Alternativweltgeschichte oder Was wäre wenn?

von Konrad Markwart Weiß
PDF der Druckfassung aus Sezession 94/Februar 2020

»… jeg­li­chen Traum vom Ruh­me auf­ge­bend, selbst den der Erobe­rung Ita­li­ens, von dem sein Bewusst­sein erfüllt war, ver­irr­te sich sei­ne Vor­stel­lungs­kraft zu meh­re­ren Ver­su­chen mer­kan­ti­ler Spe­ku­la­ti­on. Der Ver­sand einer Kis­te Bücher nach Basel war sein ers­ter Anlauf und schlug fehl. Sogleich ersetz­te er ihn durch einen wei­te­ren, den er jedoch nicht ver­wirk­li­chen konnte.«
(Géné­ral Comte de Ségur, Memoi­ren)

Theo­dor Herzl stellt die­se Sät­ze von Napo­le­ons Weg­ge­fähr­ten und Bio­gra­phen sei­ner Erzäh­lung Der Unter­neh­mer Buo­na­par­te (1900) vor­an; die­sem wird sein Gene­rals­rang nicht bestä­tigt, »über­haupt waren ihm die Bure­au­leu­te auf­säs­sig. End­lich reißt ihm der Geduldsfaden.«

Er zieht »die Uni­form aus und Adieu, Sol­da­ten­hand­werk!« Buo­na­par­te erschafft das »Maga­zin des Welt­alls«, wo alles zu bekom­men ist, »was ein Mensch von der Wie­ge bis zur Bah­re braucht«, setzt sei­ne Brü­der und Schwä­ger von Joseph bis Murat als Lei­ter von Pro­vinz­nie­der­las­sun­gen ein und steigt immer höher. »Doch sei­ne Unter­neh­mun­gen waren zu aus­ge­dehnt, sei­ne Kühn­heit zu groß, sei­ne Mit­hel­fer zu schwach oder zu treulos«. 

Die Aris­to­kra­ten, die die­sem Bericht lau­schen, resü­mie­ren ange­sichts der raschen Restau­ra­ti­on: »Die Revo­lu­ti­on hat kein Regie­rungs­ta­lent her­vor­ge­bracht. Ein ein­zi­ger tüch­ti­ger Mensch, der ver­wal­ten, befeh­len, lei­ten konn­te, hät­te die Repu­blik mög­li­cher­wei­se vor dem Unter­gang bewahrt«.

Der auf Tho­mas Morus’ Uto­pia (1516) zurück­ge­hen­de, aus dem alt­grie­chi­schen ou-topos her­ge­lei­te­te Begriff der Uto­pie, bezeich­net den Ent­wurf einer Gesell­schafts­ord­nung, die, sinn­ge­mäß, an kei­nem Orte ist; Uchro­nie hin­ge­gen Ereig­nis­se in einer Ver­gan­gen­heit, die zu kei­ner Zeit war. Aber was wäre wenn – wenn die rea­le Geschich­te sich ab einem und durch einen bestimm­ten Diver­genz­punkt anders ent­wi­ckelt hätte? 

Die fol­gen­den Bei­spie­le die­ses über­aus saf­ti­gen Gen­res sind bei ent­spre­chen­der Nei­gung zum Gedan­ken­spiel alle­samt lesens­wert; damit sie es auch dort blei­ben, wo der Kit­zel der Ver­suchs­an­ord­nung die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät deut­lich über­steigt, sei­en sie jeweils nur angerissen.

