Warum erzählt Helmut Lethen von jenem Plakat aus den 70er Jahren im Utrechter Busbahnhof, das eine Kaffeewerbung mit dem Tod verbindet? Weil es ein Beispiel der Vagheit der eigenen Erinnerung ist, denn eine heute mögliche Internetrecherche belehrte ihn, daß die jahrzehntealte Erinnerung in fast allen Details falsch lag. Das ist ein Vorbehalt. Und noch so ein Satz: »Es ist nicht immer leicht, den Gedankengängen der Rechtsintellektuellen zu folgen.« Nun, das gilt auch spiegelbildlich.
Seine subtil komponierte und mit allerlei Klammern tiefsinnig umfaßte Lebensbeschreibung beginnt im Schutzkeller. Die dröhnenden Flieger, die berstenden Bomben haben sich tief ins Körpergedächtnis eingegraben. Mit 18 Jahren sitzt er dann ungeschützt vor den unfaßbaren Bildern aus Resnais’ KZ-Film Nacht und Nebel, die er wie Wackersteine sein Leben lang nie richtig verdaut und mit sich herumträgt. Diese Initialereignisse müssen genügen, den Lebenspfad zu erklären. Sie führen ihn in den intellektuellen Raum, in einen Distanzraum. Das große Paradox dieses Lebens ist die starke innere Wärme, ein überaus sensibel ausgeprägtes und weit umspannendes Empathievermögen, das überall spürbar ist, und der Versuch, durch Kälte- und Distanztechniken an dieser inneren selbstaufzehrenden Glut nicht zu verbrennen. »Raum« ist das Zauberwort dieses Spannungsverhältnisses – Lethen verwandelt habituell Beziehungen in Räume, bedenkt sie mit Raumbegriffen und Raummetaphern. Sein ganzes Leben stellt sich im Nachhinein als ein vornehmlich in Worträumen gelebtes dar.
Die innere Dynamik dieser Erzählung ist akzelerierend. Sind die ersten beiden der vier Kapitel noch lebenshaltig und substantiell, so werden die späteren mehr und mehr abstrakt und ausgeräumt. Er zitiert Benjamin: »Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen«. Das »Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.« Der Begriff der »Biographie« trifft nur die Hälfte des Buches, vornehmlich die erste, immer stärker werden die zahlreichen Geschichten und Anekdoten durch ästhetische Reflexionen und philosophische Meditationen abgelöst. Besonderes Interesse hat im Feuilleton die Nachachtundsechzigerphase, in der die gesammelte Komik und Tragik dieser Generation eingefangen wird. Man lernt – trotz der Schwierigkeit, den linksintellektuellen Gedanken folgen zu können – Movens und Agens sehr wohl verstehen. Subjektiv war das Engagement in den K‑Gruppen ein Haltgeber, etwa »vor den Phantasmen flottierender Sexualität«, objektiv waren sie Systemstabilisatoren. Lethen nutzt die historisch distanzierte Beschreibung auch zur Selbstwahrnehmung – »Wir hätten mehr wissen können« –, aber bis zur Infragestellung des Vorwurfs an die Väter reicht es nicht.
Über Umwege kommt er im akademischen Arkadien an, landet mit den Verhaltenslehren der Kälte (1994) einen Volltreffer und kann nun seine Hypersensibilität in endlosen Wort- und Wahrnehmungsräumen ausleben. Echtes Leben wird mehr und mehr durch Lektüren und artifizielle Wahrnehmungen ersetzt. Es wird nun öfter gedacht als gelebt. Diese Bewegung macht das Buch bedeutsam – weil symptomatisch. Wir tauchen ein in eine hochintellektuelle artifizielle Welt, in der Sozial- und Kunstwissenschaften in Kunst aufgehen: der Kunst, durch Wortakrobatik Wirklichkeit erscheinen zu lassen; ein Kompositum aus Intellekt, Ästhetik, Kälte, Distanz und Stoa. Ein Leben als Beschäftigungsmaßnahme, mit selbstauferlegten Sorgen.
Dort, wo Evidenzen verschwinden, werden sie zum Thema (etwa kulturwissenschaftlicher Konferenzen). Umgekehrt führt das Nachdenken über Evidenz zur Verhinderung der Wahrnehmung und des Verständnisses des doch so Evidenten. Er legt davon Zeugnis ab, vor allem im Kapitel über das Fremdsein des ihm nächsten Menschen – seiner Frau. Für sie (es handelt sich um Caroline Sommerfeld) war Raspails Heerlager ein Erweckungserlebnis, für ihn »das abgründige Bild einer wiederkehrenden Kolonialschuld«. So wundert es nicht, daß der Einbruch der realen Geschichte zu einer Umpolung führte: Der Theoretiker und Praktiker der Verhaltenslehren der Kälte bemerkt überrascht sein warmes Herz, während seine Frau ganz kantisch ihren Verstand wiederentdeckt und von nun an darüber nachdenkt, »wie sich Geschichte ohne Interventionen moralischer Kategorien denken ließe«. Während der paradigmatische Linke sich genötigt sieht, zu erklären, weshalb sich bei ihm »ein Ich-Gefühl, aber keines der nationalen Identität« ausbilden konnte, entdeckt sie in sich ihr deutsches Wesen.
In seiner anerzogenen und selbsterworbenen Angst vor der Substantialität ist es ein durch und durch deutsches Buch geworden. Die geleugnete Identität bestätigt sich im Raum ihrer Leugnung.
Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin: Rowohlt 2020. 383 S., 24 € – hier bestellen.