Linke Lektüre. Eine Anleitung

PDF der Druckfassung aus Sezession 94/Dezember 2020

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Wenn sei­tens des Autors die­ser Zei­len bis­wei­len posi­tiv über lin­ke Autoren, Lek­tü­ren, Lese­er­fah­run­gen räso­niert wird, erfolgt dies von einem »neu­rech­ten« Stand­punkt aus. Im wei­tes­ten Sin­ne »lin­ke« Ideen als im wei­tes­ten Sin­ne »Rech­ter« zu rezi­pie­ren, erscheint ledig­lich auf den ers­ten Blick als ein augen­fäl­li­ger Wider­spruch. Denn die soge­nann­te Neue Rech­te, die in den 1960er Jah­ren in Frank­reich und eini­ge Jah­re spä­ter in der BRD ent­stand, war – bei aller wei­ter­hin ange­zeig­ten Kri­tik an
dem Phä­no­men und der Begriffs­schöp­fung – nicht das, was heu­te oft­mals mit ihr ver­bun­den wird, wenn man sich bei­spiels­wei­se erst seit 2015, dem Som­mer der Migra­ti­on, näher mit der viel­fäl­ti­gen poli­ti­schen Sphä­re rechts der »Mit­te« beschäftigt.

Der seit 2015 anhal­ten­de Rechts­rutsch bringt es mit sich, daß heu­te sogar hedo­nis­tisch-neo­kon­ser­va­ti­ve Krei­se zum »neu­rech­ten« Kom­plex gerech­net wer­den – eine läs­ti­ge Begriffs­ver­wir­rung. »Neue Rech­te« bedeu­tet näm­lich ganz sicher nicht, aus einem infan­ti­lem Trotz her­aus stets jene Auf­fas­sung zu ver­tre­ten, die dem, was als »links« (oder »links­grün«) gilt, dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt sein dürfte.
Die Neue Rech­te war und ist aber, bei aller damals wie heu­te gebo­te­nen Hete­ro­ge­ni­tät arti­ku­lier­ter Stand­punk­te, kei­ne Ver­an­stal­tung für Ver­kür­zun­gen der Denk­we­ge oder für ego­ma­ni­sche Ver­hal­tens­li­ber­tä­re, son­dern pri­mär für jene,

- die auf­ge­schlos­sen und wach ihre Sin­ne für Ver­än­de­run­gen im gesell­schaft­li­chen Rah­men schärfen;

- die nicht zeit­geis­tig, aber doch auf der Höhe der Zeit geis­tig tätig sind;

- die eine rea­lis­tisch-nüch­ter­ne und prä­zi­se Lage­ana­ly­se einem ideo­lo­gi­schen Bekennt­nis- und Gesin­nungs­zwang vorziehen;

- und die im Sin­ne einer »meta­po­li­ti­schen« Aus­rich­tung erkannt haben, daß die Ver­än­de­rung des All­tags­ver­stands der Men­schen im vor­po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, media­len Raum für eine wirk­li­che Umge­stal­tung der Rea­li­tät wich­ti­ger sei als ein, zwei Pro­zent­punk­te mehr im par­la­men­ta­ri­schen Raum, wich­ti­ger auch als ein, zwei gro­ße Anfra­gen und Geset­zes­vor­la­gen, als ein oder zwei mehr oder weni­ger klu­ge Koali­ti­ons­be­tei­li­gun­gen einer »rech­ten« Kraft.

Die­se Aspek­te zäh­len für die heu­ti­ge Neue Rech­te eben­so wie für ihre Pio­nie­re eini­ge Jahr­zehn­te vor­her. Denn die Neue Rech­te war in ihrem Ursprungs­land Frank­reich von Anbe­ginn der Ver­such, die Selbst­be­schrän­kung einer poli­ti­schen Rich­tung, die sich aus falsch ver­stan­de­ner Prin­zi­pi­en­fes­tig­keit im Links-Mit­te-Rechts-Koor­di­na­ten­sys­tem ver­or­ten woll­te, zu über­win­den. Die Neue Rech­te war der aus der Zeit her­aus objek­tiv not­wen­di­ge Ver­such, ein Den­ken in Syn­the­sen zu wagen, Din­ge zu kom­bi­nie­ren und zu etwas ande­rem, eben Neu­em zu ver­schmel­zen, gera­de­weil ste­te Ent­wick­lun­gen in Wis­sen­schaft, Wirt­schaft, Gesell­schaft und Poli­tik ein­fa­che Schwarz-Weiß- oder ein­fa­che Links-Rechts-Ant­wor­ten aus­sichts­los wer­den ließen.