Win­ter 1865. Sor­gen­voll kor­re­spon­diert Robert E. Lee mit Prä­si­dent Jef­fer­son Davis, als Gewehr­feu­er unge­wöhn­li­chen Klangs und unge­wöhn­li­cher, bald uner­hör­ter Kadenz an sein Ohr dringt. Ein Händ­ler mit nie­der­län­di­schem Akzent trägt Lee bahn­bre­chen­de Geweh­re an; deren Spott­preis legt außer­öko­no­mi­sche Moti­ve nahe, es scheint ihm nur an einem Sieg der Süd­staa­ten gele­gen – und an einer über­har­ten Hal­tung gegen­über Schwar­zen. Die­sen auch nur irgend­wo Gleich­heit zuzu­ge­ste­hen, »hie­ße den Weg ein­zu­schla­gen, sie über­all gleich­zu­stel­len«, warnt der Frem­de immer wie­der ein­dring­lich. Als die Kampf­hand­lun­gen wie­der auf­ge­nom­men wer­den, kön­nen die bes­ser geführ­ten und kampf­kräf­ti­ge­ren Kon­fö­de­rier­ten der mate­ri­el­len Über­le­gen­heit der Nord­staa­ten nun auch eine höhe­re Feu­er­kraft ent­ge­gen­set­zen, ste­hen als­bald vor den Toren Washing­tons und dann des Wei­ßen Hau­ses, wo Lin­coln einem Frie­den zustim­men muß. Und dann nimmt Har­ry Turt­le­do­ves The Guns of the South (1992) erst so recht Fahrt auf und ent­schä­digt mit sei­nem far­ben­präch­ti­gen Pan­ora­ma für die eine, aber ent­schei­den­de – und ent­schie­den nicht uchro­nis­ti­sche – Anlei­he bei H.G. Wells …Als rare Aus­nah­me im sonst bier- bis bit­ter­erns­ten Gen­re kommt Han­nes Steins Der Komet (2013) humo­rig ein­her­ge­flo­gen. Franz Fer­di­nand – »I bin doch net depp­at, i fohr wie­der z’haus« – ver­läßt Sara­je­wo recht­zei­tig, bei­de Welt­krie­ge ent­fal­len, Öster­reich-Ungarn wird in eine Föde­ra­ti­on von Kron­län­dern umgewandelt. 

Die Hit­le­rei erscheint nur in den Alp­träu­men eines ein­zel­nen Psy­cho­ana­ly­se-Pati­en­ten und Anne Frank, mit dem Lite­ra­tur-Nobel-preis aus­ge­zeich­net, tritt häu­fig im Fern­se­hen auf. »Städ­te wie Wup­per­tal, Frank­furt und Bochum, die in ihrer Sub­stanz seit einem Jahr­hun­dert nie­mand ange­tas­tet hat­te: Die schöns­ten Stadt­land­schaf­ten Euro­pas waren jene im Deut­schen Kai­ser­reich«. Die non­cha­lant geschrie­be­ne Tour d’Horizon durch ein impe­ria­les Wien, nicht ohne Kennt­nis, nicht ohne Feh­ler, gelingt den­noch, ohne daß »der Engel der Pein­lich­keit durchs Zim­mer geht« – anders als in Steins brot­be­ruf­li­cher Jour­na­lis­ten­pro­sa und deren unum­gäng­li­chem Glanz­stück, das er in der Welt nach der Wahl­nacht ver­öf­fent­lich­te: »Am Wahl­abend nahm ich ein Beru­hi­gungs­mit­tel und leg­te mich in mein wei­ches New Yor­ker Bett. Früh um vier stand ich auf: ›Donald Trump next US Pre­si­dent.‹ Ich schlich zurück ins Schlaf­zim­mer, aber mei­ne Frau wach­te den­noch auf. Zwi­schen uns schlief fried­lich unser drei Jah­re alter Sohn.
›Donald Trump hat die Wahl gewon­nen‹, sag­te ich lei­se. Mei­ne Frau sag­te nichts, dann fing sie an zu wei­nen. Ich nahm ihre Hand, so daß unse­re Arme eine Art Brü­cke über unser Kind bil­de­ten, dann wein­te ich auch. ›Unser Sohn, unser Sohn‹, sag­te ich.«Der schön­geis­ti­ge Major von All­men über­zeugt Con­rad von Höt­zen­dorf in Gui­do Mor­sel­lis Licht am Ende des Tun­nels(1977), einen sol­chen vom Vinsch­gau ins Velt­lin schla­gen zu las­sen; aus die­sem bre­chen als­bald Last­wa­gen her­vor, »so dicht hin­ter­ein­an­der, daß sie wie ein Zug aus­sa­hen«, zu einem Blitz­krieg avant la lett­re, aber bereits von Rom­mel geführt, rasen nach Süden, set­zen das Gros des ita­lie­ni­schen Ober­kom­man­dos gefan­gen und Ita­li­en schach­matt. Im Wes­ten ver­fährt Luden­dorff ähn­lich, und Rathen­au schließt einen maß­vol­len Frieden.

