„Fassungslos“ und „erschüttert“. Der Bürger, der amerikanische wie der deutsche, verhält sich augenfällig nicht so, wie er es sollte und nach Maßgaben der „Grundvereinbarungen“ müßte. Die offizielle Politik wünscht sich den Menschen und Bürger so, wie sie ihn den Heranwachsenden in Sozialkundelehrbüchern beschreibt. Vor allem weiß ja wohl jeder: Seine Würde ist unantastbar; Würde eignet ihm also. Per se!
In Washington jedoch verhielt sich der Bürger, so die „Anständigen“, entgrenzt und würdelos. Er „entweihte“ einen Symbolort der Demokratie, er randalierte und richtete Schaden an. Vandalismus! Das geht so nicht! Das kann nicht sein! Denn: So ist der Mensch nicht!
Abgesehen davon, daß insbesondere über den schwierigen Begriff der Würde nur sehr aufwendig nachzudenken ist und nach wie vor dahinsteht, ob dem Menschen eine „Würde“ im kantischen Sinne überhaupt zukommt, liegt der Fehler eben in der Erwartung, der Mensch wäre nicht so, wie er sich vor dem Kapitol präsentierte.
Doch, der Mensch ist genau so. Und der Bürger ist – abgesehen von dem gut geschnittenen Mantel, den er sich umhängt – eben auch nur ein Mensch, unter anderem frustriert, wenn seine Anliegen von denen da oben nicht nur vergessen, sondern wenn die da draußen von denen da drinnen mit kalter Arroganz behandelt werden, weil diese sich das Recht nehmen, jene als Kretins zu diskriminieren.
Arthur Schopenhauer: „Wenn man die, das Kant’sche Moralprinzip unter der beliebten Form der Würde des Menschen Vertretenden fragte, worauf denn diese angebliche Würde des Menschen beruhe; so würde die Antwort bald dahin gehen, daß es auf seiner Moralität sei. Also die Moralität auf der Würde, und die Würde auf der Moralität. — Aber hiervon auch abgesehen, ist der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar.“
Das bedeutet gerade nicht, daß man auf Regeln, Gesetze, Sanktionen verzichten dürfte. Beileibe nicht! Aber es gilt gerade für “Volksvertreter”, den Menschen, den sie zu vertreten meinen, in seinen existentiellen Grundbedürfnissen umfassend anzuschauen und dabei von illusionären Wunschvorstellungen und Verklärungen abzusehen. Politik ist wesentlich kritische Anthropologie, also das Nachdenken darüber, wie der Mensch in Möglichkeiten und Unzulänglichkeiten seiner Natur und seinem Wesen nach ist, um daraus Schlüsse und Entschlüsse für das Gemeinwesen abzuleiten.
Zwar bedarf der Mensch einer gesellschaftlich vereinbarten und institutionalisierten Rechtlichkeit und Staatlichkeit, diese aber sollte ihn kennen. Geht man grundvereinbart vom eindimensional guten, vernünftigen, moralischen Menschen aus, wie es die linksgrüne Meinungsdominanz didaktisch praktiziert oder eher projiziert, ist man eben andauernd „fassungslos“, wenn der Mensch sich allzu menschlich aufführt. Die Rechte wenigstens kennt seine Schwächen, Defekte und Abgründe, die Linke will sie nicht sehen, schon gar nicht an sich selbst.
Man darf die Washingtoner Ereignisse auch so sehen: Die Politik kehrt in den öffentlichen Raum zurück, wenn es dafür Ursachen gibt. Nur geschieht dies nicht immer so distinguiert und passiv-gehorsam, wie das Establishment es sich wünscht. Solange die Leute das ihnen Verordnete schlucken und sich allenfalls in Zimmerlautstärke dagegen aussprechen, gelten sie als vorbildliche „Demokraten“. Sobald sie sich polemischer vernehmen lassen und die Konfrontation suchen, die nun mal zur Auseinandersetzung gehört, werden sie als „Mob“ abqualifiziert. Plötzlich sind die da drinnen höchst konsterniert über die da draußen, und es packt sie das würdelose Fracksausen.