Die­se ange­deu­te­ten Erkennt­nis­se zu ver­in­ner­li­chen hieß und heißt frei­lich nicht, daß man alles, was die genu­in rech­ten Tra­di­ti­ons­li­ni­en ver­gan­ge­ner Gene­ra­tio­nen beinhal­tet, über Bord wer­fen soll­te. Die­se Lini­en muß man auf­neh­men und sich aneig­nen, wenn es sinn­voll ist, kor­ri­gie­ren, wo es nötig, und wei­ter­füh­ren, wo es über­zeu­gend erscheint.

Eine neue Denk­wei­se in Syn­the­sen von rechts her zu erschlie­ßen heißt zu erken­nen, daß neue Pro­ble­me, Kon­stel­la­tio­nen und Wider­sprü­che eben mit neu­en Metho­den und Erkennt­nis­we­gen ein­her­ge­hen müssen.
So auch in der Grün­dungs­zeit der »Neu­en Rech­ten«: Man stürz­te sich in ver­schie­de­ne wis­sen­schaft­li­che Zwei­ge, ver­tief­te Erkennt­nis­se der Anthro­po­lo­gie, der Ver­hal­tens­leh­re, der Bio­lo­gie und der Sozio­lo­gie. Man rüs­te­te theo­re­tisch auf, weil die poli­ti­sche Rech­te die­se Arbeit in den Jah­ren vor­her dies­seits wie jen­seits des Rheins aus habi­tu­el­len und ideo­lo­gi­schen Moti­ven her­aus ver­nach­läs­sigt hatte.
Zu die­sen theo­re­ti­schen Erkennt­nis­pro­zes­sen – inklu­si­ve eini­ger spä­ter kor­ri­gier­ter Ablei­tungs­feh­ler rund um einen bio­lo­gis­ti­schen Reduk­tio­nis­mus – kam der nahe­lie­gen­de prak­ti­sche Zug. Denn es steht außer Zwei­fel, daß sich die – wie­der­um: äußerst hete­ro­ge­ne – Lin­ke in den 1960ern leben­di­ger, lese­be­geis­ter­ter, theo­rie­hung­ri­ger und erfolg­rei­cher denn je präsentierte.
Kurz: Sie war das kras­se Gegen­teil von dem, was man heu­te mit ihr ver­bin­den dürf­te. So war es kon­se­quent, daß man von »neu­rech­ter« Posi­tio­nie­rung aus den Blick nach links wand­te und sich durch Regal­me­ter Lite­ra­tur wühl­te. Eben so kam es, ver­kürzt dar­ge­stellt, daß die ers­te neu­rech­te Gene­ra­ti­on in Frank­reich um Alain de Benoist und Domi­ni­que Ven­ner bzw. in Deutsch­land um Hen­ning Eich­berg neben rech­tem Aktio­nis­mus und rech­ter Ideen­po­li­tik vor allem lin­ke Lek­tü­ren pfleg­te und gewis­se Früch­te der Aus­ein­an­der­set­zung in das eige­ne Welt­bild inte­grier­te. Bei den fran­zö­si­schen Neu­rech­ten um Benoist und in sei­nen drei Peri­odi­ka – élé­ments, Kri­sis, Nou­vel­le Éco­le – hält die­se lin­ke Lek­tü­re bis heu­te kon­struk­tiv an.

Benoist teil­te auch die­ser Zeit­schrift 2014 mit, was die Grund­hal­tung des ori­gi­när neu­rech­ten Her­an­tas­tens an Begrif­fe, Ideen, Denk­wei­sen auch lin­ker Pro­ve­ni­enz aus­ma­che. Er nann­te lin­ke Autoren, in deren Büchern er Erkennt­nis­se zu fin­den glaub­te. Gera­de auch, weil über den Nut­zen der Lek­tü­re eini­ger von ihnen treff­lich gestrit­ten wer­den darf, wird ein­mal mehr deut­lich, daß jeder per­sön­li­che Zugän­ge zu Ana­ly­sen und Theo­rien über eige­ne Anknüp­fungs­punk­te und Inter­es­sens­ge­bie­te fin­den muß; einen gold­nen Weg gibt es auch bei der Aus­wahl lin­ker Lek­tü­re für Rech­te nicht.

