Viel Phantasie bedarf es dazu nicht. Die deutschen Medien werden wieder geschlossen von den amerikanischen abschreiben, insbesondere von CNN. Man wird um Superlative ringen und den Vorfall mit Pearl Harbour oder 9/11 vergleichen, als den schlimmsten Angriff auf “die Demokratie” durch geistesgestörte, rechtsradikale Nazifaschisten seit der Machtübernahme von Adolf Hitler vor gerade erst dreihundert Jahren bezeichnen.
Wir werden tausend keuchende Variationen eines Themas lesen, das unter anderem Heiko Maas auf Twitter vorgefiedelt hat:
Die Feinde der Demokratie werden sich über diese unfassbaren Bilder aus #WashingtonDC freuen. Aus aufrührerischen Worten werden gewaltsame Taten – auf den Stufen des Reichstages, und jetzt im #Capitol. Die Verachtung demokratischer Institutionen hat verheerende Auswirkungen. Trump und seine Unterstützer sollten endlich die Entscheidung der amerikanischen Wähler*Innen akzeptieren und aufhören, die Demokratie mit Füßen zu treten.
Diese Haltung vereint die Eliten hüben wie drüben, und ihrer Arroganz ist es zu verdanken, daß gestern hunderte wütende Trump-Anhänger das Kapitol in Washington regelrecht gestürmt haben. Wie sich die Massendynamik im Detail entrollte, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.
Es kam zu dramatischen Szenen und Bildern, die rasch in den sozialen Medien verbreitet wurden: Protestler jagen einen Polizisten eine Treppe hinauf, zerstören feierlich Kameras und Equipment der Mainstreamreporter, klettern mit improvisierten Leitern auf das Dach und durch die zertrümmerten Fenster des altehrwürdigen Gebäudes. Sicherheitsmänner halten ihre Schußwaffen in Anschlag, während Protestler gegen die Scheiben und Türen der Senatskammer schlagen. Ein junger Mann im schwarzen Hoodie und mit MAGA-Mütze schwenkt eine Fahne vor einem Monumentalgemälde auf den Treppen der heil’gen Hallen: “Trump is President”, ein anderer schleppt grinsend Nancy Pelosis Rednerpult als Trophäe davon.
Auch im berühmten Plenarsaal des Repräsentantenhauses machten sich die Barbaren breit wie die Germanen im alten Rom, besonders auffällig und fotogen ein bärtiger Mann mit nacktem, tätowierten Oberkörper, der eine indianische Pelzmütze mit Büffelhörnern trug und sich Stars and Stripes als Kriegsbemalung ins Gesicht gepinselt hatte.
Andere knipsten Selfies in den eroberten Büros und Stühlen der Abgeordneten und Senatoren, während diese sich, mit Coronamasken im Gesicht, hinter den Sitzbänken versteckten. Etliche dieser zum Teil Recht wilden Gestalten gerieten bereits in Verdacht, eingeschleuste Provokateure oder Antifanten zu sein, was sich bislang noch nicht bestätigt hat. (Update: Oder doch?)
Vor dem Gebäude setzte die Polizei Tränengas ein und ging teilweise gewaltsam gegen die Protestler vor. Allerdings scheinen diese vergleichsweise leicht in das Gebäude gelangt zu sein, das nicht zum ersten Mal von aufgebrachten Demonstranten belagert (“Black Lives Matter” war im Juni 2020 angerückt) und zu anderen Zeiten weitaus entschlossener verteidigt wurde. Filmaufnahmen zeigen sogar, wie die Polizei offenbar einige von ihnen hereinläßt. Das wirft natürlich die Frage auf, ob gewisse Kräfte, die Trump feindlich gesinnt sind, diese Eskalation gewünscht und mindestens zugelassen haben.
Sie forderte ein Todesopfer durch Staatsgewalt, das vorausichtlich in der Berichterstattung eine äußerst marginale Rolle spielen wird. Eine Protestlerin wurde von der Polizei erschossen, als sie durch ein Fenster stieg: ihr Name war Ashli Babbit, sie stammte aus Kalifornien und hatte vierzehn Jahre in der Air Force gedient. Kein Mensch wird sich für interessieren, denn im Gegensatz zu dem heiliggesprochenen George Floyd hat sie, so wird man insinuieren, ihren Tod verdient und selbst herausgefordert, steht außerdem als weiße, konservative Frau in der Hierarchie der Opfer weit unten.