Aber: Mit diesem „Mob“ begannen alle bürgerlichen Revolutionen, auf die sich die bräsigen Abgeordneten heute berufen. Tea Party! Und der Zug der Marktweiber nach Versailles war auch nichts Feines. – Was für ein Bild: Verkrochen unter ihren weichen Sitzungssesseln, suchte die Legislative Schutz vor dem Souverän. Jeder Parlamentarier sollte sich fragen, wen er überhaupt und wie vertritt. Und ob ihm der Job, den er damit übernahm, nicht zu schwierig und riskant ist.
Einerlei aber, was man nun politisch von den vitalen Aktionen in Washington halten mag, ist das, was dort geschah, ein Beispiel für das mythologisch, religiös und philosophisch vielfach aufgefaßte Drama des Menschen: Der ist eben mitnichten eine reine Lichtgestalt; es kennzeichnet ihn hinterm Kainsmal eine dunkle Seite.
Mehr noch, diese Nachtseite, diese dionysische oder mephistophelische Dimension ist es, aus der uns entscheidende Kraft erwächst und die unsere Kreativität, ausgehend durchaus vom Destruktiven, erst ermöglicht. Insbesondere Friedrich Nietzsche verwies variantenreich genau darauf.
Das Problem liegt vielmehr darin, daß die Politik mit der Nachtseite des Menschen nicht umzugehen versteht, sondern diese pathologisiert, weil sie den Menschen nicht vollständig anzusehen bereit ist, ja, ihn gemäß ihrer jeweiligen Ziele gar nicht als das komplexe Wesen auffassen kann oder darf, das er nun mal ist. Solange der Mensch sich nur schwach zeigt, geht das in Ordnung; dafür gewährt die Politik huldvoll-gnädig Nachteilsausgleiche. Wird er aber böse, so ist das inakzeptabel, denn die herrschende Politik empfindet sich selbst stets als gut und vernünftig, als anständig und würdevoll. Und sie schafft sich den Menschen jeweils nach ihrem Bilde.
Vorm Kapitol in Washington offenbarte sich ein archaisches Element. Deswegen paßt der bizarre „QAnon-Schamane“ Jake Angeli mit seinem urmännlich tätowierten Oberkörper, der Bibermütze und den Büffelhörnern ikonographisch genau zu dieser Revolte. Sein Bild läßt an einen Satyr oder an Pan denken. Er zeigt, was in uns steckt, und tauchte gewissermaßen aus unser aller Unterströmung auf – ungezähmt, bedrohlich unkultiviert, nicht apollinisch, sondern dionysisch.
Aber diesen bedrohlichen Auftritt des „wilden Mannes“ will die Kultur ebenso vermeiden wie die Politik. Oder nur im Zirkus und Theater zeigen, ins Märchen bannen oder in den Thriller, in Genres, die ohne den „Thrill“ nicht auskommen, sondern genau daher ihre künstlerische Kraft beziehen.
Den Teil des Menschen, den die Politik nicht akzeptabel findet, möchte sie der forensischen Psychiatrie überlassen. Den Rechten, gar den „Nazi“ kann sie nur als pathologisch denken, weil es ihn nach ihrer Auffassung „vernünftigerweise“ ja gar nicht geben dürfte. Er müßte längst wegerzogen sein. Ist er es nicht, so muß er geheilt werden. Um so interessanter, daß mit Trump eine erratische Persönlichkeit der Rechten zum Präsidenten gewählt wurde. Dicht am Thriller: Das Unheimliche trat plötzlich mitten in die gute Stube des Bürgers. Der böse Junge war wieder da, den die Pädagogik doch geläutert glaubte. Und all die vernünftigen und würdevollen Bürger hatten den sogar gewählt. Unerklärlich!
Blick nach Berlin: Fraglich, ob beispielsweise Bundespräsident Steinmeier seine eigene Nachtseite kennt. Er wird eine haben, selbstverständlich. Aber seine Rolle spielt er im Licht, zumal in seinem Fall nicht allein seiner Person, sondern sogar dem Amt, wie es heißt, Würde zukommt, allerhöchste sogar. Das Amt kann nur erfüllt werden vom allerersten Moralapostel der Nation.
