Es ist kein Geburtstag der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten vergangen, an dem nicht auf die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes verwiesen worden wäre. Dabei ist es nicht schwer, Schwachpunkte auch dieser Verfassung aufzudecken. Ein maßgeblicher ist ihre exzessiv normative Ausrichtung, die das Bundesverfassungsgericht zur wichtigsten Einrichtung der obersten Institutionen machte. Die tendenzielle Dezisionsunfähigkeit der politischen Führung ist unschwer zu erkennen. Der Individualismus ist durch die Präponderanz der Grundrechte und der Menschenwürde überdimensioniert, kollektive Kategorien, etwa die Stellung des Volkes, schwach ausgeprägt, obwohl beides einigermaßen ausgewogen sein müßte, um effektives politisches Handeln zu ermöglichen.
Nicht unwesentliche Wurzeln für die genannten Schwächen lassen sich ausmachen, wenn man die Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes genauer betrachtet. Viele der grundlegenden Arbeiten vom Reich zur Bundesrepublik, etwa von dem Adenauer-Biographen Hans-Peter Schwarz, wurden schon vor längerer Zeit verfaßt und konnten daher wichtige Linien nicht bis in die unmittelbare Gegenwart ausziehen. Die Verfasser jüngerer Abhandlungen zeigten sich indessen zumeist aus politischen Gründen nicht in der Lage, einen Bogen zur heutigen Unfähigkeit, nationale Interessen wahrzunehmen, zu schlagen.
Jochen Lober ist das Kunststück gelungen, den offenkundigen Konnex herzustellen. Der Jurist beschreibt gut verständlich die geschichtlichen und verfassungshistorischen Weichenstellungen im Zeitraum von 1945 bis 1949. Wegweisend waren die »Frankfurter Dokumente« ebenso wie der Konvent von Herrenchiemsee und der Parlamentarische Rat. Überall kam es in diversen Gremien zu einem Gegen- wie Miteinander zwischen den deutschen Vertretern einerseits, von denen Ministerpräsidenten wie Hans Ehard, aber auch Politiker wie Konrad Adenauer und Carlo Schmid herausragen, und den alliierten Repräsentanten andererseits. Die Anteile an dem Gesetzgebungswerk sind auch bei genauem Quellenstudium kaum mehr eindeutig zuzuordnen.
Lober beläßt es nicht bei der Beschreibung der historischen Tatsachen und Entwicklungen. Besonders im abschließenden Kapitel kommt er, unter Berufung auf Carl Schmitt, Ernst Forsthoff und andere, zu einem Resümee, das ihn unter den längst staatsfrommen Verfassungsjuristen wohl zum Paria stempelt: Dem Grundgesetz fehle die Legitimität und die Evidenz, die eine Verfassung benötigt, um Staatsaufgaben und ‑ziele souverän erledigen zu können. Die inhärenten Widersprüche sind auffallend: Staatsstrukturprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden (auf Weisung der alliierten Aufseher) als ewig perpetuiert, während das Gesamtwerk betont als Provisorium angelegt ist.
Zur Genese der »beschränkten Souveränität« gehören nicht nur wichtige Stationen vom Ende des West-Ost-Gegensatzes bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes. Darüber hinaus verweist der Autor auf die Verhandlungen zur »deutschen« Wiedervereinigung 1990, die eigentlich ein stark internationalisiertes Geschehen war. Die Machtlosigkeit der führenden Politiker in beiden deutschen Staaten zeigte sich nicht zuletzt dadurch, daß ihnen von den Siegermächten nur ein Beobachterstatus zugebilligt wurde. Von den »Zwei-plus-Vier«-Mächten waren nur die »Vier« die eigentlichen Akteure, die »Zwei« durch das Besatzungsstatut rechtlich ausgebootet.
Heute mag es keine formal-juristischen Einschränkungen der Souveränität mehr geben. Schlimmer als solche Fesseln ist der Souveränitätsverlust in den Köpfen weit über das politische wie mediale Establishment hinaus. Dieser zeigt sich nicht nur im omnipräsenten »Verfassungszelotismus« (Isensee), sondern auch im Endziel der Selbstaufgabe des eigenen Staates im europäischen Einigungsprozeß, alles auf der Basis der moralistischen »Vergangenheitsbewältigungsideologie« (Lober) und eines selbstschädigenden Weltrettungs-Aktivismus.
Jochen Lober: Beschränkt souverän. Die Gründung der Bundesrepublik als »Weststaat« – alliierter Auftrag und deutsche Ausführung, Lüdinghausen / Berlin: Manuscriptum 2020. 144 S., 23 €.