Ein sichtlich erschütterter jugendlicher Trump-Anhänger, der aus nächster Nähe mitbekam, wie Babbit niedergeschossen wurde, äußerte:
Das kann nicht mehr so stehen bleiben. Das ist falsch. Sie repräsentieren niemanden mehr. Kein Republikaner, kein Demokrat, kein Unabhängiger. Und jetzt werden sie anfangen, Menschen zu töten. Polizei, Kongressabgeordnete… es ist ihnen egal. Sie denken, wir sind Witzfiguren. Diese Leute filmen uns, lachen uns aus, wenn wir die Straße entlang marschieren. Im Justizministerium stand ein Mann im Fenster, der uns gefilmt und ausgelacht hat. Sie hielten das alles solange für einen Witz, bis wir hineinkamen. Dann wurden plötzlich die Waffen gezückt. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir etwas tun müssen. Sonst erwischt es als nächstes euch und eure Kinder.
Im Vergleich zu den “Black Lives Matter”-Auschreitungen im Sommer war das Ausmaß der Sachbeschädigung und die Zahl der Verletzten relativ gering. Man kann jedoch sichergehen, daß die Medien diesmal nicht so nachsichtig mit den Protestlern und Randalierern umgehen werden; diesmal wird man ihnen keinen berechtigten Zorn zugestehen oder in ihren Taten ein wertvolles soziales Revolutionspotenzial entdecken, das jeden Exzeß veredelt und entschuldigt.
Denn diesmal hat die “falsche” Seite rebelliert und einen sakrilegischen Akt begangen, der im Gegensatz zu den linken Denkmalstürmereien des letzten Jahres als zutiefst verwerflich und schockierend dargestellt werden wird. Von der sympathisierenden Perspektive aus betrachtet haben sich die “deplorables” zumindest symbolisch ihren Platz in der eliten- und mediengesteuerten Demokratie zurückgeholt, um den sie sich mit vollem Recht betrogen fühlen. Sie haben den Eliten gezeigt, daß auch sie das Volk sind und daß sie nicht länger mißachtet und ignoriert werden wollen.
Ihre Frustration ist nur allzu verständlich, und ihre “Eroberung” oder “Besetzung” des Kapitols hat gewiß ein paar eindrucksvolle, mitreißende Bilder geliefert, die von den Medien als heroischer Volkssturm auf die Bastille und als amerikanischer Maidan gefeiert worden wären, wären hier Linke und BLM-Anhänger gegen einen eindeutig gewählten Despoten Trump aufgestanden. Jenseits des kathartischen Rausches und kurzen Moments der Sichtbarkeit und Souveränität hat sich die Trump-Bewegung allerdings keinen Gefallen getan und in eine Sackgasse manövriert, die wahrscheinlich nur weitere Eskalationspiralen hervorbringen wird.
Ich frage mich auch, inwiefern die Saat der Q‑Anon-Desinformation nun aufgegangen ist, indem sie etliche wohlmeinende und beherzte Patrioten in den eschatologischen Glauben an den “kommenden Sturm” der gerechten Abrechnung mit der korrupten Elite getrieben hat.
Der 6. Januar war der Tag, an dem die Stimmen der Wahlmänner ausgezählt werden sollten. Dies gilt als die endgültige Bestätigung des im November gewählten Präsidenten. Alle juristischen Versuche Trumps, das Ergebnis der Wahl anzufechten und Untersuchungen wegen Wahlbetrugs einzuleiten, waren bislang von den Gerichten abgeschmettert worden. Trotz großspuriger Ankündigungen legten der Präsident und sein Team an diesem Stichtag keine neuen, diesmal alle Welt schlagartig überzeugenden Beweise vor. Das ist nun wiederholt geschehen. Trump hat seine Mitstreiter teilweise sehr schlecht ausgewählt, ein offensichtlicher Spinner wie Lin Wood hat dem Ansehen seiner Sache enorm geschadet.
