Franzosen haben eine Neigung zu folgenloser Polemik. Den Leser kann’s vergnügen, erregen oder im besten Fall zur Tat motivieren. Im schlimmsten Fall aber erlahmt jeder kritische Impuls im Wortgewitter von belanglosen Eitelkeiten und verkopften Gedankensprüngen, und ermattet greift der Leser zum Weinglas oder zur Nachtmütze.
Wer im Jahr 2020 ein knapp 30 Jahre altes »gesellschaftskritisches« Buch aus Frankreich übersetzen läßt, sollte Gründe dafür haben, die in der besonderen Güte der Analyse, in zeitlosen Bemerkungen oder einer vorher ungeahnten neuen Aktualität des Gegenstandes liegen könnten. Sind solche Gründe nicht ersichtlich, wird das Neuerscheinen um so mehr zum Wagnis, je stärker sich die Umgebungsbedingungen seither gewandelt haben.
Nun leben Franzosen wie Deutsche 2020 in einer ganz und gar anderen Welt als 1991 – sofern krisenhafte Tendenzen 1991 schon angelegt waren, haben sie sich stark verschärft, neue sind hinzugetreten. Der 2006 verstorbene Muray beklagt sich im vorliegenden Text über Phänomene wie die ubiquitäre Geräuschbelästigung, pseudoreligiöse New-Age-Wellen, die Infantilität öffentlicher Debatten, wohlmeinende Verwaltungsempfehlungen (z. B. gegenüber Rauchern) und anderes, das mit dem zeitlichen Abstand überholt und stellenweise fast niedlich wirkt. Was waren das für goldene Zeiten, als ein Polemiker in Europa Zeit und Anlaß hatte, über solche Probleme zu schimpfen!
Angesichts von Massenpsychosen, Überfremdung und aggressiver Minderheitenagitation liest man von Luxusproblemen wie einer zu großen Rührseligkeit und mangelnder Ernsthaftigkeit in der Öffentlichkeit mit einer Mischung von Nostalgie und Desinteresse. Hinzu kommt, daß dem Essay jede Stringenz und jeder analytische Anspruch fehlt. Muray schimpft zwar wie ein Rohrspatz über alles und jeden, liefert aber weder Hinweise auf die Gründe für die ihn so sehr störenden Mißstände noch kann er einen inneren Zusammenhang der Phänomene plausibel machen. Seine Rekurse auf Ideologeme der 68er (unter anderem ruft er de Sade zum Zeugen an und beklagt die Lustfeindlichkeit der Zeit und allen Ernstes eine Überbetonung von Familienwerten, es werde zu wenig kreuz und quer kopuliert!) lassen die gelegentlichen reaktionären Aphorismen und traditionssehnsüchtigen Einsprengsel zudem arg hohl klingen. Das ist keine (vielleicht etwas wüste) Kulturkritik, sondern da schimpft eher einer im Café aus Langeweile oder Geltungsdrang mit seinen Freunden. Was daran »antimodernistisch« (Verlagswerbung) sein soll, bleibt ein editorisches Geheimnis.
Der Wert des Buches, wenn man einen finden möchte: es ahnt voraus. Was heute an Tugendterror die europid geprägten Gesellschaften durchflutet, ist hier in vergleichsweise harmlosen Anfängen schon sichtbar. Muray stören Moralisierung, öffentliche Tugendbeweise und Emotionalisierung, also alles das, was heute »Gutmenschentum« genannt wird. Auch lassen sich im Buch einige sehr schneidende und schneidige Zuspitzungen finden, so über das öffentliche Aufeinandertreffen von vordergründig kontrahierenden Vertretern der gleichen Ideologie als Theater und Scheindebatte oder über eine »neue Spiritualität«, die sich als letztlich antitranszendental entpuppt. Dennoch: Eine Aneinanderreihung von Zitaten und Aphorismen, von Schimpftiraden und flüchtigen, ja schlampigen Problemaufrissen macht noch keine Zeitgeistkritik, von einer Analyse ganz zu schweigen. Ein im Krisenjahr 2020 überflüssiges Buch.
Philippe Muray: Das Reich des Guten, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2020. 133 S., 20 € – hier bestellen.