Dafür gab es externe und interne Faktoren gleichermaßen. Zunächst die harten Fakten zum Wahltag im Südwesten (wobei die desaströsen Kommunalwahlen im Problemlandesverband Hessen ausgeklammert werden).
Bündnis90/Die Grünen erzielen in Baden-Württemberg einen fulminanten Sieg. Nach der bereits bestätigten Auszählung aller Wahlkreise haben sich 32,6 Prozent der Wähler für die Grünen entschieden (plus 2,3 Prozentpunkte). Die Christdemokraten verlieren in ihrem einstigen »Stammland« 2,9 Prozentpunkte und stehen nunmehr bei lediglich 24,1 Prozent. Die SPD steht bei 11,0, die FDP bei 10,5 Prozent und die AfD bei 9,7 Prozent. Linke erhalten 3,6, Freie Wähler 2,9 Prozent, die linksgrüne »Klimaliste« bleibt noch weit darunter, hat aber Grün-Rot dadurch verhindert.
Stärkste Kraft sind wiedermal die Nichtwähler, denn die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 63,7 Prozent. Es zeigt sich einmal mehr: AfD-Experten aus jenen Landesverbänden, die um 5 Prozent stagnieren, aber den Kurs vorgeben wollen, verstehen nicht, daß das Potential im Westen empirisch betrachtet weder bei der FDP noch bei der NPD liegt, sondern bei Abermillionen Nichtwählern.
Derweil liegt es nun an Ministerpräsident Kretschmann und seinen Grünen, ob man die bürgerliche Koalition mit der CDU fortsetzt oder eine ebensolche Koalition mit SPD und FDP eingehen zu beabsichtigt.
Auch in Rheinland-Pfalz haben sich die Wähler für Kontinuität in Lockdown-Zeiten entschieden. Die SPD gewinnt dort 35,7 Prozent der Stimmen (minus 0,5 Prozentpunkte). Die CDU stürzt wie im Nachbarland auf einen historischen Tiefpunkt ab: 27,2 Prozent (minus 4,1). Die Grünen werden drittstärkste Kraft in Mainz mit 9,3 Prozent der Stimmen (plus 4), die AfD ist der größte Wahlverlierer (minus 4,3) und fällt zurück auf 8,3 Prozent. FDP und Freie Wähler kommen auf 5,5 bzw. 5,4 Prozent. Auch hier ist die stärkste Kraft die Partei der Nichtwähler: In Rheinland-Pfalz lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 64,4 Prozent. Koalitionär dürfte alles beim alten bleiben.
Im folgenden gehe ich allerdings in zwei Hauptpunkten primär auf die Lage der AfD ein und ziehe im dritten Punkt, der morgen erst veröffentlicht wird, Schlußfolgerungen aus ihnen. (Quelle für die Graphiken ist tagesschau.de!)
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I. Wer wählte AfD – und warum?
a) Baden-Württemberg
Auch in Baden-Württemberg sind es zuvorderst Arbeiter und Selbständige, die die Mandate der AfD sichern konnten.
Mit 26 Prozent Arbeiterstimmen kann die AfD zumindest in diesem Segment (es umfaßt Facharbeiter ebenso wie Leih- und Zeitarbeiter, gelernte wie ungelernte) für sich beanspruchen, zu den »Großen« in der Parteienwelt zu zählen. Man führt das Feld in ganz Baden-Württemberg an. Auch wenn es betont bürgerliche Landtagsabgeordnete nicht wahrhaben wollen: Sie haben ihre Mandate den Arbeitern zu verdanken, nicht dem eigenen Ursprungsmilieu.
Auch Selbständige (plus 1 Prozentpunkt) hielten der AfD die Treue; bei Rentnern und Angestellten verlor man weiter an Boden. Dies hängt eindeutig mit der Themenmotivation der Wähler zusammen. Denn auch, wenn der Wahlkampf in Baden-Württemberg betont »bürgerlich« und gesetzt (man könnte sagen: harmlos) erfolgte – Spitzenkandidat Bernd Gögel empfahl sich als gemäßigter »Realpolitiker«, der sich für »Sachpolitik für die Bürger« begeistere –, waren es zwei Themen, die den Ausschlag für eine AfD-Stimme gaben:
Im »Ländle« setzt sich damit ein gesamtwestdeutscher Trend durch: Das Gros der Stammwähler ist migrationskritisch gesonnen und sieht dieses Anliegen ausschließlich bei der AfD vertreten (während sich der Nicht-AfD-Wähler kaum für Migration als Problem interessiert!). Das Thema dürfte stets für 7–8 Prozent ausreichen.
