Lehnert und Kubitschek im Gespräch über Benn

Mittwoch, 3. März, 19 Uhr: Live-Sendung aus Schnellroda, Lehnert und Kubitschek über Gottfried Benn. Hier das volle Video:

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

– –
Ankün­di­gungs­text vom 2. März:

Ich kann gleich ver­ra­ten: Das wird ein har­ter Bro­cken. Ben­ns Werk ist so umfang­reich wie auf­ge­fä­chert, so her­me­tisch wie dicht, so poli­tisch wie auto­nom. Wir wer­den uns also ent­we­der die Zäh­ne aus­bei­ßen oder gro­ße Bro­cken zäh zerkauen.

Uns freut jeden­falls, daß unse­re Live-Gesprä­che so guten Anklang fin­den. Das Gespräch über Ernst Jün­ger ist (und bleibt wohl) der Spit­zen­rei­ter nach Zugriffs­zah­len. Wer die­sen Rekord nach oben trei­ben und vor allem etwas ler­nen will: Hier ist der link.

Ganz wich­tig aber: die Lese­freu­de in die Brei­te. Daß wir uns empa­thisch mit Jochen Klep­per befaß­ten, stößt übri­gens nur den­je­ni­gen auf, die mei­nen, begeis­tert lesen und in sei­ner Lebens­la­ge und Todes­ent­schei­dung wür­di­gen dür­fe so jeman­den nur der­je­ni­ge, der schon ein­mal einen Stol­per­stein ver­legt oder auf­po­liert hat. War­um eigentlich?

Nun also Benn. Wir lesen ihn seit drei­ßig Jah­ren, er ist als Lyri­ker kaum zu über­tref­fen und als Essay­ist von einer Wucht, die ihres­glei­chen sucht. Auch in sei­nem Leben fehlt der Welt­krieg nicht, sogar bei­de sind vor­han­den und bei­de zeig­ten ihn in Uni­form. Daß er 1933 ein Tänz­chen mit der Macht wagen woll­te, wird natür­lich The­ma sein, ein zen­tra­les sogar. Ande­re: Geschichts­phi­lo­so­phie oder Sinn­lo­sig­keit, enga­gier­te Kunst oder Artistik?

Wie han­geln wir uns vor­an? Da ist zum einen

+ die Bild­bio­gra­phie von Hol­ger Hof (in der­sel­ben Aus­stat­tung und Mach­art wie die von Schwilk über Jün­ger). Hof hat außer­dem vorgelegt:

+ Der Mann ohne Gedächt­nis (eine ent­lang der Tages­ka­len­der Ben­ns auf­ge­bau­te Bio­gra­phie) und

+ “Absinth schlürft man mit Stroh­halm, Lyrik mit Rot­stift” – eine Aus­wahl aus Ben­ns Briefen.

+ Die mei­ner Mei­nung nach stärks­te Bio­gra­phie kommt aus der Feder Hel­mut Lethens: Der Sound der Väter ist noch erhältlich.

Die­se Bän­de und vor allem das Wesent­li­che von Benn selbst haben wir in einem Bücher­schrank zusam­men­ge­stellt. Hier ist er auf­find­bar. Und: Wer am Mitt­woch um 19 Uhr dabei sein will, soll­te den “Kanal Schnell­ro­da” abon­nie­ren und dort (mit oder ohne Abo) pünkt­lich erschei­nen, wenn wir los­le­gen. Bis dann!

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (49)

Maiordomus

2. März 2021 15:10

Ja, "die Wurfschaufel in die Hand nehmen", das war mal im einzigen Augenblick, da der Autor "was glaubte", eine Losung von ihm und für ihn. Aus seinen ursprünglich materialistischen Ansätzen ergab sich zunächst ein deterministisches Weltbild, in dem Freiheit "für den Staat" geopfert werden durfte. Von hohem Interesse war kurz vor seinem Tod die Rundfunk-Debatte mit Reinhold Schneider "Soll die Dichtung das Leben verbessern?", das meines Wissens wenn nicht bei Insel, so doch wohl in Bergengruens/Dürrenmatts Schweizer Arche-Verlag des Verlegers Schifferli in Zürich erschienen ist. Der Gegensatz erwies sich als fruchtbar, heute noch spannend, verdient im Zwiegespräch angesprochen zu werden. Eingefahren ist mir schon vor 50 Jahren Benns Umschreibung für Gott: "Das Wort, das meinem Stil fremd ist." Die Debatte war zu meiner Studienzeit auch als Schallplatte mit den markanten nicht zu vergessenden Stimmen der beiden anschaffbar.  

Niekisch

2. März 2021 15:34

@ Maiordomus 15:10:

"Soll die Dichtung das Leben verbessern?" Ja, und das nachfolgende, als erstes aufgeschlagene Gedicht Benns beweist es mit seiner Bildhaftigkeit für unser Jetzt:

B e r l i n

Wenn die Brücken, wenn die Bogen

von der Steppe aufgesogen

und die Burg im Sand verrinnt,

wenn die Häuser leer geworden,

wenn die Heere und die Horden

über unseren Gräbern sind,

 

eines kann man nicht vertreiben:

dieser Steine Male bleiben

Löwen noch im Wüstensand,

wenn die Mauern niederbrechen,

werden noch die Trümmer sprechen

von dem großen Abendland.

Glast

2. März 2021 16:59

@Niekisch

Berlin ist das erste Gedicht von Benn, das ich auswendig lernte. Vor etwa 25 Jahren. In seine statischen Gedichte lese ich jede Woche. 

Waldgang78

2. März 2021 20:49

Ich liebe dieses Format, wie auch Am Rande der Gesellschaft. Meine absoluten Lichtblicke, diese gemütlichen Runden. Da ist Tiefgang mit jeder Menge Referenzen.

