Warum sollte man, im Zeitalter von YouTube-Kanälen, Hörbüchern und anderen Errungenschaften, überhaupt noch lesen? Wird nicht seit jeher beklagt, daß die »erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechselung von Vorstellungen und Empfindungen«, üble Folgen zeitige wie »Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfungen in den Eingeweiden, mit einem Worte Hypochondrie, die bekanntermaaßen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbniß im Blute, reitzende
Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper«?
Einen nützlichen Lehrfilm oder belebenden Musikclip kann man über den Bildschirm flimmern, einen bildenden Roman von Goethe sich komplett und wohlklingend von der Medienmaschine vorlesen lassen – und nebenher seinen Leib üben, sei es Hanteln schwingend oder einer anderen nützlichen Verrichtung nachgehend.
Auf der Suche nach einem Weg, »dem Geschlechtstriebe eine unschädliche Richtung zu geben«, war der Leipziger Prediger Karl Gottfried Bauer schon 1791 justament gerade auf das Lesen als ein übles Laster gestoßen, das ihm zufolge zur zivilisatorischen Entartung seines Publikums maßgeblich beitrug – zumal »unter dem entsetzlichen Haufen von Romanen, Gedichten, Erzählungen, Impromptus, Schauspielen etc der täglich verschluckt wird, und sich täglich vervielfältigt«, das meiste nur »ephemeres, unnützes, geschmackloses«, ja sogar »verführerisches und sittenverderbliches Machwerk« sei.
Hat er nicht recht, der alte Theologe? Haben wir heute, angesichts der Digitalisierung von allem und jedem, nicht zudem sogar noch mit einem information oder data overload zu kämpfen, zu einem großen Teil nach wie vor in Buchstabenform, der jene »Schlaffheit«, »Siechheit« und Zerstreuung weiter fördert?
»Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns«, erfahren wir überdies beim grantigen Philosophen Arthur Schopenhauer, freilich dem genialsten aller Menschen, wie ihn Leo Tolstoi nannte: »Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen.«
Damit hat Schopenhauer für uns Populisten auch eine Erklärung parat, warum gerade von Professor*innen der Geistes- und Sozialwissenschaften, überhaupt von vermeintlich Gebildeten so viele weltfremde, manchmal absurd scheinende Ansichten zu den aktuellen Entwicklungen unserer Zeit geäußert werden: Solches komme nämlich daher, so der Philosoph, »daß wer sehr
viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert«.
Genau das sei »der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dummgelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist noch geisteslähmender, als beständige Handarbeit; da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann.
Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines fremden Körpers ihre Elasticität endlich einbüßt; so der Geist die seine, durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken. Und wie man durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leibe schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken.«
Warum also lesen? Auch der strenge Theologe, den wir zitierten, kennt freilich wertvolle Lektüre, aber eben nur jene, die allein moralisch einwandfreie und erbauliche Schriften umfassen soll. Hier spricht sich allerdings der öde bürgerliche Wille zur Gängelung und Zensur abweichender Verhaltens- und Denkweisen aus, die fade Lust an der geistigen Dressur, am moralischen Zwangskorsett für Unbotmäßige. Diese Haltung ist uns nur zu gut bekannt aus der Praxis der heutigen Moralbourgeoisie und
ihrer Bigotterie, sie gehört mit den Auslassungen von Literaturkritikern wie Denis Scheck ohne Zweifel »ab in die Tonne«.
Schopenhauer wiederum weist uns nach seiner Kritik am konsumierenden Lesen dann doch einen rechten Weg zum rechten Lesen: Sinnvoll wird das Gelesene, so sein erster Hinweis, durch Aneignung und Anverwandlung – indem man sich die Zeit nimmt, gründlich zu lesen und ebenso darüber nachzudenken. »Liest man hingegen immerfort, ohne späterhin weiter daran zu denken; so faßt es nicht Wurzel und geht meistens verloren. Ueberhaupt aber geht es mit der geistigen Nahrung nicht anders, als mit der leiblichen: kaum der funfzigste Theil von dem, was man zu sich nimmt, wird assimilirt: das Uebrige geht durch Evaporation,
Respiration, oder sonst ab.«
Und wie bei der Nahrung kommt es daher darauf an, mit Bedacht auszuwählen, nicht alles in sich hineinzufressen, was einem vor Augen kommt oder empfohlen wird, sodann bedächtig zu kauen und ruhig zu verdauen. In diesem Sinne rät uns der Philosoph
zweitens, der Leser möge stets das ihm Gemäße in den Schriften suchen, die er liest – also nur das lesen, was eigene Potentiale weckt und entsprechende Tätigkeit anregt: »indem es nämlich uns den Gebrauch lehrt, den wir von unsern eigenen Naturgaben machen können; also immer nur unter Voraussetzung dieser. Ohne solche hingegen erlernen wir durch Lesen nichts, als kalte todte Manier, und werden zu seichten Nachahmern.«
Richtiges Lesen gebiert schließlich den »Selbstdenker«, der Urteilskraft hat und ein freier Geist ist.
