsächlich für die Bewohner bezahlbar (ob der staatliche Bauträger drauf gezahlt hat, lässt sich sicher heute sicher nicht mehr 100%ig klären) und hierzulande wird für solch einen ästhetischen Neubau-Einheitsschrott, diese stilistischen Bankrotterklärungen vom Fließband, mittlerweile gerne 4tsd Euro (eher Provinz) und deutlich mehr (Ballungsräume) pro qm verlangt - finanziert ja die Bank für nur 1,x % Zins ...
Was meinen denn die stolzen Neubaubewohner, wer ihnen diesen Schrott in 20 oder 30 Jahren abkaufen soll und zu welchem Preis?
Die Nachkommen der Bewohner aus der "Platte" oder den entsprechenden, zahlreich vorhandenen Pendants in den ehem. "Westgebieten"?
Selbiges gilt für die "Häuslebauer" in der "Speckgürteln", bei denen die architektonische Einfallslosigkeit, diese stilistische Verwüstung, nahtlos ihre Fortsetzung findet.