Andererseits – in der Erscheinung – ist es tatsächlich bedrückend gespenstisch. Für Zweiteres fehlen eigentlich nur noch die einst allgegenwärtigen Transparente oder Lautsprecherbeschallung.
Zwar stehen basale Grundlagen, Eigentumsverhältnisse etwa, noch nicht in Frage, aber im überbaulichen, kulturellen und Kommunikationsbereich regiert ein Pseudosozialismus, der sich noch bizarrer ausnimmt als der einst „real existierende“. Die Corona-Hysterie forcierte diese Tendenz entscheidend.
Kennzeichnend dafür sind leere politische Übungen, tote Rituale, das Hersagen von Losungen und das Aufblasen ideologischer Sprechblasen. Wesentlich für den Überbau- und Kultursozialismus der Berliner Republik ist das Ersetzen des Nachdenkens und qualifizierten Urteilens durch das abverlangte Bekenntnis, das von der Schule bis zur beruflichen Karriere insbesondere im öffentlichen Dienst belohnt wird. Artigkeit und Angepaßtheit erscheinen wieder in einer Weise gefragt, wie man es noch in den (neo)liberalen Neunzigern und den Nullerjahren nicht für möglich gehalten hätte.
Wie in der absterbenden Phase des Ostblock-Sozialismus verlangt die politisch-ideologische Firmung Glaubensbekenntnisse, für die aus obligatorisch zu benutzenden Begriffen eine gegenderte Syntax zu formen ist, die variieren kann, wenn nur die Nomen stimmen: Weltoffenheit, Diversität, Toleranz, Inklusion, Gerechtigkeit, Anti-Diskriminierung – und vor allem feindbildgerecht: Gegen Rechts!
Symptomatisch übrigens, daß die erhabenen Forderungen nach Diversität und Toleranz nur für das eigene Spektrum Geltung haben, keinesfalls aber für jene, die dessen bedürften, um überhaupt am Diskurs teilnehmen zu können. Toleranz, mindestens ja in der Debatte, wäre allein gegenüber dem politischen Opponenten interessant, dem sie aber gerade nicht gewährt wird: „Keine Toleranz gegenüber Rechts!“ Nicht nur, daß den Vertretern der sogenannten Mitte die Größe fehlt, Andersdenkende zu akzeptieren und als Diskutanten zuzulassen; es packt sie eine würdelose Angst davor, deshalb ruft sie nach der Hilfe des Staates und feiert allein sich selbst.
Vergleichbar dem DDR-Sozialismus deuten die Leit- und Glaubensbegriffe ein neurotisches Muster an. Gerade weil sie weder gesellschaftlich praktikabel noch tatsachengerecht sind und weil das selbst den Protagonisten klar ist, werden die Phrasen und Floskeln beständig aufgerufen und beschworen. Im Sinne eines moralistisch phantasierten Als-Ob, von dem jeder kritische Nachdenker weiß: Das vermeintlich Wünschenswerte ist so nie und nimmer möglich und nicht mal wünschenswert, so daß es besser wäre, den verkündeten Anspruch nicht mal als Versuch zu starten. Nötig wäre die Klärung der Begriffe in deren Semantik. Insbesondere also sprachkritisch gilt es den Gegner zu stellen.
Anderes mag durch eine Anamnese zu klären sein: Während in der Alt-Bundesrepublik über Jahrzehnte nun mal Alt-Nazis zu den Leistungs- und Entscheidungsträgern gehörten, haben die umerzogen nachrückenden Generationen offenbar das Bedürfnis nach einer Überkompensation dieser im nachhinein als mißlich empfundenen Tatsache, anstatt Vergangenes differenziert zu erörtern, ausgehend von der Einsicht, daß die früheren Eliten nun mal ihren Platz und ihre Funktion hatten, durchaus zum Guten des Gemeinwesens, wenngleich biographisch belastet von einer Vergangenheit, die wiederum ihre eigenen Ursachen hatte.
