Ikonen haben es an sich, auf den Altären und verdunkelt vom Kerzenrauch oft nicht bis in alle Einzelheiten unterscheidbar zu sein. Dasselbe Schicksal trifft (kulturelle) Leitfiguren, und, wenn sie ein voluminöses Werk hinterlassen, auch dieses. Man bewundert schneller als man liest.
Der Psychologe C.G. Jung hat nun zum zweiten Mal in der Geschichte seines Nachlebens Popularität in einer Jugendkultur erlangt: In der Hippiebewegung und im Amerikanischen New Age eine Kultfigur, gelangte er auf vielleicht unerwartete, aber perfekt zeitgemäße Art zu seiner zweiten popkulturellen Auferstehung: Der kanadische Psychologe und Kulturkritiker Jordan Peterson (Autorenporträt von Martin Lichtmesz, siehe Sezession 87/Dezember 2018) greift in seinen Videos immer wieder auf Begrifflichkeiten und Konzepte des Schweizers zurück und feiert ihn als Vordenker.
Da Peterson ein Millionenpublikum erreicht, kommt das einer Erhebung zur Ehre der (Internet-)Altäre gleich. Entsprechend sind die Erwartungen an das, was eine Jung-Lektüre leisten kann, verworren, aber hoch. Peterson präsentiert den Vater der »Analytischen Psychologie«, wie Jung sein Vorgehen zur Absetzung von dem Freuds nannte, im Rahmen dessen, was ihm seine Popularität bei der Zielgruppe »junger Mann, eher rechts« verschafft hat: einer Art Erziehung zur Männlichkeit. Er deutet das Leben als eine Bewährungsgeschichte, eine Perspektive, die pragmatisch wie moralisch traditionalistische Deutungen wiederaufleben läßt. Jede (männliche) Individuationsgeschichte gerät zu einer Variante von »Der Heros in tausend Gestalten« (Campbell) – und zur Interpretation dieser Mythologeme greift Peterson auf Elemente aus dem Werk des Schweizers zurück.
Das ist der Kontext, in dem Jung in ein breiteres Bewußtsein zurückgekehrt ist. Um diese Anziehungskraft nachvollziehen zu können, hilft es, sich Jungs Konzeption der Persönlichkeit vor Augen zu führen, die sowohl vom Alltagsverständnis als auch von dem Freuds entscheidend abweicht.
Der zentrale Begriff jeder Tiefenpsychologie, das Unbewußte, wird von beiden völlig anders gefaßt und auch anders bewertet. Für Freud ist es zunächst nichts als eine der »Regionen des seelischen Apparats« (DU, 273), in die nicht gesellschaftsfähige Regungen verbannt werden. Es ist realitätsuntüchtig, nur dem Lustprinzip unterworfen und daher vollkommen amoralisch. Gewissermaßen augenlos, weil nur mit anderen Teilen der Psyche, nicht aber mit der Außenwelt kommunizierend, ist es bloß die
»Vorstufe einer höheren Organisation«, eine Machtübernahme des Unterbewußten wäre krankhaft.
Ab 1920 läßt Freud das Konzept eines »System Ubw« hinter sich und tauscht es gegen das »zweite topische Modell« ein, das die Psyche aus Es, Ich und Über-Ich zusammengesetzt sein läßt, wobei jedes dieser Elemente unbewußte Anteile haben kann.
Freud begegnete diesem Unbewußten (das er nicht erfand, sondern das um die Jahrhundertwende bereits auf eine etwa hundertjährige Geschichte zurückblickte) mit einem Mißtrauen, das sich am deutlichsten in dem Stoßseufzer von Schillers »Taucher« ausdrückt, mit dem der erste Teil von Das Unbehagen in der Kultur schließt: »Es freue sich, wer da atmet
im rosigen Licht.« Er blieb ein paradoxer »Tiefenpsychologe«, der die (Un)Tiefen der Seele verabscheute, von denen der Religion ganz zu schweigen.
