Im Bild sehen wir Lektüren, durch die unsere Kinder durch mußten, ob sie wollten oder nicht!
Wir Eltern haben beide »Deutsch auf Lehramt« absolviert. Unseren Kindern raten wir (bislang mehrmals erfolglos) von der Wahl dieses Faches ab. Warum? Sehr einfach. Ihr liebt die deutsche Sprache, die Literatur wirklich? Gut. Schaut euch bitte den berühmten Kinofilm Club der toten Dichter (1989) an. Hier seht ihr, wie Akademiker mit Literatur verfahren! Gefällt euch das?
Literatur in Diagramme einspannen, Kunst parametrisch verwerten, sich an Chiffren fast zu Tode labern? Nein? Ihr meint, das sei halt ein Ami-Film, und er schöpfe die Dramatik schamlos ungerecht aus? Es müsse doch begeisterte, mitreißende Dozenten geben? Oh, ihr habt keine Ahnung! Die Chance steht circa eins zu zwanzig, daß ihr einen dieser Menschen erwischt. Zweitens: Ihr wißt, wer heute mehrheitlich »Germanistik« studiert? Richtig. All jene, die für Ingenieurswissenschaften oder Medizin nicht das passende Köpfchen mitbrachten.
Germanistik ist, man kann es drehen und wenden, auch ein Loserfach. Man kann sich durchschmuggeln, wenn man ein bißchen für die Prüfung in Linguistik paukt und ansonsten zwei, drei Dutzend Bücher in petto hat. Wer im Mathe-Abi mit 15 Punkten reüssiert, hat richtig was drauf, und acht Punkte sind schon okay.
Wer in Deutsch hingegen nicht wenigstens zehn Punkte vorweisen kann – er dürfte gravierende Defizite haben.
Kinder, so ist es! Die Meßlatte im Fach Deutsch hängt reichlich tief. Wie kommt das?
Falls es ein Argument gegen den vielgescholtenen Bildungsföderalismus (also: daß jedes Bundesland über eigene Rahmenlehrpläne
bestimmt) gäbe, dann dieses: Macht es einfach wie Bayern. Oder wie Baden-Württemberg.
Was wird dort nämlich zur Lektüre an Gymnasien vorgeschlagen? In Bayern: Für Klasse acht etwa Grimmelshausen, Gryphius und C.F.Meyer; ferner Adalbert Stifter oder, modern, Willi Fährmann. Für die Neunte Tilman Röhrig, Fontane, E.T.A. Hoffmann und gar Ray Bradbury. Später Joseph Roth und Keyserling, Auszüge aus Leopold Ranke, Friedrich Nietzsche (Klasse elf: Fröhliche Wissenschaft, zwölf: Geburt der Tragödie), Auszüge aus Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit und aus Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Man staunt. Darüber ließe sich reden.
Das ist ein … Übermenschenkanon!
In Baden-Württemberg skizzieren sie Themenfelder. Etwa »Schuld und Sühne – Grundfragen menschlichen Verhaltens«; »Freiheit und Verantwortung – Der Mensch im Spannungsfeld der Geschichte« und »Vergangenheit und Gegenwart: Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus«.
Zu jedem dieser Bereiche werden eine Menge Lektürevorschläge unterbreitet – vom Nibelungenlied über Franz-Xaver Kroetz bis hin zu (wenigen) noch kaum abgehangenen Autoren wie Alex Capus. Das ist vorbildlich. So sollte es sein! Daran kann man wachsen! Das junge Westdeutschland dürfte, sofern die Schüler auch nur zehn Prozent des Kanons wirklich lesen, ein
einzigartiger Hort der Hochkultur sein!
Werfen wir einen Blick in den Osten der Republik, dorthin, wo man sich vor wenigen Jahrzehnten (weil man sonst wenig zu bieten hatte) mit einigem Recht »Leseland« (Erich Honecker,1981) rühmen durfte. Warum eigentlich? Bücher waren billig, das Lesen wurde gefördert und bot Rückzugsräume. Das ist natürlich verkürzt.
Ausnahmsweise darf hier auf einen (wirklich informierten) Wikipedia-Artikel verwiesen werden, Lemma: »Leseland DDR«.
Mein Kindheitseindruck von der »Ostzone«: Wir schickten meinen Onkeln und Tanten »drüben« Waschpulver, Kaffee, Deo und
Starschnitte aus der Bravo und erhielten viel Schöneres zurück: Langspielplatten (alles, von Masur bis Silly!) und unendlich viele Bücher.
Ich hatte das alles neugierig konsumiert – vielleicht ähnlich, wie man heute »Superfood« aus exotischen Gefilden zu sich nimmt, ohne zu ahnen, daß in exotischen Gefilden vielleicht Weißkraut als »Superfood« gelten könnte. Leseland: Tempi passati!