„Kopf hoch“ an einen sicher etwas geknickten Herrn Lichtmesz, der ja jüngst auf Twitter gesperrt wurde, und immer sehr aktiv war. Man hatte dann wohl doch entschieden, daß es nun an der Zeit sei. Vielleicht aber nur ein vorübergehender Bann? Eine Weile in die "Ecke" und dann willkommen zurück?

Lieben Gruß aus Heidelberg!

Phil

2. März 2021 20:55

Warum eigentlich?

Einfach nur peinlich, wenn jemand damit ein Problem hat. Ich habe jedenfalls alle Folgen komplett gesehen (als Videos), bleibe dran und bin sehr angetan von dieser Gesprächsreihe wie von "Schnellrodas" Internetaktivitäten im Allgemeinen.

Ich glaub, Ihr füllt da echt 'ne Lücke in der Medienlandschaft, und auf feine Art.

Brettenbacher

2. März 2021 22:43

B e r l i n

"Wenn die Brücken, wenn die Bogen..."

@ Niekisch

Pein- oder merkwürdiger-weise hat Richard der Wadsäcker - weiland Bundespräsident - dieses Gedicht an seinem Grabe sprechen lassen. Durchaus nachklingenslassenswürdig.

brueckenbauer

3. März 2021 12:24

Wollte Benn denn 1933 "ein Tänzchen mit der Macht wagen"? Was mir haften geblieben ist, ist nur seine schonungslose Nüchternheit ("die einen wollen herauf, die anderen nicht herunter"), mit der er sich dem moralisierenden Antifaschismus und seinen (Selbst-)Täuschungen entgegenstellte. Das kann man auch aus einer Position grundsätzlicher Machtdistanz würdigen.

Nemo Obligatur

3. März 2021 20:48

Gute Sendung. Dies habe ich gelernt: Um Benn werde ich einen großen Bogen machen. Das Leben ist einfach zu kurz.

Martin Heinrich

3. März 2021 20:53

Mir hat Ihr Gespräch über Benn viel Freude bereitet. "Doppelleben" wird nach dem "Fragebogen" von Ernst von Salomon meine nächste Lektüre werden.

Maiordomus

4. März 2021 10:50

@Nemo obligatur. Wegen einer intensiven Arbeitsphase und auch, weil ich selber jeden Tag ein Buch lese plus für ein Projekt viel Literatur konsultiere, ist es mir nicht möglich, ganzstündige und längere Netzbeiträge anzuhören; also verzichtete ich auf obige Sendung; einen Spezialfall stellte Jochen Klepper dar. Darum möchte ich von Ihnen gern in einem oder maximal zwei Sätzen erklärt haben, warum Sie um Benn künftig "einen grossen Bogen" machen. Kann ich mir, so lange ich noch Lyrik lese, eigentlich nicht vorstellen, selbst wenn mir Dante oder die Sonette von Shakespeare, am liebsten durch George vermittelt (wenn schon nicht original), auch der Portugiese Camoes, den ich gelegentlich ins Deutsche zu übertragen versuche, mehr bedeuten. Ist es ein politisches, politisch-zeitgeschichtliches oder ästhetisches Urteil?

Laurenz

4. März 2021 13:15

 

@Nemo Obligatur & Maiordomus

Ich gehöre, als Prolet, überhaupt nicht zur Konsumentenszene von Literaten. Ich habe zwar früher gerne gelesen, aber doch mehr politische oder spannende, unterhaltsame Literatur. Und wenn, zieht es mich mehr zur Musik in fast allen Stil-Richtungen.

Und Sie, Nemo Obligatur, haben natürlich Recht. Als ich noch gerne las, wurde mir irgendwann klar, daß meine Lebensspanne nicht ausreichen wird, um auch nur eine größere Bibliothek durchzulesen.

Entscheidend ist beim Lesen die Passion, wie bei allen Leidenschaften für was auch immer. Alle diejenigen, die das Lesen großer Künstler als Leidenschaft empfinden, sollten dies auch tun. Denn nur unsere Leidenschaften bleiben am Ende unseres Lebens über.

Ich bin EL & GK für das Format dieser Sendung dankbar, denn Sie tun genau das, was mich oder andere schlichte Charaktere bei deutschsprachigen Kulturschaffenden der Neuzeit weiter bringt. Die Sendung informiert über das Leben dieser Kulturschaffenden & den Inhalt Ihrer Werke. Ich folge dem Gesprächsfaden immer solange, wie er spannend bleibt. Fällt meine Spannung ab, klicke ich zum nächsten Gesprächsfaden usw.

brueckenbauer

4. März 2021 13:22

Zu Benn fällt mir immer ein: Die BRD hätte schon nach 1945 in einem sterilen Antifaschismus enden können wie die DDR. Statt dessen war eben die Frühgeschichte der BRD weitgehend eine (zu wenig erforschte) Rettungs- und Versöhnungsgeschichte - dazu gehört auch, wie der vereinsamte Benn von einem Jungverleger quasi wiederentdeckt wurde und von seitwärts zu einem führenden Autor der Nachkriegszeit aufstieg (in der zeitlichen Abfolge Bergengruen - Benn - Brecht). Selbstverständlich war das alles nicht und im heutigen Kulturbetrieb wäre es auch kaum mehr möglich.

Nemo Obligatur

4. März 2021 13:41

@ Maiordomus

Bitte sehr: "Zum lyrischen Gedicht bedarf es nur eines beneidenswerten kurzen Darms; und schon der Ablauf 1 einzigen Tages widerlegt alle Lyrik : dem wechselnden Tempo von auch nur 24 Stunden wird nur gute Prosa gerecht."