Kurz durch­bricht der Autor für ein Theo­rie­ge­spräch mit dem Ver­le­ger – den er Zeit sei­nes Lebens nie fin­den soll­te – die vier­te Wand: »Die Naht, mit der in der Erzäh­lung die ›Alter­na­tiv-Ver­gan­gen­heit‹ auf die tat­säch­li­che Ver­gan­gen­heit gehef­tet wur­de, zeigt sich immer, wenn das Ange­mes­se­ne und Ver­nünf­ti­ge an die Stel­le des Unan­ge­mes­se­nen und Unver­nünf­ti­gen tritt«.
Bald dar­auf holt Hin­den­burg zum Staats­streich gegen Rathen­aus »Sozia­lis­ti­sche Ver­ei­ni­gung West­eu­ro­pas« aus.

Apro­pos: Die Schwei­zer Sowjet Repu­blik des »gros­sen Eid­ge­nos­sen Lenin, der, anstatt in einem plom­bier­ten Zug in das zer­fal­len­de, ver­strahl­te Russ­land zurück­zu­keh­ren in der Schweiz geblie­ben war«, ist Schau­platz von Chris­ti­an Krachts Ich wer­de hier sein im Son­nen­schein und im Schat­ten (2008). »Es waren nun fast ein­hun­dert Jah­re Krieg. Es war nie­mand mehr am Leben, der im Frie­den gebo­ren war«. Nach­schub an Men­schen kommt aus den ost­afri­ka­ni­schen Kolo­nien, das inner­al­pi­ne Réduit aber ist »die eigent­li­che Stär­ke (…) der SSR. Die Alpen waren von Stol­len durch­zo­gen (…), hun­dert­tau­sen­de Sol­da­ten konn­ten sich zurück­zie­hen ins Inne­re des Massivs«.
Dort­hin macht sich auch der Ich-Erzäh­ler auf; unter­wegs ver­gißt der Sohn deut­scher Eltern Kracht nicht, bei­läu­fig dem Vater­land zu geben, was des Vater­lan­des ist: Für die weit­aus absto­ßends­te Sze­ne des alp­druck­schwe­ren Romans, durch des­sen Schat­ten ohne­hin kein Son­nen­schein dringt, zeich­nen in bun­des­bür­ger­lich-ortho­do­xer Lite­ra­tur­tra­di­ti­on Deut­sche verantwortlich.

In die Lite­ra­tur ein­ge­führt wur­de der Begriff Uchro­nie 1876 vom fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen Renou­vier durch sein gleich­na­mi­ges, sper­ri­ges Schlüs­sel- und Refe­renz­werk, des­sen nutz­brin­gen­de Lek­tü­re soli­des­te Kennt­nis des Impe­ri­um Roma­n­um erfor­dert. Hier setzt erst unter Com­mo­dus die unbarm­her­zi­ge Ver­fol­gung des Chris­ten­tums ein, wirft es auf sei­ne ori­en­ta­li­sche Ursprungs­re­gi­on zurück, aus der es fana­ti­siert zu einem umge­kehr­ten Kreuz­zug auf Rom vor­stößt, unter­liegt, aber durch die von Ger­ma­ni­en aus­ge­hen­de Refor­ma­ti­on all­mäh­lich, »der Hefe sei­ner Into­le­ranz beraubt ohne Wider­stand in die euro­päi­sche Welt eingeht«. 

Der Titel von Emma­nu­el Car­rè­res Die Nase der Kleo­pa­tra. Klei­ne Geschich­te der Uchro­nie (1986) wie­der­um geht auf ein Wort Pas­cals zurück, wonach die­ses ästhe­ti­sche Detail den Lauf der Geschich­te ver­än­dert hät­te; das Werk selbst ist nicht nur für die­sen Absatz, son­dern zum Ver­ständ­nis der Gat­tung ins­ge­samt eben­so grund­le­gend wie anre­gend, wenn Car­rè­re etwa Oscar Wil­de zitiert – wonach »eine Tat zu bereu­en die Ver­gan­gen­heit ver­än­dern bedeu­tet« – und »etwas von die­sem Gedan­ken im christ­li­chen Mys­te­ri­um der Beich­te« verortet.