Alles, was darüber hinaus reicht, muß auf weiteren inhaltlichen Feldern erkämpft werden. Und gerade weil es momentan weder meta- noch realpolitisch in der eigenen Macht steht, die Anti-Rechts-Front auszuhebeln und Durchbrüche weit über das eigene Sympathisantenfeld zu erzielen, muß das Maximalmögliche innerhalb des eigenen Feldes herausgeholt werden. Das gelang diesmal nicht und führte zu entsprechenden Verlusten.
Deutlich wird im Anschluß an die Betonung innerer Sicherheit und der Zuwanderungsproblematik: »Soziale Gerechtigkeit« und die Sorge um »Arbeitsplätze« folgen direkt dahinter. Migrationskritik und innere Sicherheit plus Streben nach sozialer Sicherheit sind und bleiben die beiden Standbeine der Partei – das eine ist ein konstruktiv zu bespielender Selbstläufer (Migration, innere Sicherheit), das andere muß, auch auf Basis der Ergebnisse von Kalkar aus dem November 2020, ausgebaut werden. Doch just diese Grundzüge einer patriotischen Sozialpolitik werden von einer 2/3‑Mehrheit im Bundesvorstand schlechterdings ignoriert, wo nicht offen unterlaufen.
Es ist auch in diesem Kontext ein Schlag ins Gesicht aller aufopferungsvoll kämpfenden Basismitglieder der AfD, der Wähler und auch der – diesmal – ferngebliebenen Sympathisanten der Partei, wenn der Co-Bundessprecher Jörg Meuthen zu den Wahlen im Altparteien-Jargon mitteilt:
Die gestrigen Wahlen waren reine Personenwahlen – polit. Inhalte spielten keine Rolle. Unsere recht junge Partei konnte sich in beiden Parlamenten dank unserer Wähler festsetzen. Wir machen weiter Politik im Sinne der ganz normalen Bürger!
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b) Rheinland-Pfalz
Ähnliche Entwicklungen wie in Baden-Württemberg in bezug auf die Frage »Wer wählt die AfD?« können in Rheinland-Pfalz beobachtet werden. Auch hier ist die AfD die Partei der Arbeiter und der Selbständigen.
Allerdings ist hier deutlich zu sehen, daß öffentlichkeitswirksame Auftritte eines Teiles der Mainzer Landtagsfraktion um den scheidenden Fraktionschef Uwe Junge für Verluste unter den Arbeitern sorgten, weil man sich aus einer falsch verstandenen und überstiegenen »Bürgerlichkeit« heraus (»Wir sind keine Arbeiterpartei«) ohne jede Not ausdrücklich nicht um ihre Interessen bemühte – das gilt wohlgemerkt nicht für die gesamte Landespartei, sondern für einige markante und damit eben besonders öffentlichkeitsrelevante Aushängeschilder.
Rheinland-Pfalz hat als Bundesland viele Gesichter und so ist es bedauerlich, daß man in Gegenden wie Ludwigshafen-Gartenstadt, wo die AfD bei der letzten Wahl fast 40 Prozent erreichte, seine Ergebnisse nicht durch einige Jahre Graswurzelarbeit verstetigte. Der SPD gelang es durch ebensolches Bemühen an der Basis, ihr Ergebnis wieder zu stabilisieren.
Trotz dieser Verluste im Arbeitersegment, die nun einige bestehende Mandate plus Mitarbeiterstellen kosten, ist in Rheinland-Pfalz wie in Baden-Württemberg die Verbindung aus Migrationskritik und Sozialpolitik für die eigenen Leute das entscheidende Wahlkriterium für AfD-Sympathisanten:
Aufschlußreich ist der manifeste Bedeutungszuwachs dieser sozialpatriotischen Verknüpfung:
Weniger Menschen wählen die AfD aus (reinem) Protest, immer mehr entscheiden sich bewußt für die Alternative aufgrund expliziter Interessenlagen. Da Arbeiter, Arbeitslose und untere Mittelschicht (der Vollständigkeit halber: ebenso wie Migranten) überproportional im Nichtwählerspektrum anzusiedeln sind, ist hier entsprechendes Wachstumspotential auszumachen, obschon immer mitzudenken ist, daß es verschiedenste Motive für das Nichtwählen gibt.
Nicht alle sind unzufrieden und »abgehängt«, manche dürften schlicht desinteressiert oder saturiert sein. Dennoch: Die Parteibindung hat mehr denn je abgenommen, die Entscheidungssituationen sind erheblich volatiler geworden, die Nichtwähler-Geschichte bleibt damit offener als das vergebliche Buhlen um eingefleischte CDU- oder FDP-Wähler.
Man muß sich final noch einmal zwei Zahlen vergegenwärtigen: Fast 30 Prozent der neuen Nichtwähler in Baden-Württemberg sind vormalige AfD-Wähler, während es in Rheinland-Pfalz sogar 35 Prozent sind. Man konnte also den eigenen Leuten nicht ausreichend verständlich machen, wieso man gewählt werden sollte. Dagegen sind die Verluste an FW oder FDP vernachlässigbar. Sie sind unschön, aber, wie die Zahlen offenbaren, keineswegs das Kernproblem.