(aus Arno Schmidt, Muss das künstlerische Material kalt gehalten werden?, Anmerkungen zu Extrakten aus Benn's 'Pallas' und 'Kunst und Macht')

Maiordomus

4. März 2021 14:41

@Nemo obligatur. Was Sie hier kritisch anmerken, ist eine typische, in ihrer queren Analogie nicht überzubewertende Metapher, bei Benn gern dem Medizinbereich entnommen. Also keineswegs ein  "Letztargument" gegen Lyrik, worüber sich Goethe wie folgt (und klar appetitlicher als Benn) geäussert hat. "Gedichte sind Küsse, die man der Welt gibt. Aber aus Küssen werden keine Kinder." Also bedarf es zur Durchsetzung eines Autors zur nationalen oder globalen Grösse wohl des Epos, des Romans und zumal des Dramas, dessen höchsten Rang Sophokles, Calderon, Shakespeare, Schiller und auf theoretischem Gebiet Brecht bestätigen. Was Verse betrifft, kommt es jedoch umso stärker auf jede einzelne Silbe oder zumindest Zeile als absoluten sprachlichen Ernstfall an. 1 Fehler = Gedicht kaputt!, lehrte mich Germanistikmeister  Prof. P.v.M. Und der frühklassische Bürger ("Lenore") schrieb mal an seinen Verleger: "Schneiden Sie mir meinen Penis weg, aber auf keinen Fall einen meiner Verse"  nämlich bei den zur Publikation freigegebenen Gedichten. 

Laurenz

4. März 2021 14:43

@brueckenbauer

"Statt dessen war eben die Frühgeschichte der BRD weitgehend eine (zu wenig erforschte) Rettungs- und Versöhnungsgeschichte"

Ich widerspreche Ihnen diametral auf das heftigste.

Alle, die so taten, als versöhnten sie, schrieben reine fiktive Theaterstücke & ließen diese aufführen. Daraus resultieren Gläubige & Wissende. 

Nichts hat sich in der Realität seit den Weltkriegen verändert, der Krieg oder die Kriege findet/finden nur nicht mehr auf dem zentral-europäischen Schlachtfeldern statt, sondern geographisch woanders oder wenn in Zentral-Europa, auf einer anderen, nicht-militärischen Ebene.

Auf der rein menschlichen Ebene brauchte kein Europäer einen Krieg. Bismarck oder Wellington hielten sich privat gerne im Franzmann-Land auf.

RMH

4. März 2021 15:54

Vielen Dank! Das war wieder eine sehr gute Sendung.

H. M. Richter

5. März 2021 07:30

@ Nemo Obligatur

I.

Um den Bogen, den Sie um Benn machen wollen, kleiner werden zu lassen, habe ich Ihnen ein Gedicht ausgewählt, das mir im Laufe der Jahre ganz besonders wichtig geworden ist. Es gehört wohl zu jenen, von denen die alte Suhrkamp-Lektorin und Lyrikerin Borchers sprach, als Sie mir einst sagte: "Wissen Sie, es gibt Gedichte, die sollte man nur auf Knien lesen." 

Ich selbst möchte es anders formulieren: Gerade, weil das Leben so kurz ist, wie Sie sagen, sollte man in ihm, wenn irgend möglich, bestimmten Gedichten begegnet sein.

 

H. M. Richter

5. März 2021 07:33

@ Nemo Obligatur

II.

***

Menschen getroffen

Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben −
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ −
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!
Ich habe Menschen getroffen, die
mit ihren Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen."

RMH

5. März 2021 09:27

Ohne ein großer Benn Kenner zu sein, rege ich an, einmal einen Bezug zu Heidegger zu machen. Beide sind ungefähr die gleiche Generation, beide haben kirchlichen Hintergrund, beide scheinen den Glauben der Kindheit verloren zu haben und beide entfalten eine Art schillerndes Sein, der Existenz, aber eben ohne Gott. Das von H.M. Richter zitierte Gedicht geht meiner Meinung ein Stück weit auch in die Richtung meiner Spur. 

Niekisch

5. März 2021 10:06

@ Glast & Brettenbacher: Wegen Netzausfall konnte ich weder antworten noch mir das Format anschauen. Zur Entschuldigung noch ein kleines Gedicht Benns mit der Frage an die Runde, wie es zu werten sein kann: 

 

An Ernst Jünger

 

Wir sind von außen oft verbunden,

wir sind von innen meist getrennt,

doch teilen wir den Strom, die Stunden,

den Ecce-Zug, den Wahn, die Wunden

des, das sich das Jahrhundert nennt.

 

Nemo Obligatur

5. März 2021 10:37

@ H. M. Richter

Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich bleibe lieber bei meiner Prosa. Gedichte finde ich  mühsam, sie sprechen nicht zu mir (allenfalls von Gernhardt, vielleicht noch Ringelnatz, von Rilke nur ein paar). Sie sind mir völlig unverständlich oder zu schwülstig. Z.B. in ihrem kleinen Gedicht: Was bitte hat Nausikaa dort zu suchen? Und die "reine Stirn der Engel". Geht es nicht eine Nummer kleiner?

Aber es gibt ja auch Menschen, die unmusikalisch sind.

Sprachlich ist natürlich gegen Benn nichts einzuwenden, wenn er halt nur nicht gedichtet hätte... :-)

Lassen Sie mich mit einem Vers von Robert Gernhardt enden:

Ich leide an Versagensangst, besonders, wenn ich dichte,
die Angst, die machte mir bereits, so manchen Reim zuschanden.

RMH

5. März 2021 10:42

@niekisch,

Das Gedicht wird ziemlich am Ende des Streams wörtlich zitiert und kurz eingeordnet.

Niekisch

5. März 2021 11:13

@ RMH: Danke, den Stream schaue ich mir noch an. Es sei denn, die Breitbandverleger zerreißen erneut das Kupferkabel unseres Hauszugangs.

Laurenz

5. März 2021 11:54

@RMH

Ich bin zuwenig belesen, um einen entsprechenden Autor zu benennen. Mein Favorit Castaneda würde hier nicht ganz passen.

"Beide sind ungefähr die gleiche Generation, beide haben kirchlichen Hintergrund, beide scheinen den Glauben der Kindheit verloren zu haben und beide entfalten eine Art schillerndes Sein, der Existenz, aber eben ohne Gott."