In Wla­di­mir Ten­drja­kows Anschlag auf Visio­nen (1987) sehen sich Wis­sen­schaft­ler im Mos­kau der 70er Jah­re ob ihres mar­xis­ti­schen Rüst­zeugs zwar in der Lage, die Gesetz­mä­ßig­kei­ten der Abfol­ge unter­schied­li­cher Gesell­schafts­for­men zu durch­schau­en, aber nicht jene par­ti­ku­la­ren der Über­gangs­epo­chen. In einer sol­chen wäh­nen sie ihre eige­ne Gesell­schaft und trach­ten, die Ursa­chen der ver­meint­li­chen »Sta­gna­ti­on« zu ermit­teln – die doch schon die Krank­heit zum Tode war.

Wie vie­le ande­re »Uchro­nis­ten« inter­es­siert die For­scher dabei beson­ders die Fra­ge der (Un)Ersetzbarkeit her­aus­ra­gen­der Per­sön­lich­kei­ten, auch im Sin­ne einer con­di­tio sine qua non. Nach sei­ner »Zer­le­gung« in ein­zel­ne Merk­ma­le und deren Pro­gram­mie­rung ist es soweit: »Jesus Chris­tus in Gestalt eines Sta­pels dün­ner, mit Löchern über­sä­ter Papp­kar­ten«. Nach Chris­ti Til­gung aus dem Com­pu­ter­pro­gramm durch die Annah­me einer Stei­ni­gung nach der Berg­pre­digt sind »sämt­li­che Spu­ren von dem Begrün­der des Chris­ten­tums aus dem Maschi­nen­ge­dächt­nis gelöscht« – aber dann: »Jesus, den wir getö­tet hat­ten, war auf­er­stan­den, die phan­tas­tischs­te aller Legen­den der Evan­ge­li­en wur­de von der nüch­ter­nen Maschi­ne wiederholt«.

Apro­pos Sowjet­uni­on: Geor­ge Orwells 1984 – zunächst als Dys­to­pie ein Zweig der Uto­pie, ab dem namens­ge­ben­den Jahr Uchro­nie und all­mäh­lich Gegen­warts­li­te­ra­tur, zumin­dest hin­sicht­lich sei­ner Umdeu­tung von Begrif­fen in ihr schie­res Gegen­teil gera­de in der BRD – beschreibt auch die kom­mu­nis­ti­sche Pra­xis der Retu­sche von Foto­gra­fien, mit der die Ver­gan­gen­heit rea­li­ter alter­na­tiv­welt­ge­schicht­lich umge­wan­delt wur­de; das Gen­re selbst fin­det denn auch in der Welt der Bil­der rei­chen Nie­der­schlag: So besteht in Frank­reich – wo teils außer­or­dent­lich gehalt­vol­le Bil­der­ge­schich­ten für Erwach­se­ne, denen man mit dem Begriff Comic gro­bes Unrecht täte, hoch im Kurs ste­hen – die viel­bän­di­ge Serie Jour J, zu Deutsch in etwa »Tag X«, mit Bezug­nah­me auf den uchro­nis­ti­schen Divergenzpunkt.Auch Hol­ly­wood greift ent­spre­chen­de Stof­fe immer wie­der auf, ins­be­son­de­re nach Vor­la­gen eines sei­ner liebs­ten Stich­wort­ge­ber, Phil­ip K. Dick. 

Die Ver­fil­mung von des­sen Klas­si­ker The Man in the High Cast­le (1962) schlug bereits vor Erschei­nen hohe Wel­len, da die beglei­ten­de Wer­be­kam­pa­gne mit der Ästhe­tik des impe­ria­len Japan und des Drit­ten Rei­ches koket­tier­te und als­bald zurück­ge­zo­gen wer­den mußte.

