»Jugendreich«. Man beschrieb damit den Selbstversuch, den Zwängen der modernen, arbeitsteiligen, durchorganisierten und cleveren Massengesellschaft in einen anders aufgespannten Raum zu entkommen – und sei es nur für Tage oder Wochen.
Im »Jugendreich« galten andere Gesetze, andere Unabhängigkeiten, dort führte und folgte ein anderer Typus, dort hatten der Moment und der Traum, der nutzlose Dienst und der Gral, der ganze ehrliche Lebensernst und die Ablehnung von Verkaufskonzept und Beschwichtigungsmentalität eine ins bürgerliche Leben, ins Arbeitsleben kaum übertragbare Bedeutung. Eine der Schlüsselparolen lautete: »rein bleiben und reif werden«. Sie zielte auf Verantwortungsbewußtsein, Einsatzbereitschaft, innere und geistige Sauberkeit und lebendige, ehrliche Zuneigung.
Kritik an dieser idealistischen Überspannung wurde schon damals heftig geäußert. Aus einer solchen Kunstwelt, einem ausblendenden Anderland, Tugenden fürs Hier und Jetzt zu schöpfen sei fahrlässig und ziehe die besten Kräfte dort ab, wo sie am nötigsten seien: vom Raum der Realpolitik, vom Möglichen, vom Kompromiß, von der Mehrheitssuche – vom, aufs Ganze gesehen, nicht hinreichend großen, aber doch wenigstens ansetzbaren Hebel, den man unbedingt in die Hand bekommen müsse, wolle man überhaupt etwas »mitgestalten«.
Aber wer will das schon, mitgestalten, wo die vor Kraft strotzenden Unhintergehbarkeiten der modernen und postmodernen Entwicklung samt ihren technischen Entsprechungen (Häppchengeist, Echtzeit, Identitätsbastelei, Transhumanismus) den »Aufhalter«, den Bremser, den Warner, den Träumer, den »Wanderer zwischen beiden Welten« anlächeln – um ihm im nächsten Moment eine zu knallen, daß er sich benommen in die Ecke verzieht, aus der er sich (mitgestaltungsfröhlich) eben erst hervorgewagt hatte.
Wären wir von dieser Sorte, hätten wir unser Blatt nicht Sezession genannt, sondern »Hallo« oder »Einwurf« oder, in einem Moment des Durchblicks, »Beistelltisch« oder »Durchreiche«.
Aber so war es eben nicht, vor achtzehn Jahren, und daß es nicht so war, hatte seinen Grund nicht nur, aber auch darin, daß wir dem bündischen Gedanken an das Selbstbestimmungsrecht im Jugendreich eine Art Leitlinienkompetenz einräumten – weit über die Jugendphase hinaus.
Ins Verlegerische, in den metapolitischen Ansatz einer »Sezession« hinein übertragen, lauten die Begriffe zwar anders, aber gemeint ist dasselbe: »reine Politik« oder »Nachahmungsverbot« oder auch »große Loslösung«. Den letzten prägte Nietzsche, seine »große Loslösung« ist eine Patin des Namens unserer Zeitschrift.
»Nachahmungsverbot« ist ein Einsatzgrundsatz aus dem Guerillamarketing: niemals das nachzubauen versuchen, was bloß klappt, wenn man auf Wohlwollen, auf offene Arme, auf Fördertöpfe, auf die Stromlinie des Flusses trifft; besser also stets davon ausgehen, daß man an den entscheidenden Stellen alles auf ganz eigene Weise erledigen muß: neu erfinden, ausprobieren, durchsetzen.
Und die »reine Politik«? Im Grunde ist das der Gegenbegriff zum »Lagedenken«, und hier wird es schwierig: »Lagedenken« (wir nannten zuletzt die Festschrift zum Zwanzigjährigen unseres Instituts so !) ist einer der rechten, konservativen Begriffe schlechthin.
In der Lage zu denken (und zu leben) bedeutet, von dem, was ist, nicht zu abstrahieren und keinesfalls die Wirklichkeit und das Leben auf utopischem Abweg zu vergewaltigen. (Eine knappere Beschreibung rechter Politik gibt es nicht: das gedeihliche Leben vor den Vergewaltigungen durch die Experimentierfreude verantwortungsloser Entwürfe zu bewahren.)
»Reine Politik« und »Lagedenken« – der Kreuzungspunkt liegt dort, wo wir nicht mehr zurechtkommen wollen. Denn natürlich kann man immer irgendwie zurechtkommen mit dem, was einem die Gesellschaftsklempner aufgeben, aufladen, abverlangen. »Reine Politik« bedeutet dann, trotz Einsicht in die Lage und in die Übermacht der anderen, trotz Kenntnis der Stromlinie den Dreck nicht mehr mitzumachen, nicht mehr mitzuschwimmen, mitzugestalten, sondern vom grundsätzlich Richtigen nicht zu lassen.
Wie so etwas aussehen könnte? Blättern Sie mal in hundert Heften.
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anatol broder
aus tristan von thomas mann, § 7:
spinell. sag mir, gnädige frau: deine familie ist wohl alt? es haben wohl schon viele generationen in dem grauen giebelhaus gelebt, gearbeitet und das zeitliche gesegnet?
klöterjahn. ja. warum fragst du übrigens?
spinell. weil es nicht selten geschieht, dass ein geschlecht mit praktischen, bürgerlichen und trockenen traditionen sich gegen das ende seiner tage noch einmal durch die kunst verklärt.
klöterjahn. ist dem so? ja, was meinen vater betrifft, so ist er sicherlich mehr ein künstler als mancher, der sich so nennt und vom ruhme lebt. ich spiele nur ein bisschen klavier. jetzt haben sie es mir ja verboten; aber damals, zu hause, spielte ich noch. mein vater und ich, wir spielten zusammen. ja, ich habe all die jahre in lieber erinnerung; besonders den garten, unseren garten, hinterm hause. er war jämmerlich verwildert und verwuchert und von zerbröckelten, bemoosten mauern eingeschlossen; aber gerade das gab ihm viel reiz. in der mitte war ein springbrunnen, mit einem dichten kranz von schwertlilien umgeben. im sommer verbrachte ich dort lange stunden mit meinen freundinnen. wir sassen alle auf kleinen feldsesseln rund um den springbrunnen herum …
spinell. wie schön.