Ohne­hin: Lin­ke Lek­tü­re für undog­ma­ti­sche, auf­ge­schlos­se­ne Rech­te – das kann im schlech­ten Fall zu ande­ren Ergeb­nis­sen füh­ren als zur Inte­gra­ti­on adap­ti­ons­fä­hi­ger Gedan­ken des poli­ti­schen Geg­ners in das eige­ne Welt­bild. Bei Hen­ning Eich­berg etwa sorg­te es für den suk­zes­si­ven Über­gang in das ande­re poli­ti­sche Lager. Letzt­lich näm­lich arbei­te­te er nicht, wie sein tem­po­rä­rer Gefähr­te Alain de Benoist, an einer links-rechts-syn­the­ti­sie­ren­den Poli­tik mit rech­ten Per­sön­lich­kei­ten, son­dern ver­such­te eine dezi­diert lin­ke Poli­tik mit dezi­diert lin­ken Men­schen zu gestal­ten. Dar­an ist nicht nur zu erin­nern, weil Eich­berg einst der Grün­dungs­va­ter der deutsch­spra­chi­gen Neu­en Rech­ten gewe­sen ist (als der er heu­te noch durch die Sekun­där- und Ter­ti­är­li­te­ra­tur tin­gelt, ohne – grosso modo – über­haupt wei­ter­hin als inspi­rie­ren­de Quel­le gele­sen zu wer­den). Des­sen gilt es sich viel­mehr des­halb zu ent­sin­nen, weil lin­ke Lek­tü­ren für jede ein­zel­ne Per­son die Opti­on offen­hal­ten, sich von ihnen über­zeu­gen zu las­sen, und zwar: gänz­lich über­zeu­gen zu lassen.

Ohne Eich­berg als viel­schich­ti­gen Den­ker pau­schal zu ver­wer­fen, muß kon­sta­tiert wer­den, daß ein fes­tes Fun­da­ment, ein aus­ge­präg­tes welt­an­schau­li­ches Bewußt­sein und – so kann ganz idea­lis­tisch ange­nom­men wer­den – auch ein bestimm­ter Cha­rak­ter­typ vor­lie­gen soll­te, wenn man sich als (Neu)Rechter in lin­ke Gedan­ken­mo­del­le ein­ar­bei­ten möch­te, um sie als Stein­bruch auszubeuten.

Es ist not­wen­dig, sich bei allen mög­li­chen Schnitt­men­gen, die sich beim Zugriff auf lin­ke Wer­ke andeu­ten, an ent­schei­den­de Dif­fe­ren­zen zu erin­nern. Alain de Benoist als Phi­lo­soph und Uni­ver­sal­ge­lehr­ter muß ein sol­ches Erfor­der­nis nicht eigens beto­nen, aber wer nicht »nur« geis­tig schöp­fe­risch wir­ken möch­te, son­dern auch real­po­li­ti­sche Ver­än­de­run­gen anstrebt und auf die Bil­dung jun­ger Mul­ti­pli­ka­to­ren abzielt, soll­te sich bei ideen­his­to­ri­schen wie aktu­el­len Exami­nie­run­gen lin­ker Ansät­ze der
nur schwer ver­än­der­li­chen Trenn­li­ni­en bewußt bleiben.

1. Das skep­ti­sche Men­schen­bild ist eine ent­schei­den­de Trenn­li­nie: Mit Arnold Geh­len, Kon­rad Lorenz und Alexis Car­rel gehen wir davon aus, daß der Mensch ein Män­gel­we­sen ist, das der Gemein­schaft und der sta­bi­li­sie­ren­den Insti­tu­tio­nen bedarf. Als Män­gel­we­sen zum Guten wie zum Schlech­ten fähig, sind es tra­gen­de Säu­len einer gemein­schaft­li­chen Ord­nung, die den Indi­vi­du­en Ori­en­tie­rung und Nor­men des Zusam­men­le­bens mit­ge­ben. Sie sind unver­zicht­bar und nicht belie­big. Ein neu­rech­ter Stand­punkt ver­wirft bei einer grund­le­gen­den Posi­ti­on wie dem skep­ti­schen Men­schen­bild jede Form der Belie­big­keit, denn er glaubt nicht an die Tot­alem­an­zi­pa­ti­on der Per­sön­lich­keit zu einem von Bin­dun­gen und Pflich­ten gelös­ten, frei oszil­lie­ren­den Individuum.

