Es war einmal … ein Leseland

PDF der Druckfassung aus Sezession 94/Februar 2020

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Im Bild sehen wir Lek­tü­ren, durch die unse­re Kin­der durch muß­ten, ob sie woll­ten oder nicht!
Wir Eltern haben bei­de »Deutsch auf Lehr­amt« absol­viert. Unse­ren Kin­dern raten wir (bis­lang mehr­mals erfolg­los) von der Wahl die­ses Faches ab. War­um? Sehr ein­fach. Ihr liebt die deut­sche Spra­che, die Lite­ra­tur wirk­lich? Gut. Schaut euch bit­te den berühm­ten Kino­film Club der toten Dich­ter (1989) an. Hier seht ihr, wie Aka­de­mi­ker mit Lite­ra­tur ver­fah­ren! Gefällt euch das?

Lite­ra­tur in Dia­gram­me ein­span­nen, Kunst para­me­trisch ver­wer­ten, sich an Chif­fren fast zu Tode labern? Nein? Ihr meint, das sei halt ein Ami-Film, und er schöp­fe die Dra­ma­tik scham­los unge­recht aus? Es müs­se doch begeis­ter­te, mit­rei­ßen­de Dozen­ten geben? Oh, ihr habt kei­ne Ahnung! Die Chan­ce steht cir­ca eins zu zwan­zig, daß ihr einen die­ser Men­schen erwischt. Zwei­tens: Ihr wißt, wer heu­te mehr­heit­lich »Ger­ma­nis­tik« stu­diert? Rich­tig. All jene, die für Inge­nieurs­wis­sen­schaf­ten oder Medi­zin nicht das pas­sen­de Köpf­chen mitbrachten. 

Ger­ma­nis­tik ist, man kann es dre­hen und wen­den, auch ein Loser­fach. Man kann sich durch­schmug­geln, wenn man ein biß­chen für die Prü­fung in Lin­gu­is­tik paukt und ansons­ten zwei, drei Dut­zend Bücher in pet­to hat. Wer im Mathe-Abi mit 15 Punk­ten reüs­siert, hat rich­tig was drauf, und acht Punk­te sind schon okay.
Wer in Deutsch hin­ge­gen nicht wenigs­tens zehn Punk­te vor­wei­sen kann – er dürf­te gra­vie­ren­de Defi­zi­te haben.
Kin­der, so ist es! Die Meß­lat­te im Fach Deutsch hängt reich­lich tief. Wie kommt das?

Falls es ein Argu­ment gegen den viel­ge­schol­te­nen Bil­dungs­fö­de­ra­lis­mus (also: daß jedes Bun­des­land über eige­ne Rahmenlehrpläne
bestimmt) gäbe, dann die­ses: Macht es ein­fach wie Bay­ern. Oder wie Baden-Württemberg.
Was wird dort näm­lich zur Lek­tü­re an Gym­na­si­en vor­ge­schla­gen? In Bay­ern: Für Klas­se acht etwa Grim­mels­hau­sen, Gry­phi­us und C.F.Meyer; fer­ner Adal­bert Stif­ter oder, modern, Wil­li Fähr­mann. Für die Neun­te Til­man Röh­rig, Fon­ta­ne, E.T.A. Hoff­mann und gar Ray Brad­bu­ry. Spä­ter Joseph Roth und Key­ser­ling, Aus­zü­ge aus Leo­pold Ran­ke, Fried­rich Nietz­sche (Klas­se elf: Fröh­li­che Wis­sen­schaft, zwölf: Geburt der Tra­gö­die), Aus­zü­ge aus Karl Jas­pers’ Die geis­ti­ge Situa­ti­on der Zeit und aus Wal­ter Ben­ja­mins Das Kunst­werk im Zeit­al­ter sei­ner tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit. Man staunt. Dar­über lie­ße sich reden.
Das ist ein … Übermenschenkanon! 