Ihm gegenüber wäre aus verordneten Pietätsgründen etwa nicht zu problematisieren, ob es gerechtfertigt ist, wenn Figuren wie er – wie überhaupt der gesamte Berliner Hofstaat oder all die Minister mit Entourage und Lakaien in den Landesregierungen – sich unter Mitnahme enormer öffentlicher Gelder dem Volks- und Landesvermögen anwanzen und den Staat, den sie verkörpern, vorzüglich als Vehikel ihrer eigenen Wohlfahrt benutzen und ausnutzen.
Das wiederum gehört zur Nachtseite der offiziellen Politik, deren Legende, simpel ausgedrückt, in Folgendem besteht: Wir sind die Guten, deshalb habt ihr anständigen und vernünftigen Bürger uns ja gewählt, was wiederum der Beweis eurer Vernunft war. Nun ist’s nur recht und billig, wenn ihr für unseren Unterhalt sorgt.
Credo der Legitimation: „Wir sind mehr!“ Also sind wir befugt, euch zu führen und uns nebenher an eurem Vermögen zu mästen. So sind die Regeln, haltet die ein, sonst erweist ihr euch als unvernünftig und mithin als unwürdig. Kultur gibt es nur mit uns. Wir sind dazu da, eure natürlichen und archaischen Affekte zu domestizieren, damit ihr nicht ins wilde Hauen und Stechen des Naturzustandes zurückfallt. Dafür habt ihr – mindestens im Sinne von Thomas Hobbes‘ Leviathan – den Gesellschaftsvertrag geschlossen. Brecht ihn nicht, sonst lauft ihr wieder mit freiem Oberkörper und Büffelhörnern herum und mutiert zum Minotaurus.
Es gibt aber – zum Glück – nicht nur den sozialdemokratisch und auf Kirchentagen vorgestellten Menschen, nicht nur die durchmoralisierte Welt nach den Wünschen Katrin Göring-Eckardts und Happenings mit „Feine Sahne Fischfilet“, nein, es gibt aus konkret beschreibbaren Ursachen heraus sich vertiefenden Unmut, der nicht so einfach mit Attributen wie gut und böse zu umschreiben ist. Zum Selbstverständnis des seltsamen linksökologisch-christdemokratischen Machtbündnisses der sogenannten Mitte gehört erklärtermaßen Toleranz, die man wohl untereinander pflegt, die aber den anderen, schon der AfD, aber erst recht den querdenkenden Kritikern da draußen, gerade nicht gewährt wird. Wer mitsprechen darf, das definiert die herrschende Truppe. Genau das bringt die lebhaftere Opposition in Harnisch.
Wesentlicher Teil der obrigkeitsstaatlich-vormundschaftlichen Corona-Politik ist es nicht zuletzt, dem Menschen seine dionysische Seite zu verbieten. So, wie man Parteien verbieten kann, läßt sich jedoch nicht alles verbieten, was wir an schwierigen Anteilen in uns tragen.
Die Politik hätte den Menschen oder eher den Untertanen gegenwärtig nur allzu gern steril – nicht nur so durchdesinfiziert und durchgeimpft wie durchmoralisiert, sondern am liebsten vereinzelt auf Distanz, also im Home-Office verbunkert, nur digital korrespondierend und Termine bei den Machthabern artig online beantragend, anstatt in seiner unmittelbaren Gegenwärtigkeit einfach so an freier Luft ohne Mundschutz aufzutreten, schon gar nicht so, wie es vorm Kapitol geschah.
Maiordomus
Würde die Demonstration in Washington nicht mit "dionysisch" im Sinne von Nietzsche bezeichnen. Es genügt, dass der Kriminalitätsgrad des Mob unter 10 % des Sturms auf die Bastille ausfiel, wo damals auch schon gelogen wurde, dass sich die Balken biegen, siehe das Märchen über Marie Antoinette betr. Kuchen statt Brot usw. Wenn es die Richtigen machen, gibt es die berühmteste Nationalhymne der Welt, machen es die Falschen, ist es nun halt der Mob, wobei für 1789 die öffentliche Meinung in Europa auch klar Richtung Mob ging. Auch Schiller verwechselte solche Aktionen nicht mit "ästhetischer Erziehung der Menschheit". Also nichts idealisieren, es genügt, dass der Schaden von einem Tag Lockdown in Europa eher hundertfach ist als zehnfach im Vergleich zum Schaden in Washington.