Umgekehrt wäre es doch viel spannender. Einen "Gott" haben, ohne die Prägung des kindlichen Glaubens oder irgendeiner Kirche. Dann kommt wenigstens Butter bei die Fische.

Maiordomus

5. März 2021 12:12

@Niekisch. Ihr zitiertes Benn-Gedicht "An Ernst Jünger" wählte ich vor 43 Jahren als Motto für meine allerdings nicht diesen beiden Autoren (die lediglich immer wieder mal zitiert werden) gewidmete Dissertation mit einem Thema der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte der damaligen Zeit. Fühle mich Ihnen und den Produzenten der Sendung durch diese Zeilen verbunden. 

Gotlandfahrer

5. März 2021 12:40

Trotz Deutsch Leistungskurs bin ich ein Literaturbanause geblieben (vielleicht auch deswegen, ich erinnere mich nur an meinen Kampf gegen den Sekundenschlaf und Handkes Kaspar Hauser, was mich wohl auf das falsche Gleis führte, dass alle Literaten einen an der Waffel haben) und muss aber sagen, dass ich diesen Gesprächen der beiden Herren (und auch den sonstigen hier vorfindbaren Buchbesprechungen) mit großem Interesse lausche, erkennend, was für eine Welt ich für mich unentdeckt ließ. DANKE für die Lebendigmachung des ollen Papiers, solche Lehrer hätten mich meinen Mangel früher erkennen lassen, ohne dass ich meine Schuld hieran weiterreiche. Aber man wird ja alt wie ne Kuh…

H. M. Richter

5. März 2021 14:01

@RMH  - "in die Richtung meiner Spur"

***

Durchaus.

Betonung ist Deutung. Es ist ein Unterschied, ob in Schillers berühmter Ode die Worte "Brüder – überm Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen" mit Betonung auf guter gelesen (und verstanden) werden, oder auf einem verzweifelt beschworenen muß ...

So auch in einem späten Fragment Benns:

„Auch die eigenen Dinge wandern

ich will nicht sagen: ins Nichts

doch sie waren schon früher bei andern

und im Leuchten ferneren Lichts –“

Möglicherweise ist dies tatsächlich Benns Vermächtnis. Die Lebens-Betonung, den Schwerpunkt dieser Worte, mag jeder für sich selbst suchen und finden.

Nath

5. März 2021 14:36

@RMH "...beide scheinen den Glauben der Kindheit verloren zu haben und beide entfalten eine Art schillerndes Sein, der Existenz, aber eben ohne Gott."

Was Heidegger angeht, trifft dies nicht zu. Die Ablehnung aller metaphysischen Gottesbegriffe (summum ens, prima causa, deus creator etc.), schliesst keinesfalls "Atheismus" ein, im Gegenteil. Indem Seiendem, das ja nur aus seiner Abkuenftigkeit aus dem Sein gedacht werden kann, seine Vorherschaft entrissen wird, indem "sein" nicht mehr als bestaendige Anwesenheit bzw. leere abstrakte Allgemeinheit sondern als gewesen(d)e Kunft (Ereignis) bestimmt wird - daher die neue Schreibung mit y ab 1934 - gehoert der Gott (siehe theos = "der Hereinblickende"; deva = "der Leuchtende") gerade mit in die Lichtung, ins Hervor-Kommen des Seyns, ebenso wie der zukuenftige Mensch, der als Dasein besagtes Hervorkommen auszustehen hat. Weder Gott, Mensch, Welt noch Ding werden als vorhandene diesseitige oder jenseitige "Wesen" angesetzt, vielmehr gehoeren sie auf je verschiedene Weise "in" das Seyn, welches selbst weder ein Was noch ein Dass kennt, sondern sie erst jeweils zueinander entgegnet. In seiner Einzigkeit ist das Seyn gleichwohl A u s t r a g (dif-ferentia = das auseinander getragene), denn als das niemals Seiende ist es gleichurspruenglich Verweigerung, also das Nichts. Daher kann hier auch nicht von einem "Pantheismus" gesprochen werden, denn so wuerde der Gott nur wieder mit dem Seienden, und zwar in seiner Ganzheit, identifiziert, so wie er im monotheistischen Kontext mit dem hoechsten Seienden identifiziert wird. 

links ist wo der daumen rechts ist

5. März 2021 14:56

Morgü  / Sendeformate 1

 

Vergleichen wir doch einmal die Sendeformate aus dem Hause Schnellroda.

Unerreicht der Podcast, die reine Konzentration auf die Stimmen; die Phantasie, die Bilder sucht und der Intellekt, der das Gehörte verstehen will, halten sich die Waage.
Kann aber auch sein, daß man als Kind der 70er, das mit Märchenschallplatten aufgewachsen ist, ein Stimmen-Höriger wurde (als ich in der Verfilmung von Falladas "Jeder stirbt für sich allein" plötzlich die Stimme des großartigen Martin Hirthe gehört habe, schlug das ein wie ein Blitz...).
Also, da gäbe es nichts zu meckern oder zu verbessern.

Etwas zwiespältiger die Sezessions-Vorstellungen, zumal die letzte:
https://www.youtube.com/watch?v=Ygsqokek3Dw&t=256s
Hier saßen sie wie auf dem Sprießerl, streng gescheitelt oder mit 12mm-Schnitt; ürgndwie roch das alles nach Kommiß, zu streberhaft-verkrampft, trotz Trinkerei (Likörgläschen, mein Gott!).
Sollten wieder einmal ein paar verlorene Figuren in Schnellroda "gegen rechts" demonstrieren, dann bitte nicht "Paint It Black" spielen, sondern "She's a Rainbow" - aber ganz laut.