2. In neu­rech­ten Welt­bil­dern kom­men kei­ne abs­trak­ten Men­schen in einer abs­trak­ten Mensch­heit vor. Das Inter­es­se gilt dem Plas­ti­schen, dem Leben­di­gen, gewis­ser­ma­ßen dem Orga­ni­schen. Der Mensch exis­tiert als kon­kre­ter Mensch, als Per­sön­lich­keit in einem bestimm­ten, viel­schich­ti­gen Zusam­men­hang. Man kann gemäß neu­rech­ter Vor­stel­lung des Lebens fami­liä­re, regio­na­le, volk­li­che oder natio­na­le Iden­ti­tä­ten nicht will­kür­lich gestal­ten. Vor­han­de­ne und über­mit­tel­te iden­ti­tä­re Mar­ker sind dabei kei­ne abso­lu­ten Deter­mi­nan­ten, und fast jedes Indi­vi­du­um weist eine rela­ti­ve Gestal­tungs­frei­heit und ‑hoheit auf. Aber die Vor­prä­gun­gen ver­or­ten und ver­wur­zeln den Ein­zel­nen, sie geben ihm jenes Fun­da­ment, von dem aus er sei­ne eige­ne Per­sön­lich­keits­wer­dung und gestal­te­ri­sche Lebens­füh­rung über­haupt erst gedei­hen las­sen kann.

3. Die­ser Ent­wick­lungs­ge­dan­ke führt zu einer wei­te­ren unum­stöß­li­chen Dif­fe­renz zwi­schen neu­rech­ten und lin­ken Denk­wel­ten: Neu­rech­te Akteu­re arbei­ten mit dem, was sie haben, um schritt­wei­se zu jenem Fern­ziel zu kom­men, das unter Berück­sich­ti­gung des skep­ti­schen und iden­ti­tä­ren Men­schen­bil­des – skiz­ziert als 1. und 2. – prak­ti­ka­bel oder zumin­dest am Hori­zont denk­bar erscheint. Anders als Gärt­ner­kon­ser­va­ti­ve und blo­ße Tra­di­ti­ons­kom­pa­nien im rech­ten Beritt erkennt man die mobi­li­sie­ren­de Rol­le von natio­na­len und sozia­len Mythen und, situa­tiv, von poli­ti­schen Uto­pien durch­aus an. Doch wir­ken sie – und eben dies macht ja den Unter­schied zu lin­ken Ideo­lo­gien aus – im Rah­men die­ser Stand­punk­te als Sti­mu­lanz, als dyna­mi­sie­ren­des Ele­ment, und gera­de nicht als Selbst­zweck; sie geben kei­ne Grund­la­ge für ein Men­schen­bild ab, sie die­nen nicht als Folie für eine inte­gra­le Welt­an­schau­ung oder poli­ti­sche Theorie.

Akzep­tie­ren wir die­se drei Gesichts­punk­te als Unter­schei­dun­gen zwi­schen links und neu­rechts, kann man sich auf inter­es­san­te, frucht­ba­re Aus­flü­ge in lin­ke Gefil­de bege­ben. Es gibt dabei aber zwei beden­kens­wer­te tech­ni­sche »Richt­li­ni­en«, wenn man als »Rech­ter« lin­ke Autoren – Klas­si­ker oder auch aktu­el­le Den­ker – liest: Man rezi­piert als eine Per­son, die dort, wo es sinn­voll erscheint, durch Erkennt­nis­se des »Geg­ners« ler­nen will.

Lin­ke Lek­tü­re dient nicht der theo­re­ti­schen Selbst­un­ter­hal­tung, son­dern, zumin­dest à la longue dazu, Rea­li­tä­ten zu ver­än­dern, die aber erst sub­stan­ti­ell ver­stan­den und durch­blickt wer­den müs­sen. Hier kön­nen, um ein Bei­spiel anzu­füh­ren, lin­ke Ana­ly­ti­ker kapi­ta­lis­ti­scher Pro­zes­se – Stich­wor­te: Ent­frem­dung, Kom­mo­di­fi­zie­rung des Lebens, Ver­mö­gens­sprei­zung, Post­po­li­tik – hilf­reich sein.