Schon die Wid­mung die­ses wohl bekann­tes­ten alter­na­tiv­welt­ge­schicht­li­chen Wer­kes über­haupt ist bemer­kens­wert: »To my wife Anne, wit­hout who­se silence this book would never have been writ­ten«. Deutsch­land und Japan haben hier den Zwei­ten Welt­krieg gewon­nen und den Osten bzw. Wes­ten der USA besetzt. Tech­no­lo­gisch ist das Reich sei­nem asia­ti­schen Noch­Bund­ge­nos­sen weit vor­aus und kolo­ni­siert den Welt­raum; hie­nie­den wur­de zudem das Mit­tel­meer tro­cken­ge­legt und in Acker­land umge­wan­delt (in der Rea­li­tät übri­gens vom deut­schen Archi­tek­ten Her­man Sör­gel als Atl­an­tro­pa-Pro­jekt aus­ge­ar­bei­tet). Die Hoff­nun­gen des spär­li chen Wider­stan­des gel­ten dem legen­dä­ren Hawt­hor­ne Abend­sen, auf den sich der Titel bezieht, den Autor einer ver­bo­te­nen Uchro­nie inner­halb der Uchro­nie, in der wie­der­um die Alli­ier­ten obsiegt haben.

Aus Sicht eines gleich­na­mi­gen Sie­ben­jäh­ri­gen schil­dert Phil­ip Roth in The Plot Against Ame­ri­ca (2004) einer­seits die eige­ne Kind­heits­welt in einem jüdisch gepräg­ten Teil New Jer­seys zu Beginn der 40er Jah­re – wie so oft stark auto­bio­gra­phisch und so meis­ter­haft, daß das Ent­set­zen des Kna­ben bei harm­lo­sen Gän­gen in den Kel­ler des eige­nen Wohn­hau­ses spür­ba­rer wird als jenes gegen­über einem rea­len Ver­häng­nis: Statt Roo­se­velt wird der durch die ers­te Non­stop-Allein­über­que­rung des Atlan­tiks sowie die Ermor­dung sei­nes Kin­des unge­heu­er popu­lä­re »gemar­ter­te Titan« und Iso­la­tio­nist Charles Lind­bergh zum Prä­si­den­ten gewählt.

Er hält die Ver­ei­nig­ten Staa­ten gänz­lich aus dem Krieg her­aus und ver­ein­bart – mit Hit­ler auf Island, mit Japan auf Hawaii – fried­li­che Bezie­hun­gen und eine Nicht­ein­mi­schung in die jewei­li­ge Ein­fluß­sp­h­äh­re. Zunächst schei­nen zumin­dest deren innen­po­li­ti­sche Befürch­tun­gen unbe­grün­det, aber als­bald beginnt das Office for Ame­ri­can Absorp­ti­on, jüdi­sche Fami­li­en in länd­li­che Gebie­te umzu­sie­deln …»Trä­ge strich naß­kal­ter Wind durch die Gas­sen von Heyd­rich« hebt Otto Basils wüs­ter, apo­ka­lyp­ti­scher Par­force­ritt Wenn das der Füh­rer wüß­te (1966) an – und hei­me­li­ger wird es bis zum infer­na­li­schen Schluß nicht mehr. »Strah­lungs­spü­rer« Albin Toti­la Höll­riegl pro­fi­tiert davon, daß »die meta­phy­si­sche Rich­tung in Par­tei und SS gesiegt hat«, so wie Deutsch­land zwan­zig Jah­re davor im Welt­krieg; der Ural bil­det nun den »Ost­wall des Abendlandes«.

Das Ver­hält­nis zum japa­ni­schen Ver­bün­de­ten ver­düs­tert sich rapi­de, der Stür­mer zieht bereits gegen die »gel­ben Affen« zu Fel­de. Höll­riegl hat eben den heik­len Auf­trag erhal­ten, sei­ne Strah­len­spü­re­rei bei einer eben­so illus­tren wie grau­en Emi­nenz aus­zu­üben, als »Odin sei­nen Mel­de­gän­ger zum gro­ßen Rap­port nach Wal­hall« ruft.

Erst »ertrinkt die Reichs­haupt­stadt in schwar­zem Tuch«, dann das Reich im Blu­te: Säu­be­run­gen, Dia­do­chen­kämp­fe und schließ­lich Krieg gegen Japan mit Atom­bom­ben – aber auch »der gute alte Gur­gel­biß kam wie­der in Schwang«. In die­sem rasen­den Pan­dä­mo­ni­um fin­det Basil, der 1938 mit Schreib­ver­bot belegt wor­den war, sogar noch Zeit für Anspie­lun­gen auf sei­ne Zeit­ge­nos­sen, von Dode­rer bis Heidegger.