ff
 

links ist wo der daumen rechts ist

5. März 2021 15:05

Morgü / Sendeformate 2

Und nun also das Literaten-Format.
Es gibt Autoren, denen man nichts anhaben kann, weil oder eher indem man sie hin und wieder notwendigerweise dem Vergessen entreißt, wie Fernau, Klepper oder von Salomon.
Daneben gibt es Hausautoren im eigentlichen Sinne wie Mohler, deren Sache man vertritt, weil es die eigene ist.
Und dann eben solche, denen man nichts anhaben kann, weil sie Giganten wie Jünger oder Benn sind.
Und bei Benn wirkten die beiden, perdon, ein bißchen wie schwänzende Lausbuben, die nicht wissen, ob sie dem verehrten Lehrer huldigen oder einen Streich spielen sollen.
Und: Trinkerei geht schon gar nicht. Zu banal.
Wenn ich z.B. Rilke- oder Hölderlin-Gedichte lese, gerate ich auf profane Weise in einen beinah religiösen Rausch - und das alles ohne Weihrauch.
Eine Benn-Stimmung zumal der späten Gedichte mag einem müden Bierräuschchen ähneln, zusätzlich betäuben sollte man sich dazu nicht.
Genial der "Cameo-Auftritt" der Dame des Hauses, aber das Original (wenn unsere Frauen uns spielende Knaben auf den Boden der Tatsachen zurückführen) bleibt unerreicht (ab 50:30):

https://www.youtube.com/watch?v=7yqH90JgrXU

Und damit dann endlich zum Inhaltlichen.

ff
 

Simplicius Teutsch

5. März 2021 15:12

Schön, dass es Sezession gibt; – zusammen mit all den Kommentaren. Meine Liebe zum Wort und zur Sprache hat sich erst nach dem Abitur plötzlich entwickelt und endet bzw. kulminiert auf der Ebene der erzählenden (meist historischen) Ballade.

Allzu interpretationsbedürftige, zerhackte und gekünstelte Gedichte sind nicht nach meinem Verständnis, auch habe ich kaum die Zeit für (viele) lange Romane. Vor dem "lyrischen Werk" von Friedrich Hölderlin z.B. stehe ich leider wie der Ochs vorm Berg; da habe ich jedesmal umgedreht.

Von Gottfried Benns Werk kenne ich fast nur „Dennoch die Schwerter halten“; das allerdings hatte ich mal vor Jahren für mich persönlich auswendig gelernt. - Also immer wieder und wieder gelesen, um mir den „soziologischen Nenner“, der „hinter Jahrtausenden schlief“, einzuprägen:

(letzte Strophe)

„und heißt dann: schweigen und walten,

wissend, daß sie zerfällt,

dennoch die Schwerter halten

vor die Stunde der Welt.“

Wobei ich bezüglich der ersten Strophe durchaus querdenkerisch immer gegrübelt habe: Hat Gottfried Benn den behaupteten Sachverhalt in der ersten Strophe nicht etwa sprachlich ungenau verfehlt und dem trefflichen Reim („schlief“ / „tief“) geopfert ? - Denn „der soziologische Nenner“ hinter den Jahrtausenden, der hat ja nicht geschlafen („schlief“), sondern hat wirkungsvoll gewaltet.

Niekisch

5. März 2021 15:28

@ Maiordomus: nach Anhören des Gesprächs finde ich das zum Schluss besprochene "An Ernst Jünger" unterbewertet. Sicher kommt das Gedicht sehr schlicht daher, klingt fast banal, bricht aber den Asphalt auf, der künstlich, verängstigt, pädagogisierend, drohend über das letzte Jahrhundert, speziell die erste Hälfte, gegossen ist. Fast  A l l e  waren äußerlich dabei, auch Sie und ich noch als "Zweitzeugen", viele aber verleugnen ihr inneres Dabeisein oder ihr Verstecken des Dagegenseins in fast lächerlicher Manier. Meint Benn das mit den ersten beiden Zeilen? Mit den nächsten beiden das schicksalhafte Teilnehmenmüssen ohne letztlich entrinnen zu können? Die fehlende Deckungsgleichheit zwischen Innen und Außen angesichts beider innerer Einstellung und Verhalten bei Fallen der Söhne im Krieg? Nie war ein Ecce so disparat wie damals...Dies zu erkennen verbindet mich mit Benn und Sie mit mir, werter Maiordomus... 

links ist wo der daumen rechts ist

5. März 2021 15:35

Morgü / Benn 1

 

Ein paar Bemerkungen:
Der Reiz der Benn-Apologien linker Theoretiker wie Theweleit oder Lethen liegt darin, wie sie eben "ihren" Benn gegen Angriffe von (noch weiter) links in Schutz nehmen.
Konkret ging es bei Benn darum, daß er mit seiner Schrift über die Erschießung der Edith Cavell den Zorn eines Becher und Kisch heraufbeschworen hatte, die ihn von da an am liebsten in der Genickschußsphäre wähnten. Der Text selber rechtfertigt diesen Furor nicht, laut Lethen handelt es sich um schnörkellose Prosa von "Bewegungsdiagramm-Sätzen", die einer Kleist-Novelle ohne explosiven Höhepunkt entstammen könnten.
Aber Benn war damit im Fadenkreuz der ideologischen Kämpfe; und genau das wollte er - zu diesem Zeitpunkt - nicht.
Eine Parallele: Benn hatte bereits in der Etappe in Brüssel 1915ff als auch später in Landsberg a.d. Warthe 1943ff seine spezielle Form eines Geschichtsnihilismus entworfen. Die Weimarer Dezisionisten zwangen ihn in ein Lager und zu späteren Lippenbekenntnissen. Sein Glück (und die Voraussetzung für seinen späten Ruhm) war die Tatsache, daß diese Dezisionsfanatiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit, dem Jahrzehnt der müden Krieger, ausblieben. Eine Dekade später wäre Benn mit dem Einsetzen des VB-Komplexes (Schrenck-Notzing) in ein ähnliches Fadenkreuz geraten wie in der Zwischenkriegszeit.