Anamnetisch festzustellen ist ferner, daß die Berliner Republik ökonomisch zwar wesentlich kapitalistisch bzw. sozial-marktwirtschaftlich verfaßt ist, jedenfalls noch, genau dies aber die linksgrüne Neo-Aufklärung in ihrer Gerechtigkeitsromantik stört, obwohl – oder weil – der Kapitalismus bestens mit anthropologischen Grundlagen des Menschlichen korrespondiert. Linksgrün will den Menschen anders, nämlich antikapitalistisch, also urgleich, nach Talent und Vermögen einnivelliert, frei von „Profitstreben“, die Leistungsfähigen eingeordnet unter die Schwachmaten, über allem ein vollständige Inklusion sichernder Versorgungsstaat, der – Woher eigentlich? – noch mehr Mittel verteilt.
Kapitalismus jedenfalls kann nach linksgrüner Propaganda nicht zu einem moralisch wohltemperierten Menschen und zum verklärt solidarischen Gemeinschaftsbild passen. Daß es ihn, den bösen Kapitalismus, über Jahrhunderte gab und er kolonialistisch, rassistisch, imperialistisch bzw. nationalistisch genau die Grundlagen schuf, die noch heute ihren Lebenskomfort sichern, erlebt die linksgrüne Gemeinschaft als Kränkung ihres Selbstverständnisses. Entweder es wird verdrängt oder suggeriert, der Mensch wäre seit neustem endlich, endlich über diese Vorgeschichte hinausgereift, so daß sich nun alles zum final Guten wenden ließe.
Die neue gefühlslinke Mittelklasse erlebt sich selbst als hedonistisch, sie konsumiert XXXL und fordert genau deswegen um so mehr den korrekten, umweltbewußten und solidarischen Menschen als gesellschaftliches Leitbild – außerhalb der eigenen konkreten Person, also als Abstraktum.
Die Öko-Linke vermag weniger denn je zu erkennen, daß der Kapitalismus nicht irgendwo aus einem Hort des Bösen wirkt, sondern daß sie selbst dessen Teil ist, genau so, wie sie sich gleich allen anderen in die Kundschaft des von ihr stets geschmähten Amazon-Konzerns eingeklickt hat.
Die „neuen urbanen Schichten“, die sich angeblich einer neuen Menschlichkeit, einem modernen Humanismus verpflichtet sehen, betreiben die „Umwertung aller Werte“ in ihrem Sinne so vehement, weil sie das problematisch Menschliche – also die Grundschuld allen Daseins, gewissermaßen das Kainsmal – durchaus schmerzlich an sich selbst bemerken, ebenso wie alle anderen Eigenschaften, die sie ausschließen wollen, obwohl genau die für Antrieb und Leistung sorgen:
Sorge, Egoismus, Gewinnstreben, Neid, Mißgunst und was an dunklen Seiten nun mal an uns ist, notwendigerweise. Diese problematischen Züge konstituieren uns entscheidend und bedingen Chancen und Hoffnungen ebenso wie Tragik. Faust allein ist unvollständig – ohne Mephistopheles. Und Adam Smith‘ „unsichtbare Hand“ hätte nichts zu verteilen, wären wir nicht, wie wir sind.
Was die selbsterklärt Anständigen in lichten Momenten an sich selbst nicht leiden mögen, spalten sie ab und weisen es jenen Gegnern zu, die sie nolens volens selbst generieren. Krasser und ins Extrem formuliert: Sie treiben sich den inneren Nazi aus, um ihn im Gegenüber um so deutlicher personifiziert zu sehen und so zum Feind erklären zu können.
Dies ist ein Akt freudianischer Projektion, eine Externalisierung: Am anderen stört äußerlich insbesondere das, was man an sich selbst innerlich beargwöhnt. Daher all die Rituale moderner Teufelsaustreibung in inszenierten Kampagnen staatstragender Medien und Vereine, vor allem aber in der Schule, die sich dann zertifiziert als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, so als gäbe es nebenan Bildungseinrichtungen mit gegenteiligem Ziel.