Ganz anders Jung. Seine Auffassung vom Unbewußten weicht in wenigstens drei Punkten von der Freuds ab: Die dort angesiedelten »Komplexe« können sich erstens zu eigenen »Teilpersonen« verselbständigen, ein Denkmotiv, das mit einem ausgeprägten Hang zur Verbildlichung psychischer Inhalte zu tun hat. Jungs Technik der »aktiven Imagination«, eine Praxis geleiteten Halluzinierens, gehört in diesen Zusammenhang. Sie verleiht der Anschauung gegenüber dem rein begrifflichen Vorgehen der »Talking-Cure« (wie eine frühe Patientin Freuds die Psychoanalyse nannte) besonderen Stellenwert.
Die zweite Abweichung betrifft einen der bekanntesten Entwürfe Jungs, das »Kollektive Unbewußte«. Im Gegensatz zum individuellen Unterbewußtsein Freuds ist es »un- oder überpersönlich , »eben weil es vom Persönlichen losgelöst und ganz allgemein ist und weil seine Inhalte überall gefunden werden können«. Die Inhalte dieses Kollektiven Unbewußten sind dann die vielberufenen Archetypen. Als Niederschlag stammesgeschichtlicher und historischer Erfahrung sollen sie eine Verbindungsinstanz zwischen der Persönlichkeit und einem in die Vorgeschichte zurückreichenden Kollektivgedächtnis sowie dem biologischen Erbe bilden. Wenn sich hier eine Assoziation zu Platons Ideen einstellt, so ist das durchaus im Sinne Jungs, der beides sogar einmal gleichsetzt.
Zu dem individuellen Unbewußten Freuds kommt also eine kollektive Ebene, auf der die Individuen miteinander und mit der Vergangenheit verbunden sind. Jungs kollektives Unbewußtes hat damit eine universelle Konnotation. Es bildet ironischerweise eine Art Universalismus von rechts (der Begriff natürlich nicht im Sinne eines Katalogs allgemeingültiger moralischer Axiome verstanden). Ironisch, weil Jung in linkslastigen Universitätswelten beharrlich als dumpfer Mythomane und geistiger Älpler verunglimpft worden ist. Petersons Bemerkung, er habe im akademischen Kontext niemals über Jung sprechen können (»I was constantly warned against talking about Jung.«), spiegelt diese Feindseligkeit des akademischen Betriebs Jung hat stets die allgemeine Geltung der Archetypen betont. Sie sind transnational, transkulturell und transhistorisch und damit ein echtes universelles Erbe, ein Erbe übrigens, das nicht ausgeschlagen werden kann.
Es gibt hier deutliche Parallelen zur den Mythologica von Lévi-Strauss, der freilich stets ein akademisch eminent zitierfähiger Autor geblieben ist, weil man vermutete, ihn politisch auf der richtigen Seite verorten zu können.
Und drittens: Jung nimmt, wie schon an der Berufung auf die Platonische Ideenwelt deutlich wird, eine vollkommen andere Haltung zu Fragen des Transzendenten ein. Das läßt sich nicht nur biographisch an seinem Interesse an okkulten Phänomenen (denen seine Dissertation galt), an Telepathie, Wahrträumen und Visionen festmachen (die Autobiographie »Erinnerungen, Träume, Gedanken« hält eine eigene, gnostisch inspirierte Vision Jungs fest), sondern auch an seinen zahleichen, sich widersprechenden Aussagen zum methodologischen Status seiner Arbeiten: Trotz wiederholter Berufung auf eine Kantische Grundhaltung, die einen Verzicht auf inhaltlich gefüllte Aussagen über Transzendentes voraussetzt, verweigert er sich letztlich einer klaren Grenzziehung zwischen psychologisch-empirischen und metaphysischen Fragen. Nachfragen pflegte er mit großer Geschmeidigkeit auszuweichen und legte sich niemals endgültig nach der einen oder anderen Seite fest.
Es ist besonders diese Stelle, an der er aus der Rolle des Psychiaters heraustritt und selbst in die eines Archetyps, nämlich des alten Weisen, eintritt. Als Trickster bringt er die säuberliche Scheidung epistemologischer Kategorien, auf denen Wissenschaftlichkeit beruht, ins Wanken.