In Baden-Würt­tem­berg skiz­zie­ren sie The­men­fel­der. Etwa »Schuld und Süh­ne – Grund­fra­gen mensch­li­chen Ver­hal­tens«; »Frei­heit und Ver­ant­wor­tung – Der Mensch im Span­nungs­feld der Geschich­te« und »Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart: Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Nationalsozialismus«.
Zu jedem die­ser Berei­che wer­den eine Men­ge Lek­tü­re­vor­schlä­ge unter­brei­tet – vom Nibe­lun­gen­lied über Franz-Xaver Kroetz bis hin zu (weni­gen) noch kaum abge­han­ge­nen Autoren wie Alex Capus. Das ist vor­bild­lich. So soll­te es sein! Dar­an kann man wach­sen! Das jun­ge West­deutsch­land dürf­te, sofern die Schü­ler auch nur zehn Pro­zent des Kanons wirk­lich lesen, ein
ein­zig­ar­ti­ger Hort der Hoch­kul­tur sein!

Wer­fen wir einen Blick in den Osten der Repu­blik, dort­hin, wo man sich vor weni­gen Jahr­zehn­ten (weil man sonst wenig zu bie­ten hat­te) mit eini­gem Recht »Lese­land« (Erich Honecker,1981) rüh­men durf­te. War­um eigent­lich? Bücher waren bil­lig, das Lesen wur­de geför­dert und bot Rück­zugs­räu­me. Das ist natür­lich verkürzt.
Aus­nahms­wei­se darf hier auf einen (wirk­lich infor­mier­ten) Wiki­pe­dia-Arti­kel ver­wie­sen wer­den, Lem­ma: »Lese­land DDR«.

Mein Kind­heits­ein­druck von der »Ost­zo­ne«: Wir schick­ten mei­nen Onkeln und Tan­ten »drü­ben« Wasch­pul­ver, Kaf­fee, Deo und
Star­schnit­te aus der Bra­vo und erhiel­ten viel Schö­ne­res zurück: Lang­spiel­plat­ten (alles, von Masur bis Sil­ly!) und unend­lich vie­le Bücher.
Ich hat­te das alles neu­gie­rig kon­su­miert – viel­leicht ähn­lich, wie man heu­te »Super­food« aus exo­ti­schen Gefil­den zu sich nimmt, ohne zu ahnen, daß in exo­ti­schen Gefil­den viel­leicht Weiß­kraut als »Super­food« gel­ten könn­te. Lese­land: Tem­pi passati!

Als Lite­ra­tur­emp­feh­lun­gen hat man heu­te in Bran­den­burg Tabel­len erstellt – for­ma­le Daten und »The­ma­ti­sche Schwer­punk­te« umfas­send. Was soll­te in der ach­ten Klas­se gele­sen wer­den? Von Miri­am Press­ler Mal­ka Mai (2001): »Jugend­ro­man aus der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus [sic! Kor­rekt wäre: über die …] über eine Flucht aus dem von Deut­schen besetz­ten Polen.« Von Uri Orlev: Lauf, Jun­ge, lauf (2004): »Real­bio­gra­fi­scher Jugend­ro­man, der die erschüt­tern­de Geschich­te eines acht­jäh­ri­gen Jun­gen erzählt, der wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs im War­schau­er Ghet­to Eltern und Geschwis­ter ver­liert.« Oder: Nennt mich nicht Isma­el (2008) von Micha­el Gerard Bau­er: »Mit­rei­ßen­de Geschich­te über Mob­bing in der Schu­le, Freund­schaft und Zivil­cou­ra­ge.« Oder: Indi­go­som­mer (2008) von Ant­je (Gott­fried-Benn-Leser hal­ten kurz die Luft an!) Baben­der­erde: »Lie­be und ers­te sexu­el­le Erfah­rung. Dro­gen­kon­sum, Fremd­sein und inter­kul­tu­rel­le Pro­ble­me, Tod und der Umgang damit. (…) Der Roman besticht durch sei­ne jugend­na­he Spra­che, der es nicht an sprach­li­chen Bil­dern mangelt.« 

Das ist, neben­bei, sehr … fein von den Emp­feh­lungs­lis­ten­er­stel­lern for­mu­liert. Im Ex-Lese­land Mäc­Pomm bie­ten sie fol­gen­des als »Lek­tü­re für den Deutsch­un­ter­richt SJ 2019/2020«an: Mäd­chen­meu­te (2015) von Kirs­ten Fuchs und Anders (2014) von Andre­as Stein­hö­fel. Für die höhe­ren Klas­sen wird die Flüch­ten­den­sto­ry Gehen, ging, gegan­gen von Jen­ny Erpen­beck, Nadi­ne Erd­manns Cyber­World (2018) und Lena Gore­liks Mehr Schwarz als Lila (2017) emp­foh­len. Das Ganz-und-gar Heu­ti­ge über­wiegt nicht bloß den klas­si­schen Kanon – letz­te­rer ist schlicht abgeschaltet. 

