Das sich spiegelnde Vögelchen auf dem Titelumschlag deutet es an: Ralph Krass ist ein Narzißt, und was für einer! Er, »nicht schön, aber Kraft und Intellekt ausstrahlend«, kauft sich alles: Geschäfte, Freundschaften, Liebeleien. Krass ist massig, aber straff, in Form, ein Macher, ein Dezisionist, eher ungebildet, aber ein »Naturintellektueller«. Seine wenigen Worte haben Gewicht. Wir Leser finden ihn in seinen besten Jahren vor. Zunächst!
Mosebach hat einen Roman in drei Sätzen komponiert. Der erste ist mit der Spielanweisung »Allegro imbarazzante« überschrieben – eine glatte Erfindung: »lebhaft peinlich« vielleicht? (Folgen werden das »Andante pensierso« und »Marcia funebre«, die gibt es.)
Der einzigartige Stilist und bekennende Reaktionär Martin Mosebach hat uns erneut eine Geschichte beschert, die – wie mancher Parteihengst bekritteln wird – wieder »ohne politische Relevanz« ist. Ein kunstloser Einwand! Herr Krass hat den verkrachten, leidlich begabten, immerhin polyglotten Jungakademiker Herr Jüngel (ein Charakter, der in keinem Mosebach-Roman fehlt) engagiert, damit der sein zufälliges angeworbenes babylonisches Gefolge, eine zusammengewürfelte, illustre Gesellschaft, deutsch-italienisch-französisch, durch Neapel führe.
Krass selbst schweigt bei den abendlichen Runden meist »sphinxhaft« und herrscht mit »Gesten eines antiken Heerführers.«
Der Auftakt: Jüngel, dieser schmale, beflissene Untertan, hat die Reisegruppe versehentlich statt in ein neapolitanisches Volksstück in eine Zauberaufführung geschickt. Wie Mosebach den Magier sich »knapp verbeugen« läßt, »als habe er sich mit seiner Nummer vor allem selbst ein Vergnügen bereitet« und wie Herr Jüngel es versteht, rasant die »etwas irrationale Rhetorik« des Künstlers multilingual zu übersetzen – das sucht seinesgleichen:
Es gibt Dinge, die sind kein Trick, die sind unerforschbar. Es gibt Phänomene der Unbegreiflichkeit, einer Imprevisibilità.
Beiseite spricht uns der Erzähler an:
Welch ein Wort, gab es das überhaupt? Der Mann aus dem Norden tat so.
Mit solchen Präliminarien ist das Programm dieses Romans bereits umrissen: In dieser Welt ereignet sich laufend Unglaubliches. Die Dinge, einmal angezettelt, fügen sich über Jahrzehnte und über Kontinente aneinander, nichts daran ist jenseits des Möglichen, jede einzelne Seite ist ein Genuß.
Das liegt daran, weil Mosebach nicht nur Stilkünstler ersten Ranges ist, sondern auch Plots schreibt, die ihresgleichen suchen. Wie fast immer bei diesem »langsamschreibenden« Dichter (der nicht jährlich etwas auf den Buchmarkt wirft) geht es hier um ein offenkundig prächtiges Gewächs (hier: Ralph Krass), das im Kern doch den Keim des Morschen in sich trägt.
Im ersten Teil ist Krass ein Halbgott. Er ködert nicht nur den subalternen Jüngel, sondern – vielleicht – auch Lidewine, junge Femme fatale (und einstige Magiergeliebte), deren erstes Attribut die Unabhängigkeit ist. Lidewine, diese bezirzende Lebenskünstlerin mit quadratischem Gesicht und beachtlichen Waden, verliert bald Krassens Gunst, weil sie sich aus spontaner Neigung einem Untertanen (natürlich nicht Jüngel mit seiner »feierlichen Servilität«) hingibt. Krass verabscheut Illoyalität.
Der zweite Teil, anno 1989 und in Frankreich spielend, besteht in Tagebuchaufzeichnungen des kläglich von seiner Verlobten verlassenen Jüngel. Er ist immer noch dasselbe Jüngelchen wie im Jahr zuvor. Der arme Bub – wie leidet er nun, der Narr, unter diesem Liebesverlust! Wo wurde eine solche, übrigens höchst moderne, Mesalliance, je triftiger beschrieben?
Im dritten Teil sind wir zwanzig Jahre weiter. Wir befinden uns in Ägypten. Verrückt! Durch Zufall, Imprevisibilità, sind sie alle hier! Herrn Krass’ moribunde Morschheit ist offenkundig. Die sorglose Circe Lidewine hingegen ist kaum, und wenn: wertsteigernd gealtert. Sind diese »Gazellenaugen« aber nicht doch »Kuhaugen?«
Mosebach, Menschenkenner mit scharfem Auge für Details, beherrscht die Kunst solcher Kippbilder wie kein zweiter. Jüngel ist – kaum zu glauben bei dem Sentimentalisten, der er zwei Jahrzehnte zuvor war – inzwischen zweifach geschieden und einigermaßen abgefuckt im souveränen Sinn. Nichts ist, wie es einst schien, und dennoch hat sich in all diesen Lebensläufen, auch in denen der Nebenfiguren, irgend etwas erfüllt. »Karma« dahinter zu vermuten, ist bei diesem dezidiert katholischem Autor wohl unsinnig.
Es ist keiner in Sicht, der dem Romancier Mosebach hier und heute den Rang ablaufen könnte. Es liegt auf der Hand, Krass zu verfilmen. Man wüßte gern, wer das Drehbuch schriebe und die Szenen ausstattete. Jedenfalls: Eine bessere Vorlage kann man sich kaum wünschen.
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Martin Mosebach: Krass. Roman, Hamburg: Rowohlt 2021. 528 S, 26 € – hier bestellen.
Monika
Allein, um zu erfahren, wie man wertsteigernd altert, sollte ich wohl das Buch bestellen 🤔