Als Literaturempfehlungen hat man heute in Brandenburg Tabellen erstellt – formale Daten und »Thematische Schwerpunkte« umfassend. Was sollte in der achten Klasse gelesen werden? Von Miriam Pressler Malka Mai (2001): »Jugendroman aus der Zeit des Nationalsozialismus [sic! Korrekt wäre: über die …] über eine Flucht aus dem von Deutschen besetzten Polen.« Von Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf (2004): »Realbiografischer Jugendroman, der die erschütternde Geschichte eines achtjährigen Jungen erzählt, der während des Zweiten Weltkriegs im Warschauer Ghetto Eltern und Geschwister verliert.« Oder: Nennt mich nicht Ismael (2008) von Michael Gerard Bauer: »Mitreißende Geschichte über Mobbing in der Schule, Freundschaft und Zivilcourage.« Oder: Indigosommer (2008) von Antje (Gottfried-Benn-Leser halten kurz die Luft an!) Babendererde: »Liebe und erste sexuelle Erfahrung. Drogenkonsum, Fremdsein und interkulturelle Probleme, Tod und der Umgang damit. (…) Der Roman besticht durch seine jugendnahe Sprache, der es nicht an sprachlichen Bildern mangelt.«
Das ist, nebenbei, sehr … fein von den Empfehlungslistenerstellern formuliert. Im Ex-Leseland MäcPomm bieten sie folgendes als »Lektüre für den Deutschunterricht SJ 2019/2020«an: Mädchenmeute (2015) von Kirsten Fuchs und Anders (2014) von Andreas Steinhöfel. Für die höheren Klassen wird die Flüchtendenstory Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck, Nadine Erdmanns CyberWorld (2018) und Lena Goreliks Mehr Schwarz als Lila (2017) empfohlen. Das Ganz-und-gar Heutige überwiegt nicht bloß den klassischen Kanon – letzterer ist schlicht abgeschaltet.
Immerhin: Die ‑Innenquote ist hier übererfüllt! (In der DDR gab es »Fleißbienchen« …)
Im einst illustren, längst zur Provinznummer verkommenen, einst preußischen, heute anhaltischen (Bad) Lauchstädt hat im Spätsommer 2019 in den Räumlichkeiten des alten Goethe-Theaters eine Podiumsdiskussion stattgefunden. Ich berichte aus der Erinnerung. Podiumsteilnehmer: Ministerpräsident Reiner Haseloff, Poet Martin Mosebach und Kulturhistoriker Manfred Osten. Es ging um »Die Zukunft der deutschen Sprache«.
Haseloff: »Also, ich sag meinen Enkeln schon, sie sollen viel lesen. Sie können sich vorstellen, wie ich dann dastehevor denen! … Ich selbst kaufe mir die wichtigsten Werke auch mal. Alles andere hol ich mir bei meinen Autofahrten runter. Da kann man viel lernen!
Diese Häresie der Formlosigkeit von Martin Mosebach hab ich mir grad auf der Fahrt runtergeladen. Sehr gutes Buch. Nein, wirklich!«
Im Verlauf der artigen Diskussion schlug Mosebach Bedenkenswertes vor: »Wie wäre es eigentlich, wenn jeder, also JEDER deutsche Schüler 20 Gedichte auswendig können müßte? Jeder Handwerker, jeder Akademiker. Der Kanon der zwanzig. Ich hatte das mal in einem öffentlichen Gespräch Angela Merkel vorgetragen. Sie war die Antwort schuldig geblieben.« Herr Haseloff antwortete salomonisch: »Na ja, auswendig lernen, ich weiß nicht. Da hat jeder so seine Ansichten. Das könnte man ja freistellen. Bei mir ist es so, daß ich schon beim einmaligen Lesen den wesentlichen Content abspeichere.«
Gut gebrüllt, Löwe! Fasse ein Gedicht von Hölderlin in vier Schlagworten zusammen! Geht doch!
2015 hatte eine Kulturdame in der FAZ mittels Großartikel beklagt, daß in den Gymnasien landesweit vor allem olle Schrullen (wie Patrick Süskinds großartiger Roman Das Parfum, datierend von 1985) gelesen werde. Warum nicht Sibylle Berg, Elfriede Jelinek, Feridun Zaimoğlu? (All diese? Ausgerechnet?)
Die FAZ-Frau raunte: »Seit der Einführung des länderspezifischen Zentralabiturs sind die sogenannten Leselisten das Maß aller Dinge. Sie sind für die Oberstufen verbindlich, und sie werden ohne öffentliche Beteiligung hinter verschlossenen Türen der Kultusministerien erstellt.« Zumindest ersteres stimmt nicht. Nichts an diesen »Leselisten« wäre verbindlich. Es sind Vorschläge, Handreichungen.
Und selbst wenn nicht: aus einem knapp hundert Stücke bestehenden Kanon auszuwählen – wäre das nicht Luxus? Leute, reißt Euch zusammen. An uns, den Eltern, bleibt es hängen. Lest mit den Kindern die Schullektüre. Sprecht klug darüber. Nennt ihnen Alternativen!
Alle genannten Bücher kann man hier bestellen.