Der zwei­te Aspekt besteht dar­in, sich bewußt zu wer­den, daß eine ler­nen­de Lek­tü­re nicht gleich­zu­set­zen ist mit einer nach­ah­men­den Lek­tü­re im Sin­ne einer kri­tik­lo­sen Über­nah­me oder Selbst­an­pas­sung an lin­ke Grund­über­zeu­gun­gen und Standpunkte.
Wenn mit Hel­mut Kel­lers­hohn einer der klü­ge­ren geg­ne­ri­schen Beob­ach­ter der neu­rech­ten Sze­ne­rie in einem aktu­el­len Sam­mel­band moniert, der Autor die­ser Zei­len inter­es­sie­re sich bei lin­ker Lek­tü­re vor allem für sol­che Aspek­te, die aus heu­ti­ger Sicht – und spe­zi­ell aus Sicht der Rech­ten – von Bedeu­tung sein kön­nen, trifft er untrüg­lich den Punkt: Was ande­res als dies soll­te eine syn­the­ti­sie­ren­de rech­te Lek­tü­re auch bezwecken?

Es geht um die Aus­deh­nung des neu­rech­ten Hori­zonts um Erkennt­nis­se, die auf bestimm­ten The­men­fel­dern mit­un­ter eher aus den Rei­hen der »Gegen­sei­te« for­mu­liert wer­den, und sel­te­ner in der eige­nen Hemi­sphä­re Beach­tung und Wür­di­gung fin­den. Man gibt sei­ne eige­nen Stand­punk­te nicht preis, wenn ein­ge­räumt wird, daß – damals wie heu­te – auch links der Konsens-»Mitte« patente,
anschluß­fä­hi­ge Den­ker wir­ken, deren Urteils­kräf­te man kon­text­be­zo­gen in eige­ne Diens­te stellt. (Ob die­ses Metho­de auf Gegen­lie­be stößt oder nicht, ist gänz­lich unerheblich.)

Weil sich über­dies die akti­vis­ti­sche Lin­ke der Bun­des­re­pu­blik als »Bewe­gungs­lin­ke« in ideo­lo­gi­sche Sack­gas­sen indi­vi­dua­lis­ti­scher »Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­po­li­tik« ver­rennt und noch jeden nicht ratio­na­li­sier­ba­ren Wahn­sinn auf die Spit­ze treibt, weil also die heu­ti­ge Lin­ke der Pra­xis über­wie­gend nur noch eine Ver­falls­er­schei­nung dar­stellt, feh­len aber den diver­sen anschluß­fä­hi­gen Theo­re­ti­kern von links star­ke Reso­nanz­räu­me und jene Emp­fän­ger­krei­se, die ihre Ana­ly­sen auf­neh­men, ver­in­ner­li­chen, modi­fi­zie­ren oder her­un­ter­bre­chen und in Mas­sen­po­li­tik umset­zen kön­nen. Man zitiert von links zwar ohne Unter­laß sei­ne Gran­den, wie bei­spiels­hal­ber Wolf­gang Stre­eck und des­sen Ana­ly­se über die Gekauf­te Zeit (Ber­lin 2013/2018), aber man hat ver­lernt, selbst­kri­ti­sche Ansät­ze ernst zu neh­men. Stre­ecks Schil­de­rung etwa der Rol­le jener »68er«, die einst gegen den »Kon­sum­ter­ror« oppo­nier­ten, um her­nach einer Peri­ode der bei­spiel­lo­sen Kom­mer­zia­li­sie­rung und des Kon­su­mis­mus freie Bahn zu ver­schaf­fen, ver­puff­te eben­so im luft­lee­ren Raum wie sei­ne War­nung an die vom Kampf gegen Rechts ein­sei­tig beses­se­ne Lin­ke, daß »nicht mehr der Natio­na­lis­mus die größ­te Gefahr (dar­stel­le), schon gar nicht der deut­sche, son­dern der hay­e­kia­ni­sche Marktliberalismus«.

