Verfaßt haben es der Bulgare Ivan Krastev und der US-Amerikaner Stephen Holmes. Der Kerngedanke ihres Buchs kreist um die Arroganz der liberalen Demokratie, deren Anhänger die Autoren gleichwohl sind. Sie machen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die illiberal-demokratischen Entwürfe, die in Ungarn, in Polen oder in Rußland umgesetzt werden. Aber ihre Verstehensbemühung für deren Entwicklung war beispiellos, und ihre Thesen wirkten schlagend.
Nun erscheint gegen Ende des Folgejahres ein Werk, das wiederum das Prädikat »Meilenstein« verdient. Während Krastev und Holmes den Fokus auf liberale vs. illiberale Demokratie legten, das heißt die politische Ebene priorisierten (ohne die damit einerhergehende ökonomische und gesellschaftliche Dimension zu negieren), konzentriert sich Branko Milanović auf die ökonomische Ebene (ohne die damit einhergehende politische und gesellschaftliche Dimension zu negieren). Auch der serbisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler (Jg. 1953) ist keiner von »uns«. Wie seine Kollegen Krastev und Holmes ist er Anhänger eines liberaldemokratisch-egalitären Weges. Aber auch Milanović will zuallererst verstehen und darstellen, und seine quellensatten Thesen lassen dem Leser Spielraum zum eigenständigen Weiterdenken.
Der Ausgangspunkt Milanovićs ist die Feststellung, daß es der Kapitalismus – als wesentlich auf Wachstum beruhendes System – besser als alle konkurrierenden Modelle verstanden habe, jene Bedingungen zu schaffen, die ihm eine beispiellose Stabilität verschaffen. Dies gelingt ihm, indem die Majorität der Individuen die hegemonialen Werte der Eliten, auf denen das System beruht, bereitwillig vertreten. Auf diese Art werden sie verstärkt und legitimiert.
Global habe sich kapitalistisches Wirtschaften bis auf marginale Nischenräume indigener Völker und bewußt separierter Aussteiger durchgesetzt. Augenblicklich gebe es lediglich verschiedene Wege, den Kapitalismus auszugestalten und, sofern erwünscht, durch rigide Setzungen zwar nicht final einzuhegen, aber doch in adäquatere Richtungen zu lenken. Die wichtigsten Vertreter dieses global reüssierenden Systems macht Milanović im »liberalen meritokratischen Kapitalismus« der USA und im »politischen Kapitalismus« Chinas aus, die er jeweils ausführlich in ihren Stärken und Schwächen, möglichen Allgemeinheiten und genuinen Besonderheiten analysiert.
Man kann trefflich darüber streiten, ob beide Arbeitsbegriffe ohne weiteres die einzig möglichen Bezeichnungen für die US-amerikanischen und chinesischen Leitmodelle sind (sie sind es sicherlich nicht), aber akzeptiert man diese Prämisse des Autors, stehen fast 400 Seiten zur Diskussion herausfordernde Lektüre an, deren einzelne Kapitel aufeinander abfolgend oder, wem die Lesezeit rar scheint, auch einzeln vorzunehmen sind.
Für rechtsorientierte Leser unverzichtbar sind beispielsweise Milanovićs Überlegungen zum »Wohlfahrtsstaat in der Ära der Globalisierung«, wobei es die angloamerikanische Sozialisation des Autors bedingt, daß er »Wohlfahrtsstaat« und »Sozialstaat« synonym verwendet, was gerade aus kontinentaleuropäischer Perspektive zu bemängeln ist. Aber es erinnert an eine zeitgemäße und mit aktuellen Daten gestützte Weiterentwicklung der Denkarbeit Rolf Peter Sieferles, wenn Milanović auf die Kernbereiche eines jeden Sozialstaats hinweist und diese analysiert.
Für einen auch im Mainstream rezipierten Autoren beachtlich ist, daß Milanović nicht verschweigt, was das Kernelement eines jeden funktionierenden und effizienten Sozialstaats ist: Er wurde errichtet, um Leistungen für eigene Staatsbürger zu bieten, die in unvermeidlichen (Schwangerschaft, Elternzeit, Kindergeld etc.) oder sehr verbreiteten (Unfallversicherung am Arbeitsplatz, Gesundheitsfürsorge, Krankengeld etc.) Situationen im Leben der Bürger nötig sind. Der Sozialstaat beruhe stets »auf der Annahme eines ähnlichen Verhaltens aller Mitglieder der Gesellschaft, anders ausgedrückt auf ihrer kulturellen und vielfach auch ethnischen Homogenität«, weshalb das historische Entstehen eines Sozialstaates unweigerlich »zahlreiche nationalistische Elemente aufwies«.
Nun aber untergraben Globalisierungsfolgen diese Gegebenheiten. Schrumpfung der Mittelschicht, Arm-Reich-Polarisierung und Migration unterminieren die Bestände des Sozialstaats, dessen Voraussetzung (!), so der Autor, »Homogenität« sei. Es mag dieser Einsicht Milanovićs geschuldet sein, daß er als erklärter liberaler und egalitärer Kapitalist und gleichwohl realistischer Denker eine »grundlegende Veränderung der Einwanderung« in Richtung von »befristeten Bewegungen von Arbeitskräften« einfordert, »die keinen automatischen Zugang zur Staatsbürgerschaft und dem gesamten Angebot an Sozialleistungen haben«.
Milanović rechtfertigt nichts anderes als relative ethnokulturelle Homogenität und relative soziale Homogenität als doppelte Basis eines auch im 21. Jahrhundert noch denkbaren und durchsetzungsfähigen Sozialstaates. Seine Analysen können daher der weiteren inhaltlichen Fundierung eines Solidarischen Patriotismus dienen. Spätestens damit aber gilt für Milanovićs Kapitalismus global dasselbe, was Götz Kubitschek über Das Licht, das erlosch formulierte. Das Buch müsse »von uns weitergedacht, das heißt: übertragen werden auf unsere deutsche Lage«.
Branko Milanović: Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht, Berlin: Suhrkamp Verlag 2020.
404 S., 26 € – hier bestellen.