So wie dem Marxismus über die Aufnahme Hegelschen Erbes eine idealistische Genetik eingeschrieben war, obwohl Marx, selbst als Mensch und Denker ambivalent, für den dialektischen und historischen Materialismus stehen wollte, ist die Linke nach wie vor von einem idealistischen „Prinzip Hoffnung“ beseelt, das säkularisiert den christlichen Wunsch nach Heil und Erlösung aufnahm. Marx war sich seiner Fehlstellen selbstironisch bewußt; gegenwärtige Linke halten sich jedoch ohne Zweifel für die besseren Menschen. Gerade ihnen fehlt gerade deswegen jeder Humor.
Je luxuriöser die materiellen Lebensumstände, etwa jene auf dem Prenzlauer Berg, um so verlockender die idealen Vorstellungen vom guten Menschen, der doch überall so sein möge, wie man ihn sich als besserverdienender Bio-Bourgeois zum Nachbarn im sanierten und gentrifizierten Edel-Altbau-Kiez wünscht.
Die Illusionen weichen erst, wenn die Lebensumstände prekärer werden und Entwürfe von existentialistischem Format erfordert sind. Dann kommt wieder erst das Fressen und dann die Moral. Dies ist zwar immer so, wird aber verdrängt, weil man in satten Zeiten von solcher Desillusionierung gekränkt würde.
Mit den linken und grünen Grundvereinbarungen zum wieder mal „neuen Menschen“ identifiziert sich zwar kein Praktiker, der pessimistischem Lebensernst folgt, dennoch steht hinter den Verordnungen dieses Menschenbildes im Luhmannschen Sinne ein politisches System ganz eigener Autopoiesis, das sich weit über die Linke hinaus im Einvernehmen von CSU bis ganz nach links Autoritäten schuf, die neuerdings die Corona-Ära zum Ausbau ihrer Macht nutzen konnten. Mittlerweile fordern sie quasitotalitaristisch Gelöbnisse ein.
Die Berliner Republik wächst coronaverstärkt in einen eigenartigen Sozialismus hinüber, der zwar noch Kapital, Lohnarbeit und die große Zockerei der Hochfinanz kennt, dabei aber von einem immens verbreiterten staatlichen Politik‑, Sozial‑, Verwaltungs- und Bildungssektor bestimmt wird, dessen dekadente Lebensgewohnheiten und Orientierungen auf Luxus das traditionell Bewährte, u. a. Tugenden wie Leistungsbereitschaft, Bescheidenheit und Selbstüberwindung, nicht mehr kennen. Aufgerüstet mit der üblichen Selbstlegitimation, für das vermeintlich unwiderlegbar bewiesene Urgute einzutreten, entwickelt die gewendete Republik mit ihrem riesigen Apparat eines Big Government mittlerweile autoritäre Züge.
Peter Sloterdijk dazu: “Auch bei uns herrschen zur Stunde semidiktatoriale Verhältnisse, die offenlegen, was die Soziologen nicht und die Politiker schon gar nicht hören möchten: Unser System entspricht seit längerem einem okkultierten Semisozialismus.” Eine Fiskalquote um die fünfzig Prozent ermöglicht der neuen höfischen Gesellschaft von “demokratischen” Politikern, Abgeordneten, Beratern und Bürokratie ein unverdient komfortables Auskommen auf Kosten derer, die als Unternehmer, Arbeiter und Dienstleistende diesen Reichtum noch erwirtschaften, deren Verhältnisse sich aber in dem Maße enger gestalten, in dem die Staatsquote weiter wächst.
Allerdings verfügten einstige Formen autoritärer oder sogar totalitärer Herrschaft über zweierlei, was der Merkel-Republik fehlt, zum einen charismatische Persönlichkeiten und zum anderen starke, Identifikation ermöglichende Symbole. Beides ist nicht präsent, weil die fade demokratisch-bürokratisch verfaßte Herrschaftsform charismatische Typen und ins Metaphysische weisende Symbolik von selbst ausschließt; es bleibt bei den bräsigen Bürokraten, die wiederum physiognomisch jenen Parteiarbeitern ähneln, die den ebenfalls uncharismatischen DDR-Sozialismus verwalteten, der sich aber immerhin des Feuerschutzes des poststalinistischen Sowjetimperiums sicher sein konnte.