ff

Gustav

5. März 2021 16:23

@ brueckenbauer

Der Bonner Teilstaat ist als ein Provisorium konstituiert worden – nicht, wie unter den Gründern verbreitet, bis zur Wiedervereinigung, sondern bis zu einem Aufgehen in einer übernationalen Ordnung. Nicht von ungefähr gab es den Begriff der Souveränität im Grundgesetz als Subjektiv nicht. Man findet ihn nur adjektivisch bei der vorgesehenen Übertragung souveräner Rechte an überstaatliche Institutionen. Carlo Schmid hat noch vor dem Parlamentarischen Rat zur Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung auf Herrenchiemsee den entstehenden Staat als einen Besatzungsstaat bezeichnet, der zu geeigneter Stunde aufzuheben sei. Die Besatzungsmächte sahen den ersten deutschen Schritten nicht nur gelassen zu. Sie hielten die Durchsetzung ihrer Ziele auch für unvermeidlich – nach der Parole, man müsse den deutschen Politikern gestatten, für einige Zeit ihrem Volk gegenüber das Gesicht zu wahren. Während dieser Frist schufen sie die Grundlagen für die Durchsetzung ihres Programms der Auflösung Deutschlands als Subjekt der Geschichte. (Hans-Dietrich Sander)

https://www.hpatzak.de/homeupwigrd/wesen_verwesen_brd.pdf

Laurenz

5. März 2021 17:05

@Nath @RMH

Heidegger hatte Unrecht. Gott ist nur durch den seienden Menschen existent, also diejenigen, die gerade leben, weder durch vergangene noch durch zukünftige.

Ein Elefant, der, wie wir, durchaus seine eigene Sterblichkeit erkennt, kennt und verehrt keinen Gott. Warum sollte der Elefant auch ein Wesen von höchstem Sein oder Nicht-Sein über sich selbst kreieren oder benennen? Änderte sich dann sein Schicksal, wenn er beten würde? Von daher, ohne seienden Mensch kein Gott.

Maiordomus

5. März 2021 17:58

@Niekisch. Dass wir uns über solche subtile lyrisch angedeutete Gegebenheiten unterhalten, die bis zu früh wahrgenommenen Perspektiven unserer Jugend zurückreichen, trotz der angeblichen Gnade der späten Geburt, bedeutet mir mehr als Meinungsverschiedenheit in dieser oder jener Frage. Eine der tiefsten Freundschaften in meinem Leben betraf eine einstige schlesische Vertriebene aus nicht unpolitischer Familie (Vater Zentrumsabgeordneter) die behauptete, sie hätte in ihrer neuen Heimat nahe bei mir eigentlich fast nur mit mir als neuem Landsmann über die Zeit ihrer Gymnasialjahre in Schlesien bis hin zur Vertreibung unbefangen reden können, zumal sie leider das Nebeneinander mit den Polen nicht in besonders guter Erinnerung behalten konnte, gelinde gesagt. Genau dies musste sie aber aus Gründen der Gesprächsakzeptanz meist für sich behalten. Das noch versöhnlichste diesbezügliche Gesprächsthema waren die heilige Hedwig und Bischof Alfons Nossol; ganz tabu wurden nachträglich seit 1921 anhaltende deutsch-polnische Spannungen, die mit dem Nationalsozialismus im Prinzip nichts zu tun hatten. Ja, "der Strom, die Stunden, der Ecce-Zug, der Wahn, die Wunden, des, das sich das Jahrhundert nennt... " Aus ihrem Nachlass durfte ich vier Taschen voll Bücher über Schlesien zu mir nehmen... Sie begleiteten mich durch Nächte hindurch. 

Niekisch

5. März 2021 18:31

@ Gustav 16:23: Sie bringen "Staat" und "Souveränität" in argumentative Verbindung. Die Souveränität ist jedoch kein konstitutives Merkmal des Staates. Eine originäre Staatsentstehung hat nur geringe Anforderungen, nämlich Staatsgebiet, Staatsvolk und hoheitliche Gewalt. Deswegen existiert die BRD zumindest als fait accompli. Sie konnte und kann auch mit aller Vorsicht als zumindest teilsouverän betrachtet werden, weil die Befugnis zur Grundgesetzgebung auf deutscher Seite nicht abgeleitet, sondern ursprünglich war. Die Drei Mächte konnten nicht Grundgesetzbestimmungen nach ihren Vorstellungen einfügen. Zudem bestand das Reich rechtlich weiter und zumindest theoretisch hätte das deutsche Verfassungsvolk ihm seine Organisation und Gebietshoheit zurückgeben können. Deshalb stört mich auch Erik Lehnerts Formulierung: "in die Neue Mark hinter die Oder, was heute Polen ist, nach Sellin" Sellin ist auch heute deutsch, nur polnisch annektiert wie mehr als 20000 andere deutsche Städte und Dörfer auch.

 

 

links ist wo der daumen rechts ist

5. März 2021 19:53

Morgü / Benn 2

Noch ein Wort zur linken Benn-Apologetik.
Theweleits Band mit den Benn-Passagen aus seiner "Buch der Könige"-Trilogie ist jeden Satz wert, wirklich großes Kino. Und weil Theweleit hier Schriftsteller ist und kein Ideologe wie in den "Männerphantasien" oder dem letzten Band der "Pocahontas"-Tetralogie, kann er seine Ausgangsthese der Eurydike-Opferung auch nicht durchhalten. Dagegen sprechen ja schon Benns quicklebendige Damenbekanntschaften inkl. ausgiebiger Korrespondenzen, die ein nicht unwesentlicher Schreibimpetus waren (und nicht unwichtig für seine "Bekehrung" 1934).
Allein die Abschnitte, in denen er Benn gegen die späten Anwürfe eines stalinistischen (schreibt T. tatsächlich) Klaus Mann verteidigt oder die quälerische Frage, ob an dem inkriminierten Text "Dorische Welt" zu Benns ideologischer Entlastung nicht doch die Klebespuren eines avantgardistischen Collage-Textes hafteten.
Und oft schreibt und denkt Theweleit natürlich über die Bande, wenn er herauszufinden glaubt, daß mit Benns Begeisterung für Heinrich Mann natürlich der Nobelpreisträger Thomas Mann als Adressat gemeint war.
Oder warum wohl Ilse Kaul, Benns letzte Ehefrau (Jg. 1913), diesem bei ihrem ersten Treffen ihre Begeisterung für sein D-Zug-Gedicht (erschienen 1912) verschämt gesteht...
Es gäbe noch etliche, wirklich schöne Passagen (nicht nur zu Benn).
Theweleits heimliches Hauptthema ist die gelungene Objektwahl und der damit verbundene Schreibimpuls. 
 