Wie Freud ein Nachfahre von Aufklärung und Positivismus, ist Jung ein direkter Erbe der Romantik, insbesondere der Romantischen Medizin, ihrer Spiritualisten und Magnetiseure, deren Schriften er schon früh aus der Bibliothek seines Vaters, eines protestantischen Pfarrers, kannte.
All das läßt sich auf das Stichwort »Totalität« beziehen, ein Grundbegehren aller Modernekritiker seit der Romantik. Die Einbeziehung des Eidetischen, des Kollektiven, des Stammesgeschichtlichen und des Numinosen heben das Individuum aus der bürgerlichen Vereinzelung heraus und stellen es in einen übergreifenden Zusammenhang, der der Freudschen Analyse fremd ist.
So gesehen wäre es sinnvoller gewesen, Jungs Methode als «Synthetische Psychologie« (statt als analytische) zu bezeichnen, denn auch die Person wird von ihm unter dem Gesichtspunkt ihrer Ganzheit ins Auge gefaßt.
Auf therapeutischer Ebene geht es daher um eine Integrität der Person, die diese Ebenen miteinander in Einklang bringen soll.
Das volle Selbst wäre das Ergebnis eines Wachstums‑, Integrations- und Bewährungsvorgangs, der innerhalb einer ganz und gar nicht goldenen Gegenwart stattzufinden hat. (Und hier wären wir wieder bei Peterson angelangt.) Die Anerkennung der Widerständigkeit des Wirklichen unterscheidet diese Perspektive von regressiven Phantasien vom Goldenen Zeitalter, die es auf eine sorg- und mühelose Form der Vollkommenheit abgesehen haben. Das goldene Zeitalter ist heroenlos – der Held wird dort einfach nicht gebraucht. (Die sich als ultimativ aufgeklärt verstehende linksliberale Mentalität ist, wie empört sie das auch von sich weisen würde, sehr wohl auch ein Reflex des Mythos vom Goldenen Zeitalter.)
Eine Anerkennung dieses Widerstands findet man freilich, und in nüchternster Form, auch und gerade bei Freud. Der aber zielt nicht auf Ganzheit, sondern bloß auf Reparatur. Der Patient soll funktionieren, der Leidensdruck herabgesetzt werden, die Krankheit auf intellektualisierte Weise interpretiert und damit gebannt werden. Mit diesem Programm konnte Freud zum Liebling einer Intelligenz avancieren, die ihre Lebensberechtigung aus komplexen freischwebenden Deutungsspielchen bezog, die sich als einzige Bedingung am Kompaß des »Fortschrittlichen« auszurichten hatten und das wie Feilspäne an einem Magneten auch taten.
Wer sich damit nicht abspeisen ließ, fühlte sich eher von Jung angezogen, und das waren stets lebensreformerische Bewegungen und Bewegte, die sich mit der Kastration des modernen Menschen zum bloßIntellektuellen und bloß Hiesigen nicht abfinden wollten. Ein Begehren, das die ideologischen Lager von Hippietum und Neukonservativismus sowie Neuer Rechter überwölbt und das die Romantiker antrieb, gegen die »Glasköpfe« (Justinus Kerner) einer reduktionistischen Aufklärung in Stellung zu gehen.
Jungs Denken und Forschen ist nicht auf Reparaturarbeiten ausgerichtet, sondern auf Ergänzung und Herstellung eines Gegengewichts zu dieser monomanen Einseitigkeit. Er folgt damit – selbst, wie es nicht anders sein kann, ein Produkt der Moderne – keinem antimodernen, sondern einem ihre Defizite korrigierenden und ausgleichenden Impuls. Davon geht Jungs immer erneuerte Anziehungskraft aus. Lebensratschläge à la Peterson wird man in seinem Werk nicht finden. Es vermittelt seine Rezepte und Werthaltungen allenfalls in sehr indirekter Form.