Daß es sich dabei um einen Riesen auf tönernen Füßen handelte, wurde zunächst nicht deutlich, weil Hunderttausende Sowjetsoldaten im Lande ein Argument für sich darstellten. Überhaupt bezogen alle Diktaturen des vorigen Jahrhunderts ihren ideologischen Starkstrom aus den Spannungen einer bipolaren Welt.
Hinter der zunehmend quasiautoritär agierenden Bundesregierung steht nichts. Aber sie wird getragen von einer zunächst immer breiteren Koalition an Übereinstimmern, die sich im Sinne einer Blockparteiengemeinschaft zur Herrschaft vereinen. Dies jedoch mit dem unerwünschten Effekt, daß die Unterscheidung der vereinbart Wohlgesinnten gegenüber der von ihnen als unverschämt geschmähten Opposition immer deutlicher wird.
Oder anders: Die Opposition gewinnt Kontur gerade durch ihre Ausgrenzung. Sie findet sich in Gestalt der AfD nicht nur an den Katzentisch des Parlaments gesetzt, sondern ganz außerhalb des Systems gestellt, diskriminiert als pathologischer Fall, weil es eine rechte Opposition nach vereinbarter Wahrnehmung der Blockparteien „vernünftigerweise“ gar nicht geben dürfte, sollte sie doch kraft politischer Heilpädagogik längst umerzogen sein.
Da zudem die Linke gut bezahlt zur Einheitsfront gehört, ja sogar als deren ideologische Stichwortgeberin fungiert, büßte sie – teilweise zur eigenen Perplexität – ihre früher gleichfalls exponierte Stellung ein. Jede Opposition ist derzeit rechts und muß rechts sein, weil ausnahmslos alle, etwa Corona-Kritiker, vom linksgrundierten Hegemon nach rechts gestellt werden.
Dies sichert der Rechten einen wichtigen Vorteil. Weil sie weitgehend unkorrumpiert außerhalb stehen muß, im Wortsinne „draußen vor der Tür“, kann sie aufmerksam beobachten, ohne bislang in Entscheidungsprozesse involviert zu sein. Sie kann sich ohne Last unmittelbarer Verantwortung abklären, bilden, gedanklich wachsen und aufmerksam in der Kritik von Lebenslügen der Merkel-Einheitsfrontler üben.
Uwe Lay
Sehr irritierend!
Selbst die schärfsten Kritiker der DDR konnten in ihr keine Millionen von Arbeitslosen entdecken, Menschen, die von der Sozialhilfe leben und auf Armenspeisungen angewiesen waren. Aber die politische Freiheit! Ja, sie wird in Deutschland durch den Kampf gegen Rechts dramatisch eingeschränkt, aber ein substantieller Unterschied bleibt bestehen: Während in der DDR der Staat politische Freiheiten unterdrückte, wird jetzt die Repression zivilgesellschaftlich organisiert, von dem Restaurant, das keine "Rechten" mehr bedient, über den Fußballverein, der Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegen Rechts erläßt bis hin zu den Universitäten, wo die Antifa bestimmt, was gelehrt werden darf, unendlich ergänzbar.
Sucht man nun aber nach Multikultivierungstendenzen in der DDR: Fehlanzeige. Das Zentralorgan der SED hieß: "Neues Deutschland", heute heißt die Parole: "Nie wieder Deutschland" Wo findet da eine Angleichung an die DDR statt? Kulturell gesehen war die DDR nämlich preußisch-deutscher als die verwestliche und somit entdeutschte BRD. (Vgl Thomas Mann, Unpolitische Betrachtungen)
Uwe C. Lay