links ist wo der daumen rechts ist

5. März 2021 21:06

Morgü / Benn 3

Ad linke Benn-Apologie - Lethens "Sound der Väter".
Lethen geht einen Schritt weiter als Theweleit, indem er etwa Benns berühmten Text "Inhalt der Geschichte" von 1943 (Kubitschek hatte den Text in der Sendung vor Kriegsausbruch verortet) unmittelbar auf Stalingrad bezieht. Damit verweist er elegant auf seinen Essay zu Kempowskis "Echolot", in dem er der Interpretation von Plieviers Stalingrad-Roman von Michael Kumpfmüller folgt:

Die Lektüre des Buchs [Plieviers] verstrickt den Leser in die Verkettung von Bildern des unglücklichen Raumes: erst in den Schrecken des Rings um die Stadt, wenig später in den des Kessels, dann jedes einzelnen Hauses und schließlich des Bunkers oder Kellers. Die raumgreifende Geste der Gewinnung des Ostraums wird in Plieviers Text klein gearbeitet. Zum Schluß bot nur noch der Hockgraben [...] geringfügigen Schutz.[...]
Die Markierung des Namens als ein Punkt im Bewegungsdiagramm der Raumgewinnung weicht zunehmend der Veräumlichung eines Ortes, von dem es kein Entkommen gibt. 

Lethen-Sound eben. Und Empathie des Reserveoffiziers mit den eingeschlossenen Soldaten; Alexander Kluge sah es ähnlich.
Ich hatte hier einmal im Gespräch mit HL den Bogen gespannt zu Benns Cavell-Text (das rechte Wolga-Ufer als Kugelfang der deutschen Expansion)...
Gefilde, in die sich ein Theweleit nie vorgewagt hätte. Kein Wunder auch, daß Lethen als einen der ersten Gratulanten zu Benns erstem Nachkriegserfolg Franz Halder erwähnt.
 

links ist wo der daumen rechts ist

5. März 2021 22:04

Morgü / Benn 4 (und aus)

Am ergiebigsten in der Beschäftigung mit Benn finde ich immer noch die Betrachtung innerhalb des Quartetts der bösen Jungs Schmitt, Heidegger, Jünger und Benn. Und wie sie sich von Dezisionisten reinsten Geblüts (oder wider Willen: Benn) zu relativ gelassenen Altersstoikern gewandelt haben (Schmitt, voll Häme und Eifersucht auf die anderen drei, tanzt hier natürlich aus der Reihe).
Den Ton von Benns Parlando-Gedichten müßte man z.B. einmal mit dem neuen Ton von Heidegger ab ca. 1950 vergleichen, s. dazu die schöne Interpretation der "Schwarzen Hefte" aus dieser Zeit durch Lorenz Jäger (ab 21:50):

https://www.youtube.com/watch?v=I8vrnIQE59Q

Heideggers zunehmend fast fernöstliche Weisheit nach seiner "Kehre", Benns innerweltliche Erlösungssehnsucht (am treffendsten immer noch in den Oelze-Briefen geschildert) und Jüngers buchstäblich "überirdische" Abgeklärtheit.
Und wenn wir zu fortgeschrittener Stunde schon am Spintisieren sind: Jüngers Weltstaat sehe ich so kulissenhaft wie das "Weltgericht" in Wolfgang Liebeneiners Film "1. April 2000". 50er Jahre Science Fiction.
Nur Schmitt blieb boshaft bis zuletzt. Allein seine Haushälterin ahnte am Ende seine schildkrötenhafte Verletzlichkeit unter seinem Panzer (von Lethen genial aufgeschlüsselt in einer - wie immer doppelbödigen - Passage seiner "Staatsräte").
 

Gustav

6. März 2021 07:40

@ Niekisch

„... es ist ja gerade der große Fortschritt auf den Menschen hin gewesen, den die Demokratie getan hat, daß sie im Staat etwas mehr zu sehen begann als einen bloßen Herrschaftsapparat. Staat ist für sie immer gewesen das In-die-eigeneHandnehmen des Schicksals eines Volkes, Ausdruck der Entscheidung eines Volkes zu sich selbst. Man muß wissen, was man will, wenn man von Staat spricht, ob den bloßen Herrschaftsapparat, der auch einem fremden Gebieter zur Verfügung stehen kann, oder eine lebendige Volkswirklichkeit, eine aus eigenem Willen in sich selber gefügte Demokratie. Ich glaube, daß man in einem demokratischen Zeitalter von einem Staat im legitimen Sinne des Wortes nur sprechen sollte, wo es sich um das Produkt eines frei erfolgten konstitutiven Gesamtaktes eines souveränen Volkes handelt. Wo das nicht der Fall ist, wo ein Volk sich unter Fremdherrschaft und unter deren Anerkennung zu organisieren hat, konstituiert es sich nicht – es sei denn gegen die Fremdherrschaft selbst –, sondern es organisiert sich lediglich, vielleicht sehr staatsähnlich, aber nicht als Staat im demokratischen Sinn.“