All das beantwortet dennoch nicht die Frage: Wozu denn heute noch lesen? Ich kann dieses mir Gemäße doch auch über zeitgemäße Medien, auf YouTube, über Podcasts oder in Filmen suchen, dann darüber nachdenken und es mir so aneignen. Die Frage nach dem Lesen stellt sich, will man sie ernsthaft bedenken, heute tatsächlich anders als in den vergangenen 250 Jahren. Angesichts jener Medienrevolution durch Film und Radio mit ihrer rasanten Beschleunigung und Intensivierung durch die Digitalisierung in den letzten 30 Jahren ist es inzwischen eine Binsenweisheit, was mancher französische Essayist in den 1970ern zu raunen anhub, in der Folge auch mancher bundesdeutsche Philosophatsch aufgriff: daß sich mit dem Mediengebrauch auch Art und Weise unserer Wahrnehmung, ja auch unser Wahrnehmungsapparat verändert. Selbst wenn wir heute alte Bücher lesen, lesen wir sie anders als unsere Altvorderen.
Die Frage nach dem Sinn des Lesens wäre also nunmehr mindestens in zwei Richtungen zu stellen: Welchen Wert kann das Lesen für uns persönlich im Zeitalter digitaler Medien noch haben, und welche Bedeutung oder welchen Nutzen hat es als Kulturtechnik für einen Staat, eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft?
Der französische Philosoph und Kulturkritiker Bernard Stiegler, ein Mann mit einem interessanten Lebenslauf, stellte die Frage nach der medialen Form und Prägung der Wahrnehmung in den 2000er Jahren in einen größeren Zusammenhang, vor allem mit Blick auf das dominante Massenmedium des ausgehenden letzten Jahrhunderts, das Fernsehen, in seiner Einbettung in den ökonomisch-politischen Komplex: Ohne eine Verschwörung sinistrer Kapitalisten zu propagieren, wies er darauf hin, daß die Illusionsindustrie unser Begehren und zugleich die Konsumversprechen durch die audiovisuellen Medien wie nie zuvor anheizen könne,wodurch die Differenz zwischen erwachsener Mündigkeit und kindlicher Unmündigkeit verwischt werde, in der medialen Darstellung ebenso wie im psychischen Apparat der Mediennutzer.
Die »Warengedichte der Werbung«, wie Wolfgang Fritz Haug die Psychotechniken zur Erzeugung eines magischen Scheins des Käuflichen einst nannte, leisten dieser Lesart zufolge eine ganz andere Form einer Wiederverzauberung der Welt, als
sich die Romantiker dies um 1800 noch als Utopie der Freiheit in Bindung vorstellten. Zum einen entfaltet sich heute in den filmischen Medien eine umfassende Welt des Scheins vor unseren Augen, als blickten wir aus dem Fenster – die Grenzen zwischen Marvel-Universum, Werbewelt und unserer eigenen scheinen fließend; dies bindet unsere Aufmerksamkeit nicht nur, sondern saugt sie auf und formiert sie gleichzeitig auch.
Damit geht, Stiegler zufolge, der alte Effekt der Ablenkung von Problemen der realen politischen Welt einher, der sich nun aber mit einer durch die Form der Medien erzeugten habituellen Zerstreuung verbindet: dies könnte kulturell weitreichende Folgen haben.
Stiegler, der im geläufigen name dropping der intellektuellen Capos in der BRD verhältnismäßig wenig präsent ist, geht über die Kritik an der »Kulturindustrie« von Horkheimer und Adorno hinaus und verdiente eine eigene Behandlung – seine Analysen im Gestus Michel Foucaults zielen darauf, daß der Komplex von Public Relations, Marketing und Flimmermedien eine Psychomacht bilde, die das traditionelle und bewährte Generationen- und Familiengefüge zersetze: Dieses »alte« Gefüge aber habe in der gegenseitigen persönlichen Zuwendung den Prozeß des Erziehens und Mündigwerdens allererst ermöglicht und sei damit die Voraussetzung jeder Aufklärung als Befreiung aus jener selbstverschuldeten Unmündigkeit, die allein diesen
Namen verdient.
Stieglers Anliegen ist es folgerichtig, »die Psychotechniken, die Dummheit produzieren, weil sie die Aufmerksamkeit zerstören«, durch den rechten Gebrauch »zu Technologien für die Entwicklung einer individuellen und kollektiven Intelligenz«
umzumünzen, was hier nicht weiter auszuführen ist.
Der Kernpunkt dieser Diagnose ist die Unterscheidung verschiedener Formen der Aufmerksamkeitsökonomie, die sich mit
unterschiedlichen Medien entwickeln. Man könnte davon sprechen, daß das alte Lesen zu einer »langsamen« Tiefenaufmerksamkeit erzieht, während die jungen Flimmermedien, auch wenn sie Buchstaben transportieren, einer »schnellen« Oberflächenaufmerksamkeit entsprechen und zuarbeiten.
In Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Überlegungen zu Buchstabenschrift und Sprachbau könnte man sagen, daß die Schriftlichkeit es ermöglicht, komplexe Gedanken in angemessen komplexer Sprache auszudrücken und im gründlichen, wiederholenden Lesen entsprechend nachzuvollziehen, also zu verstehen.
Wer es lernt und übt, etwa die spannenden Erzählungen des preußischen Dichters Heinrich von Kleist mit ihren langen, präzisen Schachtelsätzen zu lesen, dabei allmählich gefesselt wird von den atemberaubenden Plots, der versetzt sich auch in die
Lage, »späterhin weiter daran zu denken« und die darin enthaltenen großen und grundlegenden Fragen zu reflektieren. Lesen, wenn man es richtig lernt, hat demnach das Potential, eine Tiefenaufmerksamkeit systematisch zu schulen, die es dann ermöglicht, auch Filme, Spiele (Games) und soziale Konstellationen so zu lesen, daß diese über die »Chats« hinaus
im Schopenhauerschen Sinne bedacht, reflektiert werden können.
Man darf sich freilich nichts vormachen: ähnliche Bedenken, wie sie gegen denübermäßigen Gebrauch der »neuen Medien« vorgebracht werden, hat man seit Sokrates immer wieder auch gegen die Schriftlichkeit geäußert, dagegen auf Präsenz in Mündlichkeit oder im Bild gesetzt, und daß dem Lesen von Büchern ähnliche jugendverderbliche Folgen unterstellt wurden wie heute Computerspielen, Netflix-Serien und YouTube-Influencern war ja bereits am braven Pfarrer Bauer zu sehen.
Es wäre also schon aus historischer Perspektive Zurückhaltung angebracht und der Gebrauch zeitgemäßer Medien nicht grundsätzlich zu verdammen, mit dem Schlagwort einer »digitalen Demenz« etwa, wie es der populäre Psychiater und »Neurodidaktiker« Manfred Spitzer geprägt hat. Spitzers Forderung allerdings, daß man den Konsum von Bildschirmmedien bei Kindern drastisch einschränken müsse, und seine neurobiologischen Begründungen dafür, daß traditionelles Spielen unter Einsatz aller fünf Sinne zu fördern sei, entsprechen auch den Befunden der älteren Psychologie, und sie passen zu Stieglers Analysemodell.
Wie Friedrich Kittler 1985 in seiner Studie über die Aufschreibesysteme 1800/1900 gezeigt hat, ist die Wissensexplosion seit dem 18. Jahrhundert, die zu jener großen – seither nicht wieder erreichten – Zahl der Nobelpreise im Kaiserreich geführt hatte, eng mit der Alphabetisierung verknüpft. Vor dem Ersten Weltkrieg konnte man in Deutschland auch nahezu eine Vollalphabetisierung konstatieren. Die Erziehung zum Lesen im Bürgertum fiel im 18. Jahrhundert in die Verantwortung der Frauen, die mit der Etablierung der Kernfamilie von der Erwerbsarbeit freigestellt wurden, um sich um die Alphabetisierung ihrer Kinder zu kümmern. In persönlicher Zuwendung erlernte das – damals philanthropisch neu definierte – Kind nun
mit der Lautiermethode, dem Vorsprechen des Buchstabenlauts durch die Mutter, das Lesen. Eine Mutterschafts- und Kindheitsmetaphysik stützten dieses Modell der erzieherischen Zuwendung im Bürgertum fortan, und es konnte eine intergenerationelle Konstellation entstehen, die mit der sich ausbreitenden Fähigkeit zu intensiver Lektüre jene enorme Wissensproduktion freisetzte, von der wir alle heute noch zehren.
Warum also lesen? Als Kulturtechnik dürfte der Wert des Lesens unbestreitbar sein und müßte bildungspolitisch entsprechend den Befunden Stieglers und Spitzers mit anderer Akzentuierung sichergestellt werden, als es heute geschieht. Für uns persönlich sollte sich der Wert des Lesens indessen nicht in jener kognitiven Schulung unserer Tiefenaufmerksamkeit erschöpfen, die wir benötigen, um den mediopolitischen und ‑ökonomischen Komplex als Verblendungszusammenhang durchschauen zu
können.
Im Lesen guter Bücher und Filme finden wir immer auch wohnlichere Quartiere, in die wir wechseln können, wenn es uns ungemütlich wird, wie es Ernst Jünger einmal formuliert hat. Das hat nichts mit Eskapismus oder Weltflucht zu tun, sondern entspricht einer geistigen Kur, die uns befähigt, sodann um so besser unseren Mann zu stehen und uns als Frau zu behaupten.