Jochen Lober: Beschränkt souverän

Eine Rezension von Felix Dirsch

Es ist kein Geburts­tag der Bun­des­re­pu­blik in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­gan­gen, an dem nicht auf die Erfolgs­ge­schich­te des Grund­ge­set­zes ver­wie­sen wor­den wäre. Dabei ist es nicht schwer, Schwach­punk­te auch die­ser Ver­fas­sung auf­zu­de­cken. Ein maß­geb­li­cher ist ihre exzes­siv nor­ma­ti­ve Aus­rich­tung, die das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zur wich­tigs­ten Ein­rich­tung der obers­ten Insti­tu­tio­nen mach­te. Die ten­den­zi­el­le Dezi­si­ons­un­fä­hig­keit der poli­ti­schen Füh­rung ist unschwer zu erken­nen. Der Indi­vi­dua­lis­mus ist durch die Präpon­der­anz der Grund­rech­te und der Men­schen­wür­de über­di­men­sio­niert, kol­lek­ti­ve Kate­go­rien, etwa die Stel­lung des Vol­kes, schwach aus­ge­prägt, obwohl bei­des eini­ger­ma­ßen aus­ge­wo­gen sein müß­te, um effek­ti­ves poli­ti­sches Han­deln zu ermöglichen.
Nicht unwe­sent­li­che Wur­zeln für die genann­ten Schwä­chen las­sen sich aus­ma­chen, wenn man die Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen des Grund­ge­set­zes genau­er betrach­tet. Vie­le der grund­le­gen­den Arbei­ten vom Reich zur Bun­des­re­pu­blik, etwa von dem Ade­nau­er-Bio­gra­phen Hans-Peter Schwarz, wur­den schon vor län­ge­rer Zeit ver­faßt und konn­ten daher wich­ti­ge Lini­en nicht bis in die unmit­tel­ba­re Gegen­wart aus­zie­hen. Die Ver­fas­ser jün­ge­rer Abhand­lun­gen zeig­ten sich indes­sen zumeist aus poli­ti­schen Grün­den nicht in der Lage, einen Bogen zur heu­ti­gen Unfä­hig­keit, natio­na­le Inter­es­sen wahr­zu­neh­men, zu schlagen.

Jochen Lober ist das Kunst­stück gelun­gen, den offen­kun­di­gen Kon­nex her­zu­stel­len. Der Jurist beschreibt gut ver­ständ­lich die geschicht­li­chen und ver­fas­sungs­his­to­ri­schen Wei­chen­stel­lun­gen im Zeit­raum von 1945 bis 1949. Weg­wei­send waren die »Frank­fur­ter Doku­men­te« eben­so wie der Kon­vent von Her­ren­chiem­see und der Par­la­men­ta­ri­sche Rat. Über­all kam es in diver­sen Gre­mi­en zu einem Gegen- wie Mit­ein­an­der zwi­schen den deut­schen Ver­tre­tern einer­seits, von denen Minis­ter­prä­si­den­ten wie Hans Ehard, aber auch Poli­ti­ker wie Kon­rad Ade­nau­er und Car­lo Schmid her­aus­ra­gen, und den alli­ier­ten Reprä­sen­tan­ten ande­rer­seits. Die Antei­le an dem Gesetz­ge­bungs­werk sind auch bei genau­em Quel­len­stu­di­um kaum mehr ein­deu­tig zuzuordnen.

Lober beläßt es nicht bei der Beschrei­bung der his­to­ri­schen Tat­sa­chen und Ent­wick­lun­gen. Beson­ders im abschlie­ßen­den Kapi­tel kommt er, unter Beru­fung auf Carl Schmitt, Ernst Forst­hoff und ande­re, zu einem Resü­mee, das ihn unter den längst staats­from­men Ver­fas­sungs­ju­ris­ten wohl zum Paria stem­pelt: Dem Grund­ge­setz feh­le die Legi­ti­mi­tät und die Evi­denz, die eine Ver­fas­sung benö­tigt, um Staats­auf­ga­ben und ‑zie­le sou­ve­rän erle­di­gen zu kön­nen. Die inhä­ren­ten Wider­sprü­che sind auf­fal­lend: Staats­struk­tur­prin­zi­pi­en wie Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit wer­den (auf Wei­sung der alli­ier­ten Auf­se­her) als ewig per­p­etu­iert, wäh­rend das Gesamt­werk betont als Pro­vi­so­ri­um ange­legt ist.

Zur Gene­se der »beschränk­ten Sou­ve­rä­ni­tät« gehö­ren nicht nur wich­ti­ge Sta­tio­nen vom Ende des West-Ost-Gegen­sat­zes bis zum Inkraft­tre­ten des Grund­ge­set­zes. Dar­über hin­aus ver­weist der Autor auf die Ver­hand­lun­gen zur »deut­schen« Wie­der­ver­ei­ni­gung 1990, die eigent­lich ein stark inter­na­tio­na­li­sier­tes Gesche­hen war. Die Macht­lo­sig­keit der füh­ren­den Poli­ti­ker in bei­den deut­schen Staa­ten zeig­te sich nicht zuletzt dadurch, daß ihnen von den Sie­ger­mäch­ten nur ein Beob­ach­ter­sta­tus zuge­bil­ligt wur­de. Von den »Zwei-plus-Vier«-Mächten waren nur die »Vier« die eigent­li­chen Akteu­re, die »Zwei« durch das Besat­zungs­sta­tut recht­lich ausgebootet.

Heu­te mag es kei­ne for­mal-juris­ti­schen Ein­schrän­kun­gen der Sou­ve­rä­ni­tät mehr geben. Schlim­mer als sol­che Fes­seln ist der Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lust in den Köp­fen weit über das ­poli­ti­sche wie media­le Estab­lish­ment hin­aus. Die­ser zeigt sich nicht nur im omni­prä­sen­ten »Ver­fas­sungs­ze­lo­tis­mus« (Isen­see), son­dern auch im End­ziel der Selbst­auf­ga­be des eige­nen Staa­tes im euro­päi­schen Eini­gungs­pro­zeß, alles auf der Basis der mora­lis­ti­schen »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gungs­ideo­lo­gie« (Lober) und eines selbst­schä­di­gen­den Weltrettungs-Aktivismus.

Jochen Lober: Beschränkt sou­ve­rän. Die Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik als »West­staat« – alli­ier­ter Auf­trag und deut­sche Aus­füh­rung, Lüding­hau­sen / Ber­lin: Manu­scrip­tum 2020. 144 S., 23 €.

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