Letzte Hoffnungen richteten sich auf Vizepräsident Pence, der über ein paar rechtliche Umwege die Möglichkeit gehabt hätte, die Stimmen von unrechtmäßig gewählten Wahlmännern zurückweisen (um es vereinfacht auszdrücken). Pence lehnte – wie zu erwarten – ab, von diesem Recht Gebrauch zu machen, und manche sind der Ansicht, daß dieser “Verrat” das Faß zum Überlaufen gebracht hat.
Trump sitzt allerdings schon seit November in einer Falle, aus der er nicht mehr herauskommt, auch wenn er in seinem Käfig brüllt wie ein Löwe. Sowohl Fox News als auch die Spitzen der Republikanischen Partei haben ihm nach und nach die Gefolgschaft gekündigt, vermutlich deshalb, weil sie den Kampf um die gestohlenen Wählerstimmen für aussichtslos erachtet haben. Viele ersehnen eine Rückkehr zum alten politischen System, wie es war, bevor es von dem unberechenbaren Störenfried aus der Bahn geschleudert wurde.
Diese Abkehr von Trump erschien ihnen wohl als der bequemere Weg, der allerdings einen gravierenden Schönheitsfehler hat: Man hätte um der Deeskalation und der Bequemlichkeit willen eine massive Korrumpierung des politischen Systems der USA hinnehmen und eine gigantische und fatale Lüge schlucken müssen. Denn im November 2020 fand der wohl größte Wahlbetrug der amerikanischen Geschichte statt, eine Tatsache, an der niemand zweifeln kann, der sich ernsthaft und redlich mit den zahllosen Beweisen und Indizien, die sich seither angehäuft haben, beschäftigt hat (etliches Material auf Deutsch hat etwa die Seite sciencefiles.org zusammengetragen).
Hinzu kommt, daß die Medien von Anfang an, in der Tat bereits vor der Wahl, entschieden hatten, daß auch nur der bloße Verdacht des Wahlbetrugs lächerlich, abstrus und haltlos, wenn nicht infam und gefährlich sei. Nichts durfte ihr Narrativ von der “Heilung” Amerikas und seiner Rückkehr zur “Normalität” unter Präsident Bidem antasten, und es war wohl jedem Gerichtshof in den Staaten klar, daß schon ein kleines legitimiertes Körnchen Zweifel an der auf allen Kanälen verbreiteten Siegesgeschichte ungeheuren Sprengstoff in sich bergen müßte.
Die Doppelmoral der politisch-medialen Elite war jedenfalls atemberaubend: Es handelt sich hier um dieselben Leute, die jahrelang in messianischer Heilserwartung auf den “Bericht über die Untersuchung der Einmischung Russlands in die Präsidentschaftswahlen 2016” von Robert Mueller warteten, der letztendlich keine Beweise über eine “russian collusion” zutage brachte.
Wenn nun zig Millionen amerikanische Wähler aus sehr guten Gründen der Überzeugung sind, daß die Präsidentschaft Bidens mit äußerst unehrlichen und unfairen Mitteln durchgesetzt wurde, dann ist es wohl keine besonders gute Strategie, ihr Anliegen von vornherein lächerlich und verächtlich zu machen, während gleichzeitig jeder Ansatz zu einer sachlichen Klärung verbaut wird. Dadurch konnten Zorn, Frust und das Gefühl des Betrogenseins nur weiter anwachsen.
Abgesehen von seinem etwas verstiegenen Tonfall, hatte Trump also völlig recht, als er auf Twitter schrieb:
Das sind die Dinge und Ereignisse, die passieren, wenn ein geheiligter Erdrutschsieg auf derart kurzentschlossene und bösartige Weise geraubt wird, von großartigen Patrioten, die schon so lange schlecht und unfair behandelt worden sind. Geht nach Hause in Liebe und Frieden. Erinnert euch für immer an diesen Tag!
Twitter bedachte dies zunächst mit einer neuartigen Retweet-Sperre, die so begründet wurde:
Diese Behauptung über Wahlbetrug ist umstritten, und dieser Tweet kann aufgrund eines Gewaltrisikos weder beantwortet noch retweetet oder positiv bewertet (“like”) werden.