Carlo Schmid am 8. September 1948 vor dem Parlamentarischen Rat

Gustav

6. März 2021 08:00

@ Niekisch

„Diese Organisation als staatsähnliches Wesen kann freilich sehr weit gehen. Was aber das Gebilde von echter demokratisch legitimierter Staatlichkeit unterscheidet, ist, daß es im Grunde nichts anderes ist als die Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft; denn die trotz mangelnder voller Freiheit erfolgende Selbstorganisation setzt die Anerkennung der fremden Gewalt als übergeordneter und legitimierter Gewalt voraus. Nur wo der Wille des Volkes aus sich selber fließt, nur wo dieser Wille nicht durch Auflagen eingeengt ist durch einen fremden Willen, der Gehorsam fordert und dem Gehorsam geleistet wird, wird Staat im echten demokratischen Sinne des Wortes geboren. Wo das nicht der Fall ist, wo das Volk sich lediglich in Funktion des Willens einer fremden übergeordneten Gewalt organisiert, sogar unter dem Zwang, gewisse Direktiven dabei befolgen zu müssen, und mit der Auflage, sich sein Werk genehmigen zu lassen, entsteht lediglich ein Organismus mehr oder weniger administrativen Gepräges."

Prof. Dr. Carlo Schmid

Carsten Lucke

6. März 2021 08:55

Gern wünschte ich mir mal eine Sendung dieser Art zum großen Lyriker Günter Eich - für zwei, drei seiner besten Gedichte gäbe ich jederzeit alle anderen her !

Niekisch

6. März 2021 12:50

@ Gustav: Auch ich sehe die damalige Staatlichkeit mit Teilsouveränität nicht als Idealzustand. Carlo Schmidt beschreibt die staats- und verfassungsrechtliche Lage ebenso wie z:B. der Kommentar Mangold damals bedauernd realistisch, geradezu schonungslos. Wir sollten nur sehen, dass das deutsche Volk im Laufe der Jahrzehnte nie von Art. 146 GG Gebrauch gemacht hat, nie eine Nationalversammlung einberufen hat, die Teilvereinigung nicht genutzt hat, nicht gegen die völkerrechtswidrigen 2+4- "Verträge" rebelliert hat, die Änderung von Art.23 ff. GG hingenommen und somit als Souverän völlig inaktiv geblieben ist, ja versagt hat. Die Deckungsgleichheit von souveränem Volkswillen und Staat als Plattform der ´Souveränität ist nie erreicht worden und wird auch nicht mehr gelingen, denn der Deutsche und das Deutsche werden ja mit aller Konsequenz aus Deutschland getilgt...

Niekisch

6. März 2021 13:06

@ Maiordomus: Solche Freundschaften sind unersetzlich, oft aber auch, wie Sie andeuten, schmerzhaft wegen der durch die Sprache verstärkten Schilderung der Ereignisse. Es gibt auch Zufälle. Eines Tages lief ich an einem Sperrmüllhaufen vorbei und entdeckte einen Waschkorb voller Bücher und Hefte aus einer Haushaltsauflösung aufgrund Todes. Da ich sportlich unterwegs war, zog ein blaugraues Heft hervor, den Orts-Müller der  deutschen Ostgebiete. Es sind alle Orte mit den alten deutschen Namen und den ins polnische geänderten Namen mit den alten Kreisangaben und den heutigen Woiwodschaften angegeben. Meine Erschütterung hält seit Jahren an und lässt mich jedes mal rebellieren, wenn  der völkerrechtswidrige Raub des deutschen Volksbodens durch Worte sanktioniert wird. 

Laurenz

6. März 2021 20:20

@Niekisch @Maiordomus

Alle menschlichen Beziehungen, dazu gehören auch Freundschaften, sind nur auf Zeit.

"Meine Erschütterung hält seit Jahren an und lässt mich jedes mal rebellieren, wenn  der völkerrechtswidrige Raub des deutschen Volksbodens durch Worte sanktioniert wird."

Das ist ja das Dämliche an den Reparationsforderungen Polens an Deutschland und den Gebietsansprüchen Polens an Belarus und die Ukraine.

Dadurch hält Polen die Erinnerung gegenwärtig, die nicht im Interesse Polens liegen kann. Polnische Politiker sind in Fragen der Außenpolitik, seit der künstlichen Existenz des Staates Polen, einfach durch die Bank der Jahrzehnte hinweg, dumm wie Bohnenstroh, im Prinzip noch blöder als unsere, und das will was heißen.

Dieter Rose

6. März 2021 21:08

@Niekisch

Da erinnere ich mich an einen Besuch in Hirschberg vor ein paar Jahren:

Rundgang über einen Friedhof mit Grüften aus der deutschen Zeit: vollgemüllt mit Plastikflaschen und -tüten u.a., Schaufenster einer Apotheke mit Exponaten des deutschen Vorbesitzers, voller Stolz drapiert . . . unbeschreibliches Gefühl (bzw. ich will es gar nicht genauer hier beschreiben). Im Gegensatz zu den Menschen dort dürften wir unsere nationalen Empfindungen nicht so zeigen.

Komarow

6. März 2021 22:09

Ich bin absolut begeistert von dem Format, bitte unbedingt fortsetzen.

Darf man für zukünftige Folgen Wünsche äußern? Edwin Erich Dwinger und Hans Friedrich Blunck. Beide sind heute zu unrecht aus dem Fokus geraten, und auch wenn nicht alles beider Autoren zeitlose Gültigkeit besitzt, lohnt doch ihre Wiederentdeckung bzw die Beschäftigung mit ihnen. Man muß ja nicht immer in allem mit einem Autor übereinstimmen oder jedes Werk schätzen, um ihn faszinierend und anregend zu finden.

Fredy

7. März 2021 00:06

Format mittlerweile hervorragend.

Wir haben aber nicht nur Augen um zu lesen, sondern auch um zu sehen, und Ohren zu hören:

Jetzt noch Lichtmesz mit einem Filmformat. Zeit hat er jetzt, nachdem der Twitter-Account weg ist. Und dann noch jemand für Musik, habt ihr da einen Spezialisten?

Dann ist kulturell Wesentliches abgedeckt.

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