Damals mußte Zitelmann ausschließlich auf französische Originalquellen zurückgreifen. Auch das Werk Penser la Révolution Française des Historikers François Furet, das sich Cochin eingehend widmet und aus dem im jetzt vorliegenden Band ein Auszug als Nachwort abgedruckt ist, erschien erst ein Jahr später. Der Karolinger Verlag hat sich die Mühe gemacht, die französische Ausgabe von Cochins wichtigsten Schriften jetzt auf Deutsch herauszubringen. Die Mühe hat sich gelohnt.
Cochin (geboren 1867, gefallen 1916) hat sich jahrelang in die Archive aller möglichen französischen Départements begeben, um am Quellenmaterial nachzuweisen, daß die Französische Revolution weder wegen ökonomischer oder gesellschaftlicher Widersprüche, Unterdrückung des dritten Standes etc. ausbrach, noch, wie Hippolyte Taine seinerzeit behauptete, eine plötzliche Anwandlung von »spontaner Anarchie« im Volke gewesen ist. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil sogar: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts bilden sich in ganz Frankreich »philosophische Gesellschaften«, sogenannte sociétés de pensée.
Dabei handelt es sich um Lesezirkel, wie Pilze aus dem Boden schießende Logen, Zellen, Akademien, literarische Klubs. Ihr Netz wird zusehends ausgedehnter und engmaschiger, bis jede Provinzstadt ihren Klub und ihre Zelle hat. Cochin hat die Briefe, Memoranden und Protokolle der vorrevolutionären »Denkgesellschaften« verglichen – die Parallelen sprechen für Absprache und geheime Steuerung. Interessant ist nun, gerade wenn man mit dem heutigen Blick des verschwörungstheoriegeplagten Beobachters an die Revolutionsmaschine herantritt, daß Cochin im Gegensatz zu prominenten Zeitgenossen gerade nicht »die Freimaurerei« als Hintergrundfolie aufspannt. Zweifellos spielen ihre Logen eine Rolle, aber die Mechanismen, deretwegen Cochin von einer »Maschine« spricht, funktionieren nicht nach Freimaureregularien, sondern wie von selbst: Es ist nichts als die menschliche Schwäche, mit der die Maschine arbeitet. Die Eliten schleifen sich aneinander ab, das Volk wird aufgerieben.
Es sind zunächst die »Philosophen«, deren Gesellschaften eigene Sortierungs- und Einübungsgesetze kennen, die nach und nach vom gesunden Menschenverstand abrücken und ein »Sprachregime« (Michael Esders) an dessen Stelle setzen. »Freiheit«, »Volk«, »Demokratie« oder »Patriotismus« werden umcodiert, ohne daß es einen Plan dazu gäbe, denn die freischwebende Intelligenz formt die Welt nach ihrem Traumbilde, aus Meinungen wird irgendwann unter der Hand »neue Wirklichkeit.« Die gesellschaftliche Arbeit geht vom Angriff auf die Verteidigung über: »um das Denken zu befreien, isoliert sie es vom Leben, anstatt es sich zu unterwerfen«. Der nächste Schritt innerhalb der Denkgesellschaften besteht darin, daß sich »jeder (dem) unterwirft, wovon er glaubt, daß es alle billigen«. Dergleichen kommt uns Heutigen sehr bekannt vor, man denke nur an Gendermainstreaming oder Schulddiskurs.
Nach den Philosophen, die, so Cochin, den Tempel niederrissen, kamen die Jakobiner, um ihn wieder neu aufzubauen. In den Augen der Verteidiger des neuen Regimes sind dann – schwuppdiwupp! – die Gesellschaften = das Volk. Die neue Macht kann darauf verzichten, als legitimer Herrscher anerkannt zu werden, da sie mit der Methode der faits accomplis ihre Herrschaft immer schon gesichert hat, mit anderen Worten: »alternativlos« geworden ist. Es gibt keinen Widerspruch mehr zwischen den Interessen des Volkes und Rousseaus volonté générale, weil es begrifflich keine Möglichkeit mehr gibt, das »Volk« jenseits der bereits siegreich errungenen Volksherrschaft überhaupt noch zu denken. So geht Sozialismus: »Die Denkgesellschaften sind nicht der Sozialismus, aber sie sind das Milieu, in dem der Sozialismus sprießen, wachsen und herrschen kann, auch wenn ihn nichts ankündigt, wie in den Logen von 1750.«
Cochins Buch liest sich streckenweise wie Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1948), nur sprachlich feiner auf den Punkt gebracht und wesentlich kürzer. Allein Cochins Analyse der Austreibung der Wirklichkeit aus den Denkgesellschaften lohnt den Vergleich mit Arendt, genauso wie seine Beschreibung der Beherrschbarkeit des isolierten Menschen oder die Gleichschaltungsmethode, die Zustimmung des Volkes durch die Suggestion, überall anders hätte das Volk bereits zugestimmt, zu erreichen. Arendt stellt nirgendwo die Frage, w i e genau diese Maschine operiert, sie kritisiert die totalitären Folgen der Operationen, während Cochin aus den Einzelquellen die Operationen und daraus die Revolutionsmaschine zusammenbaut.
Wer Genaueres über die Gegenwart erfahren will, der gehe zurück zur Französischen Revolution – vielleicht wird er dort an der Hand von Augustin Cochin manchen Vorausblick auf den bereits laufenden Great Reset, den Umbau des globalen Kapitalismus hin zu einer neuen Ordnung, werfen können. Denn Revolution ist stets nicht nur die Zerstörung des alten, sondern ebenso der unverzügliche und unbemerkt ablaufende Aufbau des neuen Tempels.
Augustin Cochin: Die Revolutionsmaschine. Ausgewählte Schriften. Mit Beiträgen von Patrice Gueniffey und François Furet. Wien: Karolinger Verlag 2020. 190 S., 24 € – hier bestellen.