Über dem Drit­ten Reich – das wie in der Real­his­to­rie auch in der Alter­na­tiv­welt­ge­schich­te der mit Abstand meist­be­acker­te Topos ist – wird es end­gül­tig Nacht, und der Mor­gen thaut: Der ent­spre­chen­de Plan wur­de in Tho­mas Zieg­lers Stim­men der Nacht (1984) radi­kal exekutiert.

40 Jah­re spä­ter, nach dem »Gro­ßen Exodus«, lebt die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Herr­schaft jedoch in »Deutsch-Ame­ri­ka« mit dem »Anden­pakt« unter Bor­mann bedroh­lich fort. Deutsch­land selbst ist ver­armt, deindus­tria­li­siert, sei­ne Städ­te dau­er­haft zer­stört, aber: »Man kann nicht mit­ten in Euro­pa ein Grab schau­feln, ohne dass der gan­ze Kon­ti­nent zu einem Fried­hof wird.«

Zu allem Über­druß der von der Wer­wolf-Gue­ril­la behark­ten Alli­ier­ten begin­nen dann auch noch die Stim­men toter NS-Füh­rer in den Rui­nen des Köl­ner Doms zu rau­nen; dahin­ter ste­cken die mys­te­riö­sen »Klet­ten«, »Wun­der­wer­ke der Mikro­tech­nik«. Jakob Gulf wird in die wüs­te deut­sche No-go-Zone ent­sandt, um dem Spuk ein Ende zu machen, da er mit dem Phä­no­men ver­traut ist: Seit Jah­ren pei­ni­gen ihn in Form unent­rinn­ba­rer Klet­ten unun­ter­bro­chen bit­te­re Vor­wür­fe sei­ner toten Frau. Zieg­lers nacht­schwar­zer Roman ist schie­re Aus­weg­lo­sig­keit, ohne einen Fun­ken Hoff­nung für irgend jeman­den; für den ein­zi­gen Anflug unfrei­wil­li­ger Komik sorgt der Ver­lag im Klap­pen­text, wenn er allen Erns­tes dem Wie­der­erstar­ken des Natio­nal­so­zia­lis­mus im Buch »beklem­men­de Aktua­li­tät« in unse­ren Tagen zuschreibt. 

Die­se fin­det sich viel­mehr in einem Wort des Haupt­prot­ago­nis­ten: »In einem Land, in dem kei­ne Zeit ver­geht, kön­nen kei­ne Wun­den hei­len«. Chris­toph Rans­mayr, Mor­bus Kita­ha­ra (1995): Mor­genthau, die Zwei­te. Frei­lich von ganz ande­rer Qua­li­tät als beim etwas »tra­shi­gen« Zieg­ler – und ohne Zwei­fel lite­ra­risch das bedeu­tends­te der hier vor­ge­stell­ten Werke. 

»Auf den Rüben­fel­dern und Schaf­wei­den eines ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts« haust in sei­nem Eisen­gar­ten der »Vogel­mensch« Bering, der Schmied von Moor, am Ran­de eines Hoch­ge­bir­ges, und dient dem »Hun­de­kö­nig« Ambras, ehe­mals gefol­ter­ter Zwangs­ar­bei­ter und jetzt von den Alli­ier­ten ein­ge­setz­ter, ver­haß­ter Ver­wal­ter des dor­ti­gen Stein­bruchs. Der »Frie­dens­plan« stammt hier von Lyn­don P. Stell­a­mour – wie »die Bewoh­ner der Besat­zungs­zo­nen in einem lan­gen Pro­zeß der Demon­ta­ge und Ver­wüs­tung all­mäh­lich begrif­fen (…) nicht bloß irgend­ein neu­er Name aus dem Heer und Regime der Sie­ger, son­dern der ein­zi­ge und wah­re Name der Ver­gel­tung«; und vier­mal jähr­lich wer­den die Ein­woh­ner zu »Stellamour’s Par­ty in den Stein­bruch befoh­len«, wo der Kom­man­dant ihnen quä­len­de, »immer neue Ritua­le der Erin­ne­rung« aufzwingt.

