Glückwunschkärtchen, Gruß-Mails, lobende Worte im Rahmen telefonischer Bestellungen, vor allem aber: zehn bis fünfzehn neue Abonnements pro Tag und etliche Aufstockungen von der Normal- auf die Fördererstufe (fünfundzwanzig Euro mehr pro Jahr für sechs Hefte, bedeutet für uns: mehr Spielraum).
Die 100. Sezession erscheint in rat- und wehrloser Zeit und fragt “Wo stehen wir?” Wir stehen – wie schon immer – wahrnehmend an unseren Fenstern, die unserem Blick, unserer Wahrnehmung einen Ausschnitt präsentieren. Ihn im Rahmen unserer Möglichkeiten zu beschreiben, seinen Zuschnitt aus der Vergangenheit her zu erläutern und aus ihm etwas für morgen und übermorgen abzuleiten, ist die Aufgabe, an der unsere Autoren arbeiten.
Es ist je nach Gemüt und Lage ein Aus- und Angreifen, ein Zurechtkommen, Hinnehmen und Protokollieren, eine Vereinnahmung und eine Abwendung. Hundert Hefte sind der Ausdruck dieser Mühe. Hundert Hefte sind aber auch ein Archiv. Dessen Auswertung würde unter anderem eines zeigen: freier und breiter angelegt kann man in keinem Denkmilieu denken.
Wir können rücksichtslos über alles schreiben, polemisieren, nachgrübeln und urteilen, was uns interessant genug erscheint. Unsere Leser kündigen uns danach nicht auf oder fordern gründlichere geistige Hygiene. Sie lesen weiter oder brechen ab, schreiben mal ein kritisches Wort oder stöbern weiter.
So viel Ambivalenz, Offenheit, geistige Freiheit, Aneignungskraft paßt natürlich nicht ins Feindbild. Also auch das kann man rund um unsere ersten hundert Hefte ablesen: Es gibt keine einzige andere Zeitschrift in Deutschland, deren Lage- und Zeitanalysen Gegenstand so vieler Feindbeobachtungen, Auswertungen, Verfälschungen und Denunziationen geworden wäre.
Mir ist für diesen Umstand nie ein besserer Begriff eingefallen als “Zeigerpflanze”: In der Tat, wir verweisen auf etwas, auf einen Zustand, eine Hysterie, eine bedrohliche Enge, auf Macht- und Hygienephantasien, wie sie in den Mittelebenen blühen, dort, wo die wissenschaftlich und behördlich banalen Handlanger nach einfachen Rastern vorgehen.
Für Ellen Kositza, Erik Lehnert, Benedikt Kaiser und mich war die Arbeit am 100. Heft nicht zugleich die Vorbereitung eines runden Geburtstags. Wir hätten mit Ihnen, liebe Leser, feiern mögen, mit 250 Leuten im Saal, dicht gedrängt. Aber das geht nun nicht, und virtuell kann man es einfach nicht ersetzen.
Dank also für Karten, Wein, Blumen und Schokolade. Lehnert, Kaiser und ich saßen zusammen, stießen an und betrieben ein bißchen Werkschau. Das Ergebnis ist unser Jubiläumsfilm, und hier können Sie die 100. Sezession bestellen oder dort gleich den Jahrgang 2021 abonnieren. (Daß wir im Film etwas über die Arbeit schon am 101. Heft zeigen, meint: Auch auf 100 kann man sich nicht ausruhen.)
Gotlandfahrer
Auch ich möchte hier meinen Dank und Respekt für Ihr Schaffen und den Freiraum in und unter Ihren Beiträgen hinterlassen. Es ist wie ein Stein, gegen den ich mich erschöpft zur Erholung lehne, während vor und nun bereits auch in den Räumen die „Luzi“ abgeht. Wenn auch das aktuelle Zwischenfazit nach Hilflosigkeit aussieht, so ist doch selbst eine solche Erkenntnis heilsam, da sie desillusioniert und damit Vergeudung in falschen Chancen vermeiden hilft. Und wir wissen ja:
https://www.youtube.com/watch?v=WHr46pyUa50
Möge es Ihnen und uns vergönnt sein, die 111. Ausgabe angemessener zu feiern.
Alles Gute!