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II. An wen verlor die AfD?
a) Baden-Württemberg
Der AfD gelang es nicht, Wähler aus dem bisherigen Nichtwählerspektrum zu aktivieren. Im Gegenteil: Ausgerechnet dort, wo es um alles geht, gab die AfD am meisten Raum preis:
110 000 ehemalige AfD-Wähler entschieden sich nun, der Wahl ganz fernzubleiben – eine elektorale Katastrophe. 70 000 Wähler verlor man überdies an die CDU, obwohl diese wiederum eklatante Verluste einfuhren.
Der AfD in Baden-Württemberg gelang es also einmal mehr keineswegs, durch prononciert sachpolitisches, nüchternes und liberalkonservatives Auftreten den potentiellen Unionswähler zu beeindrucken, schreckte dadurch aber dezidierte Rechtswähler ebenso ab wie Protest suchende Unzufriedene aller Couleur – sie entschieden sich folgerichtig für eine »abstrafende« Wahlenthaltung.
Besonders bitter sind die Verluste der Direktmandate in Pforzheim und Mannheim. In Mannheim-Nord verlor man das Mandat sogar an die Grünen, weil man selbst über zehn Prozentpunkte verlor und die Grünen fast sechs Prozentpunkte zulegen konnten. Die Frage muß man sich in Mannheim ebenso stellen wie im benachbarten rheinland-pfälzischen Ludwigshafen (dort, wie erwähnt, in der Gartenstadt):
Wie kann es sein, daß man ehemalige SPD-Hochburgen eroberte, bei Arbeitern und unterer Mittelschicht zum Teil über 40 Prozent erzielte, also Vorschußvertrauen als junge Partei erhielt, nur um dann ab 2016 fünf Jahre kaum Vor-Ort-Präsenz zu zeigen? Das Resultat, das man einfährt, wenn man geschenktes Vertrauen nicht durch fünfjährige Kärrnerarbeit belohnt, ist und bleibt ostentativer Vertrauensentzug.
Ebendiese Grundlehre konkreter, lokaler Realpolitik nutzte man seitens der Sozialdemokraten in Ludwigshafen und seitens der Grünen in Mannheim: Strukturaufbau, Stadtteilbüros, Sozialarbeit, Vor-Ort-Verwurzelung der Direktkandidaten. Es gibt kein Anrecht auf Gewähltwerden für die AfD; man muß die Interessen seiner realexistierenden Wähler (nicht: seiner imaginierten, irrealen Klientel, die bei FDP und CDU bleiben) schon offensiv und authentisch vertreten.
b) Rheinland-Pfalz
In Rheinland-Pfalz ist es derweil noch auffälliger als in Baden-Württemberg, daß man als Alternative für Deutschland Stimmen vor allem an den Nichtwählerpool abgeben mußte:
49 000 vorherige AfD-Wähler blieben der Wahl nun fern – doch zur CDU wechselten nur 4000 Menschen.
Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz verlor man also statistisch gesehen die meisten Wähler in Richtung Wahlenthaltung, nicht aber zuvorderst an »bürgerliche« Parteien.
Diese schlechte Nachricht für die AfD birgt einen positiven Kern, denn sie unterstreicht: Wer einmal AfD wählte und sich diesmal dagegen entschloß, kehrt überwiegend nicht in die Reihen der Altparteien zurück: Denen ist man bereits ausreichend entfremdet und einstweilen kaum mehr zugänglich.
Das bedeutet im Umkehrschluß, daß eine grundsätzliche, kernerneuerte AfD eine zweite Chance erhalten könnte – wenn sie gewichtige Lehren aus dem Debakel des gestrigen Wahlabends zu ziehen bereit ist und sie bereits im Bundestagswahlkampf im Sommer beherzigt.
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Teil 2 der Wahlanalyse von Benedikt Kaiser wird morgen an selber Stelle veröffentlicht.
alter weisser Mann
Ich sehe eine Niederlage nicht im schlechten Ergebnis der AFD, vielmehr hat unser ganzes Land eine Niederlage erlitten die darin zu sehen ist, dass sowohl in BW als auch in RP die Regierungskoalitionen ihren Stimmenanteil haben ausbauen können. Dies ist aufgrund der gemachten Politik nicht zu verstehen. Angeblich soll auch der Bonus des Regierungschef dafür ein Grund sein. In einem Fall ein Ex-Maoist im anderen Fall ein weinerliches Mädchen. Kann mir jemand sagen was der allzu politisch gebildete Bürger dabei denkt?