Führt man sich vor Augen, mit welcher Verve Twitter letztes Jahr “Black Lives Matter” unterstützt und damit die landesweiten Randale, Gewaltausbrüche, Brandschatzungen und Plünderungen befeuert hat, die den Sturm auf das Kapitol bei weitem in den Schatten stellen, dann ist das eine niederträchtige, heuchlerische Unverschämtheit, die ihresgleichen sucht. Damit nicht genug: Kurz darauf wurde der Tweet gänzlich gelöscht und Trump für 12 Stunden auf Twitter wie Facebook gesperrt.
Eine private Firma hat also heutzutage die Macht, den Account des Staatsoberhauptes des mächtigsten Landes der Welt, mit fast neunzig Millionen Folgern, mundtot machen.
Wie wird es weiter gehen? Trump und seine Anhänger wurden systematisch zu diesem Siedepunkt getrieben, indem sie Jahre lang frenetisch bekämpft und abgewertet wurden. Unklar ist, ob diese Eskalation in Trumps Kalkül lag, und wenn ja, was er damit bezweckt hat, denn eine sinnvolle Strategie ist hier nicht erkennbar. Nun werden sich sehr viele moderatere Wähler von ihm abwenden und vor weiteren Schritten zurückschrecken. Es ist leider eine Tatsache, daß Trumps politische Kompetenz ziemlich beschränkt ist und er enorme Charakterschwächen hat. Die Sache, die ihm seine Wähler anvertraut haben, vertritt er nur äußerst unvollkommen.
Das System sieht sich nun – sicher nicht ohne Triumphgefühle – wie durch eine selbsterfüllende Prophezeiung bestätigt, und wird seinen Dauerhagelregen an Lügen, Diffamierung und Desinformation weiterhin unerbittlich niederprasseln lassen. Es wird weiterhin schamlos gaslichtern und mit zweierlei Maß messen, es wird auf der einen Seite verharmlosen und beschwichtigen, auf der anderen aufbauschen und anklagen, unterstellen und verschweigen.
Um es mit Heiko Maas zu sagen: Es akzeptiert nur jene “Wähler*Innen”, die nach seinen Wünschen, Vorgaben und Zielsetzungen wählen, der Rest ist Dreck, der das Maul zu halten hat, auch wenn sich dabei um 74 Millionen Menschen handelt. Das nennen die Machthaber dann “Demokratie”.
Maas hat recht: “Die Verachtung demokratischer Institutionen hat verheerende Auswirkungen”. Aber diese Verachtung und Korrumpierung der demokratischen Institutionen geht einzig und allein auf die Kappe der globalistischen Herrscherkaste, der er ebenso angehört wie Joe Biden und Kamala Harris. Kein vernünftiger Mensch glaubt, daß diese Leute wirklich Demokraten sind. Wenn irgendjemand diesen Namen verdient, wenn irgendjemand die Ehre der Demokratie verteidigt hat, dann waren es die Protestler.
Nun denn. Während ich diesen Artikel beende, warte ich darauf, wie die schreibende Zunft völlig ausrastet, mutig den Anfängen “auch hierzulande” wehrt und hanebüchene Parallelen zum sogenannten “Reichtstagssturm” ziehen wird. Die Protestler werden als gefährlicher, rassistischer, untermenschlicher Mob dargestellt werden, der das “Herz der Demokratie” geschändet hat, ganz im Gegensatz zu den BLM-Brandstiftern des letzten Sommers.
Den miesesten Artikel wird wahrscheinlich Berthold Kohler in der FAZ schreiben. Ich gehe nun wie immer in Deckung im Erdloch und warte, bis die Panzer vorübergefahren sind.
Gotlandfahrer
Danke. Kurze Verständnisfrage:
"trotz großspuriger Ankündigungen legten der Präsident und sein Team auch an diesem Stichtag keine zwingenden, alle Welt schlagartig überzeugenden Beweise vor."
vs
"Denn im November 2020 fand der wohl größte Wahlbetrug der amerikanischen Geschichte statt, eine Tatsache, an der niemand zweifeln kann, der sich ernsthaft und redlich mit den zahllosen Beweisen und Indizien, die sich seither angehäuft haben, beschäftigt hat"
Was jetzt?
ML: Trump und Lin Wood haben für den 6. 1. "neue" Beweise angekündigt, die alles umblasen würden. Da kam aber nix. Habs im Text nochmal präzisiert.