Stattdessen versucht es sich am »Leben aus dem was immer gilt«, eine Wendung, die seine Tiefseefahrten in die Mythologie sehr gut beschreibt. Wieweit diese als Schule der Männlichkeit herhalten können, steht allerdings sehr in Frage. Im Widerspruch zur aktuellen durch Peterson stimulierten Rezeption war Jung Zeit seines Lebens von einem großen Kreis von Frauen umgeben, die teils rasch wechselten, teils sich Jahre bis Jahrzehnte ihres Lebens in seinen Dienst stellten. Auch in der Folge bleibt
der Anteil weiblicher Analytiker und Anhängerinnen der Jungschen Methodik auffallend. Das erklärt sich daraus, daß Jung auf den betont szientifischen Gestus Freuds zwar keineswegs vollständig verzichtete, aber reichlich Deutungsangebote für sein Werk bereitstellte, die darüber hinausgingen.
Das schadete ihm fachintern, ermöglichte aber einen um so breiteren Anschluß nach außen. Die Anziehung auf Männer schien sich demgegenüber in Grenzen zu halten. Das ikonische Bild des »Weisen von Küsnacht«, das rund um ihn geschaffen wurde, verdeutlicht den Unterschied: Jung trat nicht eindeutig ins prestigeträchtige und klar maskulin konnotierte Bild des Naturwissenschaftlers ein, sondern in das des Weisen, das eine »weichere«, traditionelle und übergreifende Form des Wissens suggeriert.
Auch die Persönlichkeitslehre Jungs kommt einem maskulinistisch orientierten Denken nicht unbedingt entgegen. Ihr Zentrum bildet die Vorstellung von »Animus« und »Anima«, also eines gegengeschlechtlichen »Seelenteils«, der in Männern und Frauen das andere Geschlecht gewissermaßen einschreint, allerdings überwiegend in Form negativer Eigenschaften. So ist die Anima angeblich launisch, um nicht zu sagen zickig, während sich der Animus gern in falschen Rationalisierungen ergeht.
Man muß nun weder feministisch noch maskulinistisch angehaucht sein, um an Jungs Zuordnungen ein gewisses Unbehagen zu empfinden − in jedem Fall aber trägt jedes Geschlecht aus dieser Sicht seinen Gegenpol in sich, so daß der Einzelne in einer bipolaren Spannung steht, die eine allzu plane Bestimmung von Geschlechtseigenschaften unterläuft.
Wie immer es sich mit dem Geschlechtergegensatz aus Jungs Sicht im Einzelnen verhält (seine Aussagen zum Thema sind widersprüchlich), die Tendenz ist klar: Es geht um die Selbsterschaffung und Selbstheilung eines transzendental obdachlosen modernen Selbst, das zuallererst Jung selbst und in zweiter Linie der Patient ist. Diese Praxis ist nur deshalb nicht die reine Hybris, weil in dem, was Jung Unbewußtes nennt, ein Verbündeter gesucht wird, dessen Kooperation sich nicht erzwingen läßt.
Insofern gehört Jung, viel mehr noch als Freud, in eine Geschichte (post) moderner Subjektkritik. Vermerkte Freud, das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus (ein Satz, der sich so ähnlich übrigens bereits 1791 bei dem Heilbronner Arzt Eberhard Gmelin findet) und setzte durch die Forderung, »wo Es war, soll Ich werden« diesem beunruhigenden Befund Widerstand entgegen, so strebt Jung nach Versöhnung und Vereinigung mit den unverfügbaren Elementen der Psyche, auch das ein symbolisch eher weiblicher Zug.
Das Selbst bezeichnet dabei eine integrierende Ich-Instanz, einen höheren, weiseren Bewußtseinszustand, der als Potential vorhanden ist und erreicht werden kann und soll. Jungs Bild der Person ist daher nicht nur umfassender und kühner als das Freuds, es wohnt ihm vor allem eine Zielrichtung inne. Er ist damit der Erbe einer Tradition, die auf Entfaltung der Persönlichkeit nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil eines größeren kulturellen, transzendenten und anthropologischen Zusammenhangs zielt.