Die­se Kri­tik bleibt erfreu­li­cher­wei­se ohne Reso­nanz; die Lin­ke steckt trotz Stre­eck gemein­sam mit dem libe­ra­len Jus­te Milieu in der kon­for­mis­ti­schen Rebel­li­ons­bla­se, in der wir sie auch belas­sen soll­ten. Denn just hier kommt recht eigent­lich die Neue Rech­te ins Spiel, die ertrag­rei­che Unter­su­chun­gen und Betrach­tun­gen durch die klü­ge­ren lin­ken Autoren im deutsch­spra­chi­gen Raum fast exklu­siv auf­neh­men, modi­fi­zie­ren oder her­un­ter­bre­chen und, ein­ge­bet­tet in wei­ter­füh­ren­de Posi­tio­nen, in prak­ti­sche Mas­sen­po­li­tik umset­zen kann. Denn was bemer­kens­wert erscheint: Anders als teils in rech­ten Gefil­den zeich­net sich links eine inhalt­lich sehr breit auf­ge­stell­te Grund­kon­stel­la­ti­on ab. Man beschäf­tigt sich bei den befä­hig­ten Rest­lin­ken nicht ein­sei­tig mit Gen­der Main­strea­ming oder Geschichts­po­li­tik, son­dern deckt die unter­schied­lichs­ten Fel­der ab, von Wirt­schaft bis Psy­cho­lo­gie und von popu­lis­ti­schen Expe­ri­men­ten bis zur Pole­mik gegen das links­li­be­ra­le Kar­tell der Herrschenden.

Kon­kret gefaßt zäh­len zur hete­ro­ge­nen Lin­ken heu­te Sozio­lo­gen wie Stre­eck, Wirt­schafts­exper­ten wie Tho­mas Piket­ty, Psy­cho­lo­gen wie Rai­ner Maus­feld, Pole­mi­ker wie Sla­voj Žižek, freie Radi­ka­le wie Alain Badiou, Popu­lis­mus­den­ker wie Chan­tal Mouf­fe, Dra­ma­tur­gen wie Bernd Ste­ge­mann oder Poli­ti­ker wie Sahra Wagen­knecht. Sie zu lesen, im Rah­men einer »unter­schei­den­den Lek­tü­re« (Rolf Peter Sie­fer­le), gehört zu einem auf den eige­nen Fun­da­men­ten auf­bau­en­den und nach Erkennt­nis­er­wei­te­rung und Pro­fil­schär­fung stre­ben­den poli­ti­schen Milieu unwei­ger­lich dazu.

Eine damit ver­bun­de­ne posi­ti­ve Rezep­ti­on lin­ker Tex­te, also eine kon­struk­ti­ve lin­ke Lek­tü­re, will dabei zwei­er­lei nicht und zwei­er­lei expli­zit. Es geht ers­tens nicht allein dar­um, zu zei­gen, daß es gera­de im Ana­ly­se­be­reich geschei­te Rest­lin­ke gibt. Und es geht zwei­tens über­haupt nicht dar­um, die­se Köp­fe inner­halb ihres Milieus stär­ker zu machen. Es ist gut, wie es ist, und das meint hier: Es ist gut, daß sie ihrer Reso­nanz­räu­me im eige­nen Lager ver­lus­tig gehen, daß sie eher ange­fein­det als her­an­ge­zo­gen wer­den, daß sie ihre kon­struk­ti­ven Unter­su­chun­gen in ein – ver­meint­li­ches – Vaku­um hineinschreiben.

Es geht dem­ge­gen­über expli­zit um zwei­er­lei, um etwas Inhalt­li­ches und etwas Stra­te­gi­sches. Ers­tens geht es inhalt­lich um das Sich-Aneig­nen einer umfas­sen­den Lek­tü­re, wozu eben auch lin­ke Lek­tü­re zählt. Alain de Benoist hat dies, zusam­men­fas­send dar­ge­stellt, so erklärt: Wenn man einer »Neu­en Rech­ten« ange­hört, kann man sich von einem fes­ten Fun­da­ment aus auch bestimm­ten lin­ken Ideen ver­bun­den füh­len. Auch deren Theo­rien sind, bei allem berech­tig­ten Wider­spruch gegen sie, kei­ne iso­lier­ten Sys­te­me, und es gab immer schon optio­na­le Ver­bin­dungs­we­ge zwi­schen ein­zel­nen Denksträn­gen von »ihnen« und »uns«.