Chris­ti­an von Dit­furth, aus­ge­wie­se­ner Spe­zia­list für alter­na­tiv­welt­ge­schicht­li­che Gedan­ken­spie­le, läßt die Put­schis­ten gegen Gor­bat­schow obsie­gen. Sie füh­ren unter Anspan­nung aller Kräf­te die Sowjet­uni­on mili­tä­risch auf uner­reich­te Höhen, wirt­schaft­lich aber end­gül­tig in den Abgrund. In einem »gigan­ti­schen Befrei­ungs­schlag« erlangt die­se als Kom­pen­sa­ti­on für die sowje­ti­schen Ver­lus­te im Zwei­ten Welt­krieg unter Andro­hung eines drit­ten von den West­al­li­ier­ten – »Why die for Ger­ma­ny?« – die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung: Unter der Flag­ge der DDR.

Die SED garan­tiert den Fort­be­stand west­deut­scher Frei­heits­rech­te, vor­be­halt­lich des Gum­mi­pa­ra­gra­phen »Schutz der Demo­kra­tie vor ver­fas­sungs­feind­li­chen Bestre­bun­gen«. Die Ver­fas­sungs­schüt­zer »kon­zen­trier­ten sich auf Rechts­extre­mis­ten«; »heu­te weiß ich, daß sich die Backen der gro­ßen Stahl­zan­ge lang­sam schlos­sen, unmerk­lich oft«; »meist ent­deck­ten wir erst im Nach­hin­ein, daß wie­der ein Tabu hin­zu­ge­kom­men war«: Auf dem Klap­pen­text von Die Mau­er steht am Rhein (1999) fehlt frei­lich jeder Hin­weis auf »beklem­men­de Aktualität«.»Entwicklung zum grü­nen Sozi­al­staat, Sozia­lis­tisch-Öko­lo­gi­sche Repu­blik Deutsch­land« – recht gegen­wär­tig erschei­nen auch die Visio­nen eines ermor­de­ten Wis­sen­schaft­lers in der DDR des Jah­res 2011: Statt der Wie­der­ver­ei­ni­gung gönnt ihr Simon Urbans im glei­chen Jahr erschie­ne­ner Plan D eine »Wie­der­be­le­bung« – trotz­dem ist sie unter Egon Krenz wie gehabt pleite.

Am Leben hält sie die BRD unter Kanz­ler Lafon­taine und sei­ne »Koali­ti­on mit der Kar­ne­vals­fi­gur Clau­dia Roth und ihren grü­nen Jungs« durch Trans­fer­zah­lun­gen. Für deren Fort­dau­er ist der Anschein von Rechts­staat­lich­keit ent­schei­dend, den die obi­ge, in alter Tra­di­ti­on der ver­meint­lich auf­ge­lös­ten, von Miel­ke-Nach­fol­ger Otto Schi­ly rund­erneu­er­ten Sta­si ver­üb­te de fac­to Hin­rich­tung gefähr­det. In einem Polit- und Spio­na­ge­thril­ler, gen­re­üb­lich zynisch­ab­ge­brüht, ermit­telt Volks­po­li­zist Wege­ner; aller­dings säu­men statt der her­ge­brach­ten Lei­chen eher zahl­lo­se Schwein­ige­lei­en des­sen Weg – etwa wenn er sei­nem west­deut­schen Kol­le­gen des­sen »elek­tri­sche selbst­rei­ni­gen­de Wand­fot­ze mit Echt­haar« nei­det. Unterm Strich: Ein in jeder Hin­sicht uner­hör­tes, höchst ein­falls­rei­ches Spiel mit der Geschichte.

Den Ein­wand, die Uchro­nie sei »doch bloß eine Spie­le­rei«, erhob denn auch ein deut­scher Groß­ro­man­cier vor­weg gegen­über dem Autor die­ses Quer­schnitts. Gewiß – und wenn schon! Zudem: Nicht wie oft behaup­tet der vom Flie­gen, son­dern jener, das Rad der Zeit zurück­zu­dre­hen, dürf­te der ältes­te Traum des Men­schen sein. Nur weni­gen ist es wohl gege­ben, dabei den Lauf der Zeit nicht auch ver­än­dern zu wol­len. Die Alter­na­tiv­welt­ge­schich­te macht damit auf höchst unter­halt­sa­me Wei­se Ernst – und Freun­den des Gedan­ken­spiels ist das mehr als genug. 

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