Immer­hin: Die ‑Innen­quo­te ist hier über­erfüllt! (In der DDR gab es »Fleiß­bi­en­chen« …)
Im einst illus­tren, längst zur Pro­vinz­num­mer ver­kom­me­nen, einst preu­ßi­schen, heu­te anhal­ti­schen (Bad) Lauch­städt hat im Spät­som­mer 2019 in den Räum­lich­kei­ten des alten Goe­the-Thea­ters eine Podi­ums­dis­kus­si­on statt­ge­fun­den. Ich berich­te aus der Erin­ne­rung. Podi­ums­teil­neh­mer: Minis­ter­prä­si­dent Rei­ner Hasel­off, Poet Mar­tin Mose­bach und Kul­tur­his­to­ri­ker Man­fred Osten. Es ging um »Die Zukunft der deut­schen Sprache«.
Hasel­off: »Also, ich sag mei­nen Enkeln schon, sie sol­len viel lesen. Sie kön­nen sich vor­stel­len, wie ich dann daste­he­vor denen! … Ich selbst kau­fe mir die wich­tigs­ten Wer­ke auch mal. Alles ande­re hol ich mir bei mei­nen Auto­fahr­ten run­ter. Da kann man viel lernen!
Die­se Häre­sie der Form­lo­sig­keit von Mar­tin Mose­bach hab ich mir grad auf der Fahrt run­ter­ge­la­den. Sehr gutes Buch. Nein, wirklich!«

Im Ver­lauf der arti­gen Dis­kus­si­on schlug Mose­bach Beden­kens­wer­tes vor: »Wie wäre es eigent­lich, wenn jeder, also JEDER deut­sche Schü­ler 20 Gedich­te aus­wen­dig kön­nen müß­te? Jeder Hand­wer­ker, jeder Aka­de­mi­ker. Der Kanon der zwan­zig. Ich hat­te das mal in einem öffent­li­chen Gespräch Ange­la Mer­kel vor­ge­tra­gen. Sie war die Ant­wort schul­dig geblie­ben.« Herr Hasel­off ant­wor­te­te salo­mo­nisch: »Na ja, aus­wen­dig ler­nen, ich weiß nicht. Da hat jeder so sei­ne Ansich­ten. Das könn­te man ja frei­stel­len. Bei mir ist es so, daß ich schon beim ein­ma­li­gen Lesen den wesent­li­chen Con­tent abspeichere.«
Gut gebrüllt, Löwe! Fas­se ein Gedicht von Höl­der­lin in vier Schlag­wor­ten zusam­men! Geht doch!

2015 hat­te eine Kul­tur­da­me in der FAZ mit­tels Groß­ar­ti­kel beklagt, daß in den Gym­na­si­en lan­des­weit vor allem olle Schrul­len (wie Patrick Süs­kinds groß­ar­ti­ger Roman Das Par­fum, datie­rend von 1985) gele­sen wer­de. War­um nicht Sibyl­le Berg, Elfrie­de Jeli­nek, Fer­idun Zai­moğ­lu? (All die­se? Ausgerechnet?) 

Die FAZ-Frau raun­te: »Seit der Ein­füh­rung des län­der­spe­zi­fi­schen Zen­tral­ab­iturs sind die soge­nann­ten Lese­lis­ten das Maß aller Din­ge. Sie sind für die Ober­stu­fen ver­bind­lich, und sie wer­den ohne öffent­li­che Betei­li­gung hin­ter ver­schlos­se­nen Türen der Kul­tus­mi­nis­te­ri­en erstellt.« Zumin­dest ers­te­res stimmt nicht. Nichts an die­sen »Lese­lis­ten« wäre ver­bind­lich. Es sind Vor­schlä­ge, Handreichungen.
Und selbst wenn nicht: aus einem knapp hun­dert Stü­cke bestehen­den Kanon aus­zu­wäh­len – wäre das nicht Luxus? Leu­te, reißt Euch zusam­men. An uns, den Eltern, bleibt es hän­gen. Lest mit den Kin­dern die Schul­lek­tü­re. Sprecht klug dar­über. Nennt ihnen Alternativen!

Alle genann­ten Bücher kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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