Er sehe kei­nen Wider­spruch dar­in, sich neben den obli­ga­to­ri­schen Namen wie Heid­eg­ger, Jün­ger oder Schmitt auch auf lin­ke Vor­den­ker zu bezie­hen. Denn eine Neue Rech­te habe den neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus schon lan­ge als »Haupt­geg­ner« erkannt, die lin­ken Spiel­ar­ten wäh­rend­des­sen als unter­schied­li­che »Neben­geg­ner«, die wie­der­um erst den ein­fluß­rei­che­ren Haupt­geg­ner als Grund­la­ge für ihr Han­deln benötigen.
Es sei hier auch an Armin Moh­lers Gleich­nis des Pri­mär- und Sekun­där­geg­ners erin­nert, also des Libe­ra­len einer­seits und des Lin­ken ande­rer­seits, der erst die geschaf­fe­nen Zustän­de des Erst­ge­nann­ten benö­tigt, um wir­ken zu kön­nen. Daher, so Benoist, inter­es­sie­re sich die Neue Rech­te »selbst­ver­ständ­lich für die bis dato schärfs­ten und bes­ten Kri­ti­ker des Kapi­ta­lis­mus« und sei­ner Ver­hält­nis­se. Zumal dann, so lie­ße sich ergän­zen, wenn es »rechts« auf bestimm­ten unver­zicht­ba­ren Fel­dern und zu bestimm­ten unver­zicht­ba­ren Sujets kei­ne ver­gleich­ba­ren wis­sen­schaft­li­chen Ana­ly­sen gibt.

Zwei­tens geht es stra­te­gisch um ein syn­the­ti­sie­ren­des Den­ken. Die­ses Den­ken in Wider­sprü­chen und kon­struk­ti­ven Ver­bin­dun­gen kann dazu füh­ren, daß intern vor­han­de­ne Schwach­punk­te durch exter­ne Stär­ken aus­ge­gli­chen wer­den. Es geht dar­um, das Eige­ne, das Neu­rech­te, dif­fe­ren­zier­ter, sub­stan­ti­el­ler, wir­kungs­vol­ler und kohä­ren­ter wer­den zu las­sen. Dies umreißt das Hauptziel.

Eine in alle Rich­tun­gen inhalt­lich und ana­ly­tisch tas­ten­de, suchen­de, sich kor­ri­gie­ren­de Neue Rech­te hat es auch in einer kom­ple­xer wer­den­den zukünf­ti­gen Rea­li­tät nicht nötig, auf der lin­ken Sei­te nach Part­nern, etwa für eine unter den gege­be­nen Ver­hält­nis­sen irrea­le »Quer­front«, zu suchen. Sie wür­de dann aus eige­ner Kraft eine intel­lek­tu­el­le Alter­na­ti­ve zum post­po­li­ti­schen Sta­tus quo verkörpern.
Das kann zusätz­lich und akzi­den­ti­ell den gra­ziö­sen Neben­ef­fekt auf­wei­sen, jene Rest­lin­ken anzu­zie­hen, die in ihrem Lager an der Ver­en­gung des Sag­ba­ren lei­den und die auf­grund ihrer rea­lis­ti­schen Auf­fas­sungs­ga­be ange­fein­det werden.
Aber dies ist kein Selbst­zweck, kei­ne sen­ti­men­ta­le sub­jek­ti­ve Versuchung.

Lin­ke Lek­tü­re von rechts heißt eben auch: »aus­schlach­tend« und zer­glie­dernd lesen, und dort zuzu­pa­cken, wo es zu hel­fen ver­spricht. Ob Geg­ner ein sol­ches Pro­ze­de­re dann als »Dis­kurs­pi­ra­te­rie« oder »Eklek­ti­zis­mus« schel­ten, kann gelas­sen zur Kennt­nis genom­men werden.
Es geht auch bei neu­rech­ter poli­ti­scher Theo­rie und ihrer Gene­se um die Ver­än­de­rung der Zustän­de in Deutsch­land und Euro­pa – und nicht um Best­no­ten für ideen­his­to­ri­sche Rein­heit, für ideen­his­to­ri­schen Benimm.
Best­no­ten sind etwas für Ver­fech­ter einer rei­nen Leh­re, bemüht Schön­geis­ti­ge oder auch alt­kon­ser­va­tiv Distin­gu­ier­te. Uns geht es um viel mehr:
Wir wis­sen, daß das Den­ken kein Selbst­zweck ist, kei­ne blo­ße Koket­te­rie. Wir beja­hen dar­über hin­aus, daß »das Den­ken nicht von der Pra­xis trenn­bar ist« und »gegen die Logik des Kapi­tals, gegen die Ent­wur­ze­lung der Völ­ker und die Aus­mer­zung der Kul­tu­ren« nur ankämp­fen kann, wer »über ein alter­na­ti­ves Theo­rie­werk ver­fügt« (Alain de Benoist). Die­ses fällt nicht vom Him­mel, man muß es sich erar­bei­ten. Neue Rech­te – das heißt ein­mal